Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das neue Heft von Sozial.Geschichte, Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts ist soeben erschienen. Sozial.Geschichte ist die Neue Folge von 1999. Sie können die Zeitschrift im Buchhandel, direkt über den Verlag (http://www.peterlang.net) oder über die Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (http://www.stiftung-sozialgeschichte.de) bestellen. Weitere Informationen zur Zeitschrift und den Themenredaktionen von Sozial.Geschichte finden Sie auf unserer Website http://www.stiftung-sozialgeschichte.de
EDITORIAL Die Historie, der sich das Projekt Sozial.Geschichte verschrieben hat, soll trans-national, trans-kulturell und trans-disziplinär sein. Mehr zu den reorganisierten Themenredaktionen sowie den Diskussionsforen „Sozialgeschichte heute“ und „Vergleichende Faschismusforschung“ unter: http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/ff_aktuell.htm
FORSCHUNG
Dirk Hoerder: Transkulturelle Lebensformen. Menschen in lokalen – (post-)nationalen – globalen Welten
Iris Borowy: Wissenschaft, Gesundheit, Politik. Das Verhältnis der Weimarer Republik zur Hygieneorganisation des Völkerbundes
MISZELLE
Jan Surmann: Raubgold und die Restitutionspolitik der USA gegenüber der neutralen Schweiz
ZEITGESCHEHEN
Thomas Fischer: 40 Jahre FARC in Kolumbien. Von der bäuerlichen Selbstverteidigung zum Terror
BUCHBESPRECHUNGEN
Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hg.): Karrieren der Gewalt, besprochen von Hartmut Rübner
Manfred Oldenburg: Ideologie und militärisches Kalkül. Die Besatzungspolitik der Wehrmacht in der Sowjetunion 1942, besprochen von Karsten Linne
Clayborne Carson: Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren, besprochen von Karl Heinz Roth
Lutz Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden und Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, besprochen von Franz Fillafer
Zeitschrift Zeithistorische Forschungen, 1. Jahrgang, 2004, besprochen von Marc Buggeln
Sophie Dulucq / Colette Zytnicki (Hg.): Décoloniser l´histoire? De l´histoire coloniale aux histoires nationales en Amérique latine et en Afrique, besprochen von Vanessa Ogle
Jürgen Zimmerer / Joachim Zeller (Hg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen, besprochen von Birgit Aschmann
Dieter Nelles: Widerstand und internationale Solidarität. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, besprochen von Bert Altena
Mario König: Interhandel. Die schweizerische Holding der IG Farben und ihre Metamorphosen – Eine Affäre um Eigentum und Interessen (1910-1999), besprochen von Janis Schmelzer
ANNOTATIONEN
Tom Mertes (Hg.): A Movement of Movements. Is Another World Really Possible? (M.v.d.L.); Christian Papilloud: Bourdieu lesen (S.M.); Dirk Hoerder / Christiane Harzig / Adrian Schubert (Hg.): The Historical Practice of Diversity (M.v.d.L.); Amarjit Kaur: Wage Labour in South East Asia since 1840 (M.v.L.); Paul R. Gregory / Valery Lazarev (Hg.): The Economics of Forced Labor. The Soviet Gulag (M.v.d.L.); Dieter G. Maier: Anfänge und Brüche der Arbeitsverwaltung bis 1952. Zugleich ein kaum bekanntes Kapitel zur deutsch-jüdischen Geschichte (K.H.R.)
AUS ZEITSCHRIFT UND STIFTUNG
Karl Heinz Roth: Ein engagierter Humanist und Anreger: Hans Deichmann (1907-2004)
SUMMARIES
Wissenschaftliche Forschung wie öffentliche Diskurse haben europäische und nordamerikanische Gesellschaften einander als Aus- und Einwanderungsländer gegenübergestellt. Diese ideologisch motivierte Interpretation entsprach nie den verfügbaren empirischen Daten. In diesem Beitrag sollen die vielfältigen innereuropäischen Wanderungen in einen transatlantischen und, gelegentlich, globalen Kontext eingeordnet werden. Dabei wird die nationalstaatliche Perspektive sowohl durch eine transeuropäische wie durch eine regionale ersetzt. Zuerst sollen Terminologie und Paradigmenwechsel in der Forschung erläutert werden. Im zweiten Teil werden europäische Migrationstraditionen vor 1800 dargestellt und, komparatistisch, knapp dem multi-ethnischen Staatsaufbau des Osmanischen Reiches gegenüber gestellt. Im Folgenden werden die wichtigsten innereuropäischen, transkontinentalen, und transatlantischen Migrationssysteme des 19. Jahrhunderts erläutert und miteinander verglichen. Abschließend soll die Bedeutung der Konstruktion von Nationalstaaten und Nationalismus auf die mobilen urbanen Bevölkerungen kritisch bewertet werden.
Scholarly as well as public discourse have juxtaposed European emigration and North American immigration societies for long, an ideologically motivated interpretation which never corresponded to the empirical data. In this essay, the manifold historic internal migrations of Europe will be placed in a transatlantic and occasionally global context. In the process, the traditional nation-state perspective will be replaced by both a trans-European and a regional one. At the beginning, terminology and changes of research paradigms will be discussed. In the second part, migration traditions in Europe before 1800 will be outlined, with a brief comparison to the multi-ethnic structures of the Ottoman Empire. Next, the major intra-European, continental and transcontinental migration systems of the 19th century will be described and compared. While the high level of rural migration is mentioned, emphasis is placed on rural-urban and inter-urban migrations. In conclusion, the impact of nation-state formation and nationalism on highly mobile urban populations is evaluated.
Das deutsche Verhältnis zum Völkerbund war schwierig. Im Fall einer seiner technischen Unterorganisationen, der Gesundheitsorganisation, wurde dieses Verhältnis zusätzlich durch wissenschaftliche, humanitäre und taktische Überlegungen kompliziert. Unbestreitbar bot die Kooperation Vorteile: Deutsche Wissenschaftler konnten den Anschluss an die internationale Forschungslandschaft finden und deutsche Behörden von den epidemiologischen Daten und medizinischen Erkenntnissen aus anderen Staaten profitieren. Deutsche Tropenmediziner konnten Zugang zu sonst meist verschlossenen Arbeitsgebieten erhalten. Das Deutsche Außenministerium konnte sich so unauffällig über Zustände und Stimmungen im Ausland informieren. Vertreter Deutschlands konnten internationale Übereinkommen beeinflussen und generell deutsche Positionen darlegen. Allerdings verlangte dies alles den Preis einer Annäherung an andere Staaten, einschließlich der ehemaligen Kriegsgegner Frankreich und Belgien, sowie die implizite Anerkennung des Versailler Systems. So stellte die Kooperation mit der scheinbar unpolitischen Einrichtung gleichzeitig Chance und Gefahr dar. Während der Weimarer Republik stellte sich für verschiedene Akteure in Politik und Wissenschaft fortwährend die Frage nach der richtigen Haltung in einem Netzwerk ambivalenter Interessen, bis der deutsche Austritt aus dem Völkerbund die Zusammenarbeit mit der Gesundheitsorganisation weitgehend beendete. Der Aufsatz zeichnet die Entwicklung dieser belasteten Beziehung von 1920 bis Ende 1933 nach.
The relationship between Germany and the League of Nations was complicated. In the case of its technical organisation, the Health Organisation, this relationship was further complicated by scientific, humanitarian and tactical considerations. Without doubt, cooperation offered substantial advantages: German scientists could re-establish contact with the international research scene. German authorities could profit from epidemiological data and medical findings from other countries. German tropical medicine could find an entrance into otherwise mostly inaccessible fields of work. The German Foreign Ministry discretely received information about conditions and atmospheres in other countries. German representatives could influence international agreements and generally make German positions heard. However, all this required a price: the opening up to other countries, including the former enemies, France and Belgium, and the implicit acceptance of the system of Versailles. Thus, depending on perspective, cooperation with the seemingly unpolitical institution represented a chance or a threat. Throughout the Weimar Republic, politicians, public health experts and scientists had to face the question of what constituted a correct position within a network of ambivalent interests. This paper delineates the development of this difficult relationship between 1920 and the end of 1933.
Das Ende des Kalten Krieges hat in der Auseinandersetzung um die Folgen der nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungspolitik zu einem Paradigmenwechsel geführt. Im Zuge der durch jüdische Organisationen thematisierten „property claims“ in Osteuropa kam es fünfzig Jahre nach Kriegsende zu einer breiten Debatte über offene Restitutions- und Entschädigungsfragen. Charakteristisch dabei war, dass der Fokus weniger auf den ehemaligen Achsenmächten lag. Es waren die ehemaligen Neutralen und Alliierten, die auf Grund ihrer Restitutionspraxis in der Nachkriegszeit in die Kritik gerieten. Auf Grund der exponierten Haltung der USA in der Auseinandersetzung untersucht dieser Beitrag die US-Restitutionspolitik von Raubgold am Beispiel der Schweiz. Surmann geht auf den Verlauf der Auseinandersetzung und die Akteure in den USA ein. Die von Stuart Eizenstat proklamierte „Crusade for Justice“ zeigt, dass die programmatische Ausrichtung der US-Administration sich nicht auf eine materielle Aufarbeitung des „unfinished business“ beschränkte, sondern auch eine geschichtspolitische Auseinandersetzung wollte.
The end of the Cold War has led to a paradigm shift in the debate over the consequences of the National Socialist extermination policies and their policies on gold and stolen assets. By raising the issue of “property claims” in Eastern Europe, Jewish organisations have shaped a widespread discussion about questions of property restitution and compensation payments fifty years after the end of the war. Characteristic here was that the focus was less on the former Axis Powers. Instead the former neutrals and Allies were criticised based on their restitution practices in the post war period. Due to the open position of the United States in the debate, this paper examines US restitution policies on stolen gold using Switzerland as an example. Surmann focuses on the progression of the debate and its US players. Stuart Eizenstat’s “Crusade for Justice” shows that the programmatic leaning of the US administration was not confined to the material compensation of the “unfinished business” but also intended a historio-political debate.
Thomas Fischer 40 Jahre FARC in Kolumbien. Von der bäuerlichen Selbstverteidigung zum Terror
Die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) sind die älteste Guerrilla Lateinamerikas. In diesem Aufsatz wird erstmals in deutscher Sprache die Entwicklung dieser Organisation seit ihrer Entstehung im Jahr 1964 nachgezeichnet. Fischer unterteilt die Geschichte der FARC in zwei Phasen. Von der Gründung bis Mitte der 80er Jahre handelte es sich um eine Organisation, die mit Waffengewalt die Interessen von Kleinbauern zu verteidigen versuchte und in diesem Kontext eine sozial-revolutionäre Strategie entwickelte. Nach dem gescheiterten Friedensprozess mit der Regierung Belisario Betancur begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte der FARC, die zu einer rein militärischen Strategie übergingen, wobei sie vermehrt Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf nahmen. Sie finanzierten sich über die Besteuerung des Drogenhandels sowie über Schutzgelder. Unter Berücksichtigung der gängigen Thesen in Literatur und öffentlicher Debatte plädiert Fischer für eine kritische Aufarbeitung sowohl der ersten als auch der zweiten Phase der Geschichte der FARC.
Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) is Latin America’s oldest existing Guerrilla group. This paper traces, for the first time in the German language, the organisation’s development since its emergence in 1964. Fischer divides the history of FARC into two phases. From its founding until the mid-1980s the organisation sought to defend the interests of small farmers with the force of arms and out of this context developed a socio-revolutionary strategy. After the failed peace process with Belisario Betancur’s government a new phase began in the organisation’s history. FARC adapted purely military strategies, while accepting increasing numbers of victims amongst the civilian population. It financed its activities from taxes levied on drug trafficking and from protection monies. Taking into consideration the prevalent theses in the literature and public debates, Fischer pleads for a critical review of the first as well as the second phase in the history of FARC.