Neue EU-Länder – Demokratien in der Krise „Osteuropa nervt.“ So fasst Petra Pinzler, bis vor kurzem ZEIT-Korrespondentin in Brüssel, die Stimmung in der Europäischen Union drei Jahre nach der zelebrierten Wiedervereinigung Europas zusammen. Und vor allem nerve ein Land: Polen. Unter der Regierung der Kaczy?ski-Zwillinge habe es das neue EU-Mitglied in kürzester Zeit geschafft, sich als ewiger Störenfried allseits gründlich unbeliebt zu machen. Übrigens nicht zum ersten Mal, wie der amerikanische Europa-Forscher Wess Mitchell mit diesem Zitat aus der New York Times vom 15. Juni 1872 belegt: „Die Verabschiedung des Kompromisses ist vom Verfassungskomitee wegen der Halsstarrigkeit der Polen aufgeschoben worden. Die Polen haben ihr Spiel äußerst ungeschickt gespielt und einen weiteren Beweis für ihre politische Unfähigkeit geliefert.“ Auch damals, im österreichisch-ungarischen Kaiserreich, ging es um europäische Integration. Lassen sich aus dem 19. Jahrhundert Lehren für das 21. ziehen? Wie gefährdet ist Europas heutiges Integrationsprojekt durch die Wirren in Mitteleuropa? Politische Instabilität plagt ja nicht nur Polen, das am 21. Oktober eine neue Regierung wählen muss – auch in Ungarn, der Slowakei, Rumänien regieren derzeit populistische Formationen, geben nationalistische Demagogen unterschiedlicher Couleur den (hasserfüllten) Ton an; rechtsnationale Gruppierungen aus den beiden jüngsten EU-Beitrittsländern Bulgarien und Rumänien, merkt der Osteuropa-Experte Kai-Olaf Lang an, „ermöglichen die Entstehung einer Fraktion der radikalen Rechten im EU-Parlament“. Schon findet, wie die IP-Umfrage in diesem Heft zeigt, nur noch eine hauchdünne Mehrheit der Deutschen (47 Prozent) es gut, dass Polen seit 2004 Mitglied der EU ist; 45 Prozent halten diesen Schritt inzwischen für voreilig. Höchste Zeit also, etwas genauer auf die Prozesse zu schauen, die die mittel- und osteuropäischen Transformationsgesellschaften im Moment so gewaltig durchschütteln. Die Autorinnen und Autoren dieser IP tun das aus verschiedenen Blickwinkeln. Und sie geben Entwarnung: Die „neuen“ Demokratien durchlaufen Bewährungsproben. Wie die „alten“ auch. Immer wieder.
SABINE ROSENBLADT | CHEFREDAKTEURIN
Neue EU-Länder – Demokratien in der Krise
8 Stephen Bastos, Julian Pänke, Gereon Schuch Ins Straucheln geraten Werden die „Neuen“ in der EU gestärkt aus ihren Turbulenzen hervorgehen? Was ist los in den neuen EU-Staaten in Mitteleuropa? War es voreilig, die ehemals kommunistischen Länder in den exklusiven Klub der Europäischen Union aufzunehmen? So mag es aussehen, aber der Eindruck ist falsch. Denn die „Neuen“ holen nur Entwicklungen nach, für die auch der Westen viel Zeit gebraucht hat.
15 Wess Mitchell Kaiser, König, Kommission Was die EU aus dem Scheitern der Habsburger Monarchie lernen kann Die derzeit in der EU wieder diskutierte Idee einer „Union der zwei Geschwindigkeiten“ ist zum Scheitern verurteilt. Das ist nur eine der Lehren, die Europa heute aus dem Aufstieg und Scheitern eines anderen historischen Integrationsprojekts ziehen kann: dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich.
22 Konrad Schuller Der Furor der „Tugend“ Die Kaczynskis: Wenn revolutionärer Anspruch ins Jakobinertum umschlägt Es war der Zorn über die alten korrupten Eliten in den neuen Chefsesseln der Demokratie, der die Zwillinge ins Amt brachte. Trotz der wachsenden Willkür ihrer Herrschaft haben sie noch nicht alle Anhänger verloren: Ein Teil der polnischen Bürgergesellschaft scheint bereit, im Kampf gegen das Ancien Régime auch Regelverletzungen zu dulden.
26 Pawel Swieboda Ein Traum, den es zu bewahren gilt Warum sich Polen früher oder später mit Europa arrangieren muss Zum Teil ein Missverständnis, zum Teil eine Fehldeutung der EU, zum Teil schlicht strategische Dummheit: So beurteilt der polnische Europaforscher die EU-Politik der Kaczynskis. Aber es besteht auch Anlass zur Hoffnung, denn die Methode der Zwillinge, die Außenpolitik ganz aufzugeben, wird sich für Polen auf Dauer nicht durchhalten lassen.
30 Michael Frank Auf Schrott gebaut Mitteleuropas „Tiger-Demokratien“ suchen Sicherheit im Nationalismus Die ökonomisch prosperierenden „Tiger-Demokratien“ Mitteleuropas sind politisch immer noch auf der Suche nach ihrer Identität. Die große Leere, die der absterbende Kommunismus hinterließ, füllt sich mit Populismen: Klare Parteiprofile fehlen, Hass prägt die Debatten, demokratische Werte stehen nicht hoch im Kurs. Überraschend ist das nicht.
36 Karl-Peter Schwarz Dornröschen unter den Wölfen Rumänien in der Grauzone zwischen Parlamentarismus und Kleptokratie In Rumänien war die Zivilgesellschaft zu schwach, um zu verhindern, dass die alten kommunistischen Eliten ihr Machtmonopol hinter einer demokratischen Fassade über die Wende hinüberretteten. Die EU muss darauf dringen, dass das neue EU-Mitglied Rumänien nicht in der Grauzone zwischen Parlamentarismus und Oligarchie stecken bleibt.
41 Petra Pinzler Neulinge, Neinsager, Nervensägen Die neuen EU-Mitglieder mischen nicht zu viel, sondern zu wenig mit Populistische Regierungen, nationale Egoismen, Blockadeverhalten, Abzockermentalität – die neuen EU-Mitglieder aus dem Osten haben sich in der Union nicht gerade beliebt gemacht. Der Eindruck, dass sie die Hauptstörenfriede sind, täuscht allerdings: Nicht ihre Impertinenz, sondern eher ihre Abstinenz bei wichtigen EU-Themen ist das Problem.
44 Paul Lendvai Voran im Rückwärtsgang Die postkom-munistischen Staaten zwischen Aufbruch und Absturz Nach der Euphorie die Ernüchterung: Schon bald nach dem Beitritt mussten große Teile der Bevölkerung der neuen EU-Staaten erkennen, dass die Integration nicht Ende, sondern Anfang eines wirtschaftlichen Anpassungsprozesses ist. Gute Zeiten für Populisten, die gegen die mühsamen Reformen mobilisieren und mit dumpfen Ressentiments Stimmen fangen.
50 Reinhold Vetter Postsozialistische Sozialpolitik Sozialistische Altlasten, finanzielle Defizite, Klientelpolitik: eine brisante Mischung Wirtschaftsreformen haben die Ostmitteleuropäer in Hülle und Fülle hinter sich. Aber ihre sozialen Systeme hinken noch hinterher: Eine Mischung aus sozialistischen Altlasten, Reformmüdigkeit, finanziellen Defiziten und alter Klientelpolitik behindert den Aufbau moderner Sozialstaatsstrukturen – mit potenziell gefährlichen politischen Folgen.
58 Kai-Olaf Lang Wallungen des Grolls Stunde der Populisten und Nationalisten: Gefahr für die „jungen“ Demokratien? Viele neue EU-Bürger sind nach dem Beitritt zur Union enttäuscht über die politischen und wirtschaftlichen Zustände in ihren Ländern. Das lassen sie ihre demokratischen Eliten spüren: Populisten und Nationalisten haben Rückenwind. Sollen die Demagogen gestoppt werden, müssen die gemäßigten Kräfte programmatische Offerten entwickeln.
64 Marek A. Cichocki Neue Länder, alte Mythen Mitteleuropa hat seine eigene Geschichte – das muss der Westen akzeptieren Die westlichen Kernländer des europäischen Imperiums sind und bleiben das Vorbild, dem sich die Beitrittsländer anzupassen haben, erklärte WamS-Kommentarchef Alan Posener in der Ausgabe 9/2007 der IP. Doch was sagen eigentlich die Osteuropäer dazu – etwa, wenn es um die historische Legitimation der europäischen Einigung geht?
Internationale Politik 72 Afghanistan I | Olaf Ihlau Sterben für Kabul? Sechs Jahre nach dem Sturz der Taliban sind Sicherheit und Stabilität ferner denn je Afghanistan am Abgrund: Auch im sechsten Jahr nach dem Sturz der Taliban sind Frieden und Stabilität Lichtjahre entfernt. Die NATO-Strategie aus Wiederaufbau und Bombardements fordert einen hohen Preis. Ohne Kursänderung droht der Einsatz am Hindukusch für das größte Militärbündnis der Welt zu scheitern – mit unabsehbaren Folgen für den Westen.
82 Afghanistan II | Eckart von Klaeden / Niels Annen Kampf um den Einsatz Zwei Außenpolitiker von CDU und SPD über Deutschlands Engagement am Hindukusch
Truppen, Tornados, Terrorbekämpfung: In den kommenden Wochen entscheidet der Bundestag über eine Verlängerung der drei Afghanistan-Mandate. Wie lange muss sich Deutschland noch am Hindukusch engagieren? Welchen militärischen Beitrag kann die Bundeswehr für Sicherheit und Wiederaufbau leisten? Und was liegt besser in den Händen ziviler Entwicklungshelfer?
92 UN | Gunther Hellmann & Ulrich Roos Von Windhunden und Hasen Deutschland sollte auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verzichten Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist seit Jahren überfällig. Dies wird heute selbst von den Bremsern nicht mehr geleugnet. Die konkrete Umsetzung dieses hehren Zieles erweist sich jedoch als äußerst schwierig. Auch die deutsche UN-Politik trug zuletzt mehr zum Problem als zu seiner Lösung bei. Ein klarer Kurswechsel tut not.
100 Deutsche Außenpolitik | Jochen Thies Das Ende der Symbolpolitik Neue politische Konstellationen: Berlin muss endlich Position beziehen Außenpolitisch sind die Tage, als Kanzlerin Angela „Miss World“ Merkel neben vielen lahmen Enten auf der Weltbühne brillierte, vorüber. Nicolas Sarkozy und Gordon Brown setzen eigene nationale Akzente. Für Deutschland könnte sein halbherziges internationales Engagement – etwa bei den Auslandseinsätzen – bald zum Problem werden.
104 Russland | Stefan Scholl Whiskey statt Wodka Die Opposition in Russland ist schwach – das Establishment zittert trotzdem Das Ergebnis der Duma- und Präsidentschaftswahlen am 2. Dezember und 2. März gilt als jetzt schon festgelegt: Es wird, so die allgemeine Erwartung der Russen, von Präsident Wladimir Putin entschieden. 40 Prozent der russischen Wähler finden das aber auch ganz in Ordnung – nicht zuletzt, weil die Opposition ein so erbarmungswürdiges Bild abgibt.
111 Europäische Union | Alfred Grosser Verpflichtung Europa Mehr als Militär und Außenhandel: Plädoyer für die EU als Wertegemeinschaft Wahrheitssuche, Demokratie, Toleranz: Es fiele nicht schwer, gemeinsame europäische Werte aufzuzählen. Doch die EU des Berliner Gipfels fällt inzwischen weit hinter die Vision einer Gemeinschaft der Grundrechte zurück. Die Union als Verbund der Abwehr an ihren Grenzen: Soll dies das eigentliche Fundament Europas sein?
118 USA | Christian Hacke Gefährliche Freunde Die Mearsheimer/Walt-Debatte und Amerikas Rolle im Nahen Osten Kaum eine These hat in den USA seit 1945 so hohe Wellen geschlagen wie die von John Mearsheimer und Stephen Walt zur „Israel- Lobby“. Doch ihrem zentralen Argument, wonach die USA anstelle der einseitigen Parteinahme für Israel wieder ihre überparteiliche Maklerposition im Nahen Osten einnehmen müssen, lässt sich kaum widersprechen.
122 Kulturdialog | Alexandra Kemmerer Nicht nur fromme Sprüche Toleranz braucht die Auseinandersetzung mit dem Eigensinn des Religiösen Immer öfter werden in der Sprache der Religion Konflikte verhandelt, in denen es um soziale oder kulturelle Fragen geht. Die Wirkung religiöser Bilder und Symbole wird oft leichtfertig unterschätzt. Dabei braucht Toleranz vor allem die nüchterne und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Eigensinn des Religiösen.
130 Frankreichbilder | Daniela Schwarzer Der „Omniprésident“ Sarkozys dynamische Amtsführung macht Frankreichs Presse (fast) sprachlos 135 Bücherschau Die wichtigsten außenpolitischen Neuerscheinungen besprochen von Stephen Bastos, Andreas Eckert, Hanns W. Maull, Constanze Stelzenmüller, Joseph Croitoru, Stephan Bierling und Bert Hoffmann
Kolumnen 70 Werkstatt Deutschland | Franz Walter Politik ohne Leidenschaft Im Bundestag herrschen Disziplin und Routine – und es fehlen die Visionen 90 Ökonomie | Helmut Reisen Neue Heuschrecken Nach den Hedge- nun die Staatsfonds: doch Protektionismus ist keine Lösung 116 Kultur | Mathias Greffrath Kunst in Zeiten des Klimawandels Erfahrungen statt Symbole: Tino Sehgal inszeniert kommunikative Experimente 128 Technologie | Tom Schimmeck Tausend Terror-Todesarten … sind vorstellbar: über das ABC des Schreckens
Service 6 Rückschau / IP-Frage 135 Bücherschau 157 Dokumentation 158 Impressum 160 Vorschau www Nachwuchsforum