Schwerpunkte des Hefts 1/2007 der Zeitschrift Sozial.Geschichte sind: Internationale Debatte um Rothfels; Globale Arbeitsgeschichte und Butenandt-Kontroverse. Sie können die Zeitschrift im Buchhandel, direkt über den Verlag (http://www.peterlang.net) oder über die Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (http://www.stiftung-sozialgeschichte.de) bestellen. Weitere Information zur Zeitschrift finden Sie auf unserer Website http://www.stiftung-sozialgeschichte.de
FORSCHUNG
John L. Harvey: Hans Rothfels. Issues and Paradoxes of an International Debate
DISKUSSIONSFORUM: GLOBALE ARBEITSGESCHICHTE
Wilhelm van Schendel: Neue Aspekte der Arbeitsgeschichtsschreibung: Anregungen aus Süd-Asien
ZEITGESCHEHEN
Karl Heinz Roth: Die Max-Planck-Gesellschaft und ihre Heroen. Eine neue Kontroverse um Adolf Butenandt
BUCHBESPRECHUNGEN
Comparativ Themenheft »Gender Comparisons. Northern and Western Europe in the 20th Century«, besprochen von Eva Schöck-Quinteros und Jutta Schwarzkopf:
Bruno Kartheuser, Die Erhängungen von Tulle. Der 9. Juni 1944, besprochen von Ahlrich Meyer
Werner Röhr, Occupatio Poloniae. Forschungen zur deutschen Besatzungspolitik in Polen 1939-1945, besprochen von Alexa Stiller
Günther Wieland, Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz, besprochen von Heinrich Senfft
Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, besprochen von Ahlrich Meyer
Stephan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937-1939), besprochen von Lars Gertenbach
Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, besprochen von Mario Kessler
Mario Keßler (Hg.), Deutsche Historiker im Exil (1933-1945). Ausgewählte Studien, besprochen von Sebastian Markt
Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982, besprochen von Hubert Kolling
Deyan Sudjic, The Edifice Complex. How the Rich and Powerful Shape the world, besprochen von Konrad Böhmer
ANNOTATIONEN
Margarete Grandner / Dietmar Rothermund / Wolfgang Schwentker (Hg.): Globalisierung und Globalgeschichte (M.v.d.L.); Alfred D. Chandler, Jr. / Bruce Mazlish (Hg.): Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History (M.v.d.L.); Titus Kockel: Deutsche Ölpolitik 1928-1938 (K.H.R.); Rheinisches Journalistenbüro: „Unsere Opfer zählen nicht.“ Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg (K.H.R.); Jeanne Dingell: Zur Tätigkeit der Haupttreuhandstelle Ost, Treuhandstelle Posen 1939 bis 1945 (W.R.); Klaus Hentschel: Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945-1949) (P.S.); Gundula Fischer: Unsere Fabrik – unsere Familie (M.v.d.L.); Wolfgang Stegemann / Wolfgang Jacobeit: Fürstenberg/Havel – Ravensbrück. Im Wechsel der Machtsysteme des 20. Jahrhunderts (K.H.R.); Cornelius Castoriadis: Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften Bd. 1 (K.H.R.)
SOZIAL.GESCHICHTE EXTRA Siehe www.stiftung-sozialgeschichte.de
Frank Uekötter: Der Alltag des Naturschutzes. Anmerkungen zu gegenwärtigen Entwicklungen in der Historiographie der Umweltbewegungen
Dieter Oberndörfer: Völkische Demografie. Zur Abwehr der Zuwanderung durch Herwig Birg und Charlotte Höhn
SUMMARIES
John L. Harvey: Hans Rothfels. Issues and Paradoxes of an International Debate In the recent critical scholarship on the ethno-nationalist ideological character of German historical writing before the 1960s, perhaps no case is as controversial as that of Hans Rothfels. Was Rothfels a prophet for the destruction of parliamentary democracy, a harbinger of radical Ostforschung until his removal by the Nazis, and an apologist for nationalist German conservatism after 1945? Or was he a mainstream interwar conservative, a postwar convert to political democracy, who personified Germany’s intellectual Verwestlichung by sponsoring an open-minded program of critical Zeitgeschichte? This article examines the vibrant debate among historians today through two prominent books that treat his career within a wider institutional development of German historiography. While weighing the merits of each interpretation, the article seeks to expand the discussion beyond the German national setting. It illustrates the attention that Rothfels gave to the United States during his most nationalist years, and it explains how his American success reflected a deeper appreciation for conservative ideology among historians on both sides of the Atlantic than previous research has recognized.
Unter den neueren kritischen Untersuchungen zum völkisch-nationalistisch geprägten ideologischen Charakter der deutschen Geschichtsschreibung vor 1960 ist wahrscheinlich kein Fall so kontrovers wie der Fall des Hans Rothfels. War Rothfels ein Prophet der Zerstörung der parlamentarischen Demokratie, ein Vorbote der radikalen Ostforschung bis zu seiner Entlassung durch die Nazis, und ein Vertreter des deutschnationalen Konservatismus nach 1945? Oder war Rothfels ein Durchschnitts-Konservativer der Zwischenkriegszeit, der nach dem Kriege zur Demokratie konvertierte und Deutschlands intellektuelle Verwestlichung durch sein aufgeschlossenes Programm kritischer Zeitgeschichte personifizierte? Dieser Beitrag untersucht die lebhafte Debatte gegenwärtiger Historiker anhand von zwei prominenten Büchern, die seiner Karriere im Kontext der breiteren institutionellen Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung nachgehen. Die Vorzüge jeder der beiden Interpretationen werden in dem Artikel herausgearbeitet, gleichzeitig unternimmt es der Beitrag aber, die Diskussion über den nationalen Rahmen Deutschlands hinaus auszuweiten. Beleuchtet wird das Augenmerk von Rothfels für die Vereinigten Staaten während seiner ausgeprägtesten nationalistischen Jahre, und es wird – klarer als es die Forschung bisher zeigen konnte – dargestellt, wie sein amerikanischer Erfolg als Reflex einer tiefverwurzelten Neigung zur konservativen Ideologie unter Historikern auf beiden Seiten des Atlantik zu verstehen ist.
Wilhelm van Schendel: Neue Aspekte der Arbeitsgeschichtsschreibung. Anregungen aus Süd-Asien Neue Aspekte der Arbeitsgeschichtsschreibung: Anregungen aus Südasien Auch in Südasien ist die Arbeitsgeschichtsschreibung in die Krise geraten. Der Versuch, das ihr zugrunde liegende Modell einer fortschreitenden Umwandlung der vielschichtigen Arbeitsverhältnisse in doppelt freie Lohnarbeit auf die Analyse der kolonialen und postkolonialen Arbeitsgeschichte Bengalens, Nord-Indiens und Bangladeschs zu übertragen, ist gescheitert. Am Beispiel der Geschichtsschreibung über die Arbeitsbeziehungen in der Juteindustrie, im Reisanbau, in der Landwechselwirtschaft und über die neuere Migrationsentwicklung demonstriert der Verfasser, dass bis heute vor-proletarische und unfreie Arbeitsformen vorherrschen, die durch spezifische Geschlechterrollen, Familienstrukturen und kulturelle Normen geprägt sind. Die Stabilität der Familienhaushalte der arbeitenden Armen sorgt auch heute für enge Beziehungen zwischen Stadt und Land sowie den Migrationsschwerpunkten, die zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Ausgehend von diesen Befunden plädiert der Verfasser für eine »agnostische« und ergebnisoffene, neue globale Arbeitsgeschichtsschreibung. Zugleich kritisiert er die Bemühungen um eine komplementäre Erweiterung der marxistisch geprägten Dichotomie von freier und unfreier Arbeit, denn sie seien für einen solchen Neuansatz nicht erforderlich.
In southern Asia, too, the historiography of labour is in crisis. The attempt to apply the model of continuous transformation of multi-layered working conditions into double separation of free wage labour to an analysis of the colonial and post-colonial labour history of Bengal, northern India and Bangladesh, failed. Using the historiography of labour relationships in the jute and rice industries and shifting cultivation systems, and the more recent development of migration as examples, the author demonstrates that until today, pre-proletarian and unfree models of work dominate. These are shaped by specific gender roles, family structures and cultural norms. Family stability of the working poor continues to foster close ties still today between city and country as well as the migration centres, which have increasingly gained in significance. Based on these findings, the author pleads for a new global historiography of labour, which is »agnostic« and open-ended in terms of results. At the same time, he is critical of the attempts for a complementary expansion of the Marxist dichotomy between free and unfree labour processes and he deems them not necessary for this new approach.
Karl Heinz Roth: Die Max-Planck-Gesellschaft und ihre Vorbilder. Eine neue Kontroverse um Adolf Butenandt Jahrzehntelang galt der Biochemiker und Nobelpreisträger Adolf Butenandt als Galionsfigur der internationalen Reintegration der westdeutschen Wissenschaft. Die Aufarbeitung seiner aktiven Beteiligung an der Kriegsforschung der NS-Diktatur trifft deshalb noch immer auf große Widerstände. An einem aktuellen Fallbeispiel wird gezeigt, wie die Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft versucht, die medienpolitische Umsetzung des inzwischen erarbeiteten historischen Wissens über ihren wohl prominentesten Präsidenten zu behindern.
For decades, the biochemist and Nobel laureate Adolf Butenandt has been considered the leader of international reintegration within western German scholarship. Therefore, scholarship on his active participation in research on the Nazi dictatorship continues to meet with great resistance. A current case study demonstrates how the administrative headquarters of the Max-Planck-Gesellschaft attempts to thwart discussion in the media of the gained historical knowledge about their possibly most prominent president.