Der Schwerpunktitel der Frühjahrsausgabe „100 Jahre geplantes Ruhrgebiet“ ist ein Euphemismus, denn von einer langfristigen, konsistenten Regionalplanung und einer damit einhergehenden -politik für das Ruhrgebiet kann seit Gründung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk nur eingeschränkt gesprochen werden. Um die widerstreitenden Interessen vornehmlich zwischen der montanindustriellen Landnahme durch Bergbau- und Stahlunternehmen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits und der Wahrung öffentlicher Belange durch Kommunal- und Landespolitik andererseits moderierend und planend gestalten zu können, wurde die preußische Landesplanungsbehörde Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) 1920 gegründet. Rückblickend lässt sich sagen, es hat mit dem SVR und seinen Nachfolgeorganisationen Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) und Regionalverband Ruhrgebiet (RVR) wegweisende Planungsansprüche gegeben, die aber in den harten Politikfeldern etwa der kommunalen Ordnung, der Flächenplanung, der Mobilität und Verkehrsplanung immer wieder von zentralen Akteuren in der Region konterkariert wurden.
R. Kastorff-Viehmann spricht in ihrem Beitrag die Gründungsintentionen des SVR an, verweist aber anhand der Gebietsreform 1926–1929 – wie auch H.-W. Wehling – auf die geringe politische Durchsetzungsmacht gegenüber historisch etablierten kommunalpolitischen und montanindustriellen Interessen. Unterschiedliche Raumordnungsmodelle zeigt H.-W. Wehling auf, die bis in die 1960er-Jahre in wesentlicher Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Maßgaben der Montanindustrien geprägt sind, um dann in der De-Industrialisierung durch landespolitische Vorgaben (Entwicklungsplan Ruhr (1968) und Internationale Bauausstellung Emscher-Park (1989)) weiterentwickelt zu werden. Ansatz und Projektdurchführung der IBA Emscher-Park eröffneten der Darstellung C. Zöpels folgend dem damaligen Kommunalverband Ruhrgebiet nur eine begleitende Rolle. Eine erneut stärkere Rolle in der Raumordnung des Ruhrgebiets spielt der 2004 neu benannte Regionalverband Ruhr, der mit der Wiedererlangung einer umfassenden Planungshoheit für das Ruhrgebiet (2009) einen Regionalplan Ruhr mit den endogenen Kräften der Region zu entwickeln sucht.
An dem Politikfeld Mobilität verweist D.-M. Hampel eindrücklich auf die begrenzten verkehrspolitischen Möglichkeiten des SVR und seiner Nachfolgeorganisationen, weist aber am Beispiel der in den vergangenen Jahren entwickelten Fahrradinfrastruktur auf ein sehr erfolgreiches Handlungsfeld hin, das aus klimapolitischen und touristischen Gründen mehr als nur einen Nischenbereich darstellt. S. Berger betont die positive Rolle des RVR für die Entwicklung eines Erinnerungsraums Ruhr, für den die Inszenierungen der Route der Industriekultur identitätsbildend eine zentrale Raumkonstruktion der Erinnerung an das industrielle Ruhrgebiet schufen.
Zwei große Ausstellungen werden in diesem Jahr das einhundertjährige Jubiläum des SVR/KVR/RVR zum Thema machen. Das Ruhr Museum wird unterschiedliche Politikfelder des Verbandes in einer großen Ausstellung unter dem Titel „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“ in den Blick nehmen (siehe S. 37ff.). Das LVR-Industriemuseum gewährt in der Ausstellung „Die Zukunft im Blick – Ruhrgebietsfotografien aus dem Bildarchiv des Regionalverbands Ruhr“ Einblick in einen bislang unerschlossenen Fotobestand (siehe S. 40f.) zur Ruhrgebietsgeschichte.
Gerne hätten wir auf die Eröffnungstermine dieser Ausstellungen auch hier verwiesen. Doch die sich gerade aufbauende Corona-Pandemie hat alle im Heft gegebenen Terminangaben entweder bereits Makulatur werden lassen oder droht diese in Frage zu stellen. Hoffentlich kommen wir zu einer raschen Bewältigung der gegenwärtigen Einschränkungen, arbeiten doch viele Ausstellungen mit Leihgaben, die nur zeitlich begrenzt gezeigt werden können. Verwiesen sei jedoch auf die vielen Buchanzeigen im Rezensions- und Annotationsteil des Heftes. Vielleicht finden Sie an der einen oder anderen Veröffentlichung Interesse, sodass die notwendigen Einschränkungen der sozialen Kontakte ein wenig abgemildert werden.
Editorial Franz-Josef Jelich
100 Jahre geplantes Ruhrgebiet
Robert Schmidt: Stadt- und Landesplaner im Ruhrgebiet – Regionalplaner von Weltrang Renate Kastorff-ViehmannS. 5
Regionalplanung, montanindustrielle Entwicklung und politische Intervention im Ruhrgebiet Hans-Werner WehlingS. 10
IBA-Emscherpark – vom Ende des „Ruhrgebiets“ zum Anfang von „Ruhrbanität“ Christoph ZöpelS. 16
Verbesserung der Verkehrsverhältnisse im Ruhrgebiet – die planerischen Möglichkeiten und ihre Umsetzung durch den Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) und seine Nachfolger Dirk-Marko HampelS. 22
Erinnerungsraum Ruhrgebiet. Herausbildung kollektiver Formen von Identität in der Region Stefan BergerS. 29
Der Regionalverband Ruhr wird 100 – Standortbestimmung und Herausforderungen für eine Region anderer Art Thorsten KrögerS. 34
100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole. Ein Gang durch die Ausstellung im Ruhr Museum Vera Conrad u.a.S. 37
Die Zukunft im Blick – Ruhrgebietsfotografien aus dem Bildarchiv des Regionalverbands Ruhr Holger Klein-WieleS. 40
Alles im GIS! Das Welterbeprojekt „Industrielle Kulturlandschaft Ruhrgebiet“ profitiert von den Geodaten und Geoinformationssystemen des Regionalverbandes Ruhr Marita Pfeiffer, Ulrich HeckmannS. 42
Der Bestand des Regionalverbands Ruhr im Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum Hannah RuffS. 44
Beiträge
Lese-Tatort Ruhrgebiet Werner JungS. 46
Wasserdichter Mörtel aus Unna Jérémy GaudaisS. 49
„Saufen für den Führer!“ Im Dritten Reich wurde die Rhein-Ruhr-Region zum Geburtsort der größten Weinpropaganda-Kampagne der deutschen Geschichte Christof KriegerS. 50
Mitteilungen der Herausgeber
Deutsches Bergbau-Museum Bochum (S. 54) Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher (S. 59) Regionalverband Ruhr / Referat Industriekultur (S. 60) Ruhr Museum (S. 63) Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets (S. 66) Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (S. 69) Personen (S. 73) Aufgelesenes (S. 77)
Museen und Ausstellungen
60 Jahre LWL-Freilichtmuseum Hagen. Von den Technischen Kulturdenkmalen zur Besucherorientierung S. 79
Industrie und Fotografie. Einblicke in den Nachlass des Fotografen Rudolf Holtappel S. 81
Infozentrum Stadt und Bergbau S. 85
Trinkhallen – Treffpunkte im Revier. Fotografien von Reinaldo Coddou H. und Brigitte Kraemer S. 85
Boten, Helfer und Gefährten. Beziehungen von Mensch und Tier im Wandel S. 85
Die Zukunft im Blick – Ruhrgebietsfotografien aus dem Bildarchiv des Regionalverbands Ruhr S. 86
Lotte Errell. Reisefotografin der 1930er-Jahre S. 86
Papierwelten. Kartonmodellbau gestern und heute S. 86
Geschichten aus dem Paulusviertel S. 87
„BOOM!“ Die Hütte zwischen Abbruch und Aufbruch S. 87
Vom Streben nach Glück. 200 Jahre Auswanderung aus Westfalen nach Amerika S. 87
Industries. Fotografien von Josef Koudelka S. 87
Oberhausen – Aufbruch macht Geschichte. Strukturwandel 1847–2006 S. 88
Revierfolklore. Zwischen Heimatstolz und Kommerz S. 88
Zeit im Fluss. Mit dem Containerschiff von Basel nach Rotterdam. Fotografien von Elke Fischer und Sabine Theil S. 89
Rezensionen
Ingeborg Boxhammer: „Herrin ihrer selbst“. Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus. Margarete Herz und ihr Freundinnen Netzwerk S. 90
Klaus Wisotzky: Unruhige Zeiten. Politische und soziale Unruhen im Raum Essen 1916–1919 S. 91
Heinrich Theodor Grütter und Axel Heimsoth (Hg.): Aufbruch im Westen. Die Künstlersiedlung Margarethenhöhe S. 92
Christian Böse, Michael Farrenkopf, Andrea Weindl: Kohle – Koks – Öl. Die Geschichte des Bergwerks Prosper-Haniel S. 93
Gisela Parak/TU Bergakademie Freiberg (Hg.): Der Freiberger Bergbau um 1900. Arbeit, Alltag und Technik im Spiegel der Fotografie S. 94
Gunnar Gawehn: Im tiefen Norden. Die Geschichte des Steinkohlenbergbaus in Ibbenbüren S. 95
Rolf Swoboda, Norbert Tempel, Wolfgang Fiegenbaum: Die Eisenbahn in Dortmund S. 96
Jürgen Brôcan, Arnold Maxwill, Ralf Thenior: Nachrichten aus dem Dreistromland S. 98
Annotationen
Dagmar Kift, Eckhard Schinkel, Stefan Berger, Hanneliese Palm (Hg.): Bergbaukulturen in interdisziplinärer Perspektive. Diskurse und Imaginationen S. 99
Gabriele Unverferth (Bearb.): Kohle, Koks und Kolonie. Das Verbundbergwerk Gneisenau in Dortmund-Derne S. 99
LWL-Industriemuseum, Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur, Thomas Parent, Martin Lochert, Dirk Zache, Anne Kugler-Mühlhofer (Hg.): Die Maschinenhalle. Zur Geschichte der Zeche Zollern II/IV in Dortmund S. 100
Rainer Pöppinghege: Republik im Bürgerkrieg. Kapp-Putsch und Gegenbewegung an Ruhr und Lippe 1919/20 S. 101
Sigrid Schneider (Hg.): Heimat. Fotografien aus dem Ruhrgebiet S. 101
Joachim Henneke, Dagmar Kift, Thomas Schleper (Hg.): die welt neu denken. Beiträge aus dem Eröffnungssymposium „100 jahre bauhaus im westen“ S. 101
StadtBauKultur NRW (Hg.): Big Beautiful Buildings – Bundle: Als die Zukunft gebaut wurde / Die Nachkriegsmoderne im europäischen Diskurs / Architektur der 1950er- bis 1970er-Jahre im Ruhrgebiet S. 102
LWL-Medienzentrum (Hg.): Die Kamera im Arbeitskampf. Industrie- und Mediengeschichte im Ruhrgebiet der 1980er-Jahre, DVD mit Begleitheft S. 102
Ruhrgebietsbibliografie S. 104
Autorinnen und Autoren S. 110
Beilage: „Das Ruhrgebiet neu ausgestellt“. Dokumentation des 8. Geschichtskonvent Ruhr, 11. Oktober 2019