Am 2. April 2005 fand an der Pariser Sorbonne auf Einladung der École Pratique des Hautes Études (EPHE, EA 4117) und des Centre interdisciplinaire de recherches centre-européennes (CIRCE) ein internationaler Workshop unter dem Titel "Verdrängt, umgedeutet, neu entdeckt: Die Aneignung fremder Vergangenheit(en) in ‚Nordost-Mitteleuropa‘ am Beispiel plurikultureller Städte in Polen und im baltischen Raum (20. Jahrhundert)" statt, an dem Wissenschaftler aus Frankreich, Deutschland, Polen und Litauen teilnahmen. Es referierten in gewollt strenger Parallelität Peter Oliver Loew ("Von Danzig zu Gdańsk"), Robert Traba ("Von Allenstein zu Olsztyn"), Krzysztof Ruchniewicz ("Von Breslau zu Wrocław"), Alvydas Nikžentaitis ("Von Memel zu Klaipėda") sowie Suzanne Pourchier-Plasseraud über Riga. Ergänzt wurde diese Reihe ostmittel- und nordosteuropäischer Fallbeispiele durch Kurzreferate zu den Städten Hermannstadt/Sibiu und Fiume/Rijeka von Pierre de Trégomain bzw. Daniel Baric, zwei am CIRCE und an der EPHE institutionell angebundene französische Forscher.
Diese journée d’études, in der Zusammensetzung der Autoren und somit der Fallbeispiele leicht geändert, bildet nun den Nukleus des vorliegenden Bandes. Der Kern wurde in der Tat um ein Vielfaches ergänzt, um den großen Bogen von Stettin bis Helsinki und Petersburg zu vervollständigen. Dies war ein besonderes Anliegen, denn „nicht nur der Kalte Krieg, sondern auch widerstreitende nationale Besitzansprüche haben in den Territorien zwischen Stettin und Vyborg, Kalinigrad und Lemberg ihre Spuren hinterlassen“, wie der Leiter der Lübecker Academia Baltica, Christian Pletzing, schreibt. Die überzeugende Qualität der soeben genannten Beiträge zu Hermannstadt und Fiume machte es wiederum leicht, ihre Publikation gleichsam als südosteuropäisches Pendant zum programmatischen nordöstlichen Schwerpunkt des Bandes zu befürworten.
Der Pariser Workshop verstand sich bei gleichzeitiger Verlagerung an die Seine als Verlängerung, Vertiefung und Vermittlung einer – wenige Monate zuvor – in Lübeck erfolgreich abgehaltenen interdisziplinären Konferenz zur Frage "Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas (19.–20. Jahrhundert)", zu der die Academia Baltica (Lübeck), das Deutsche Polen-Institut (Darmstadt) und das Frankreich-Zentrum der Technischen Universität Berlin eingeladen hatten, und deren Ergebnisse unter dem Tagungstitel Ende 2006 in der Reihe der Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts (Darmstadt) erschienen sind. Verlängerung zunächst, weil der Gegenstand der Untersuchung auch hier die geradezu zyklische Neuerfindung, weniger dramatisch Neujustierung kollektiver Meisternarrative sein sollte, zu welcher die regelmäßigen Grenzveränderungen, die einschnittartigen Bevölkerungsverschiebungen und die noch zahlreicheren Souveränitäts- und Regimewechsel in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert zwangsläufig führen mussten.
Vertiefung, weil ebendiese nach 1989 allseits beobachtete Wiederkehr von Geschichte und Gedächtnis in eine theoretische Verbindung gebracht werden sollte mit dem gleichzeitigen "Comeback der Städte" oder gar mit "Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte", die für den ostmittel- und osteuropäischen Raum in Forschung und Publizistik u.a. von Karl Schlögel in aller Emphase apostrophiert wird. Keine Frage: Für die Analyse der Legitimationsprozesse territorialer Zugehörigkeiten und die Untersuchung der Identifikationsprozesse in einem gegebenen bzw. konstruierten Raum steht die Stadt nicht alleine da; regionale "Zwischenräume" liefern eine wissenschaftlich genauso fruchtbare Bezugsgröße. Doch ist die Stadt – durch das auf kleinstem Raum höchst geballte Zusammenstoßen von plurinationaler Bevölkerung, multikulturellem Gepräge und einer – wie sich immer wieder zeigt – nur begrenzt wirksamen Herrschaftssymbolik ein unvergleichbar plastisches und schillerndes Forschungsobjekt.
Nicht zuletzt ist unter dem Vorzeichen der Internationalisierung der Forschung die Vermittlung ein weiteres wichtiges Anliegen des Bandes. Dass der hier verantwortlich zeichnende Herausgeber ein noch nicht ganz germanisierter Franzose ist, wurde aus nahe liegenden Gründen als Gelegenheit wahrgenommen, neben den hier vertretenen vier Beiträgen französischer Kollegen in verstärktem Maße ausgewählte Titel aus der französischen Wissenschaftsproduktion unter den rezensierten Büchern zu präsentieren. Umgekehrt ist – vielleicht mit den Ausnahmen Vilnius und St. Petersburg – die Beschäftigung mit Nordosteuropa und insbesondere mit den baltischen Ländern in der französischen Forschungslandschaft eher unterbelichtet, so dass diese in erheblichem Maße auf Rezeption und Kommunikation der internationalen Forschung angewiesen ist.
Thomas Serrier, Berlin
INHALTSVERZEICHNIS
Thomas Serrier: Editorial
Abhandlungen
Thomas Serrier (Berlin): Formen kultureller Aneignung: Städtische Meistererzählungen in Nordosteuropa zwischen Nationalisierung und Pluralisierung
Peter Oliver Loew (Darmstadt): Von Danzig nach Gdańsk. Die lokale Geschichtspolitik im Umgang mit narrativen Abbreviaturen im langen 20. Jahrhundert
Katja Bernhardt und Jan Musekamp (Berlin u. Frankfurt a.d.O.): 1945 – ein Bruch? Stadtplaner in Stettin und Szczecin
Robert Piotrowski (Frankfurt a.d.O.): Landsbergs geschichtliches Erbe in Gorzów
Felix Ackermann (Berlin): Goroden, Gardinas, Grodno, Garten, Hrodna: Stadt an der Memel
Alexander Sologubov (Kaliningrad): Kaliningrad, Mythos der Weltschöpfung
Ruth Leiserowitz (Berlin): Tilsit – Die Rückkehr der Perspektiven. In memoriam Isaak Rutman
Alvydas Nikžentaitis (Vilnius): Kampf um die Erinnerung: Memel/Klaipėda im 20. Jahrhundert
Catherine Gousseff (Paris): Vilnius – die „Anderen“ im Gedächtnis der litauischen Hauptstadt
Suzanne Pourchier-Plasseraud (Paris): Riga 1905–2005: A City with Conflicting Identities
Olaf Mertelsmann (Tartu): Tartu – Dorpat – Jur’ev
Karsten Brüggemann (Lüneburg): Geteilte Geschichte in Estland? Ein Vergleich konkurriender Erinnerungsschichten in Tallinn (Reval) und Narva
Ralph Tuchtenhagen (Hamburg): Von Helsingfors zu Helsinki. „Die Aneignung fremder Vergangenheiten“ in der Hauptstadt Finnlands
Frithjof Benjamin Schenk (München): St. Petersburg – Petrograd – Leningrad
Pierre de Trégomain (Paris): Sibiu – Hermannstadt – Nagyszeben: Vergangenheitsreformen
Daniel Baric (Tours): Von Fiume bis Rijeka
MitteilungJanina Gesche (Stockholm): Provinz als Zentrum. Zu einer Besonderheit der (deutschen) Literatur am Beispiel der baltischen Region. Polnisch-deutsch-nordisches Symposium. 1.–4. Dezember 2005 in Szczecin und Pobierowo
RezensionenPeter Oliver Loew, Danzig und seine Vergangenheit 1793–1997: Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen (Rudolf A. Mark)
Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik, hrsg. v. Holger Böning, Hans Wolf Jäger, Andrzej Kątny u. Marian Szczodrowski (Janina Gesche)
Frankfurt Oder Słubice. Sieben Spaziergänge durch die Stadtgeschichte, hrsg. v. Monika Kilian u. Ulrich Knefelkampf (Stefan Dyroff)
Gregor Thum, Die fremde Stadt Breslau 1945 (Beate Störtkuhl)
Raimo Pullat, Die Geschichte der Stadt Tallinn. Reval aus seinen Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg (Alfred Ritscher)
Riga und der Ostseeraum. Von der Gründung 1201 bis in die Frühe Neuzeit, hrsg. v. Ilgvars Misāns u. Horst Wernicke (Andreas Fülberth)
Tomas Venclova, Vilnius. Eine Stadt in Europa. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Mit Fotografien von Arunas Baltėnas (Christian Trepte)
Andreas Fülberth, Tallinn – Riga – Kaunas. Ihr Ausbau zu modernen Hauptstädten 1920–1940 (Lars Olof Larsson)
Saint-Pétersbourg, une fenêtre sur la Russie. Ville, modernisation, modernité 1900–1935, hrsg. v. Ewa Bérard (Hans-Jürgen Bömelburg)
Erinnerungsorte Frankreichs, hrsg. v. Pierre Nora. Aus dem Französischen v. Michael Bayer, Enrico Heinemann, Elsbeth Ranke, Ursel Schäfer, Hans Thill u. Reinhard Tiffert (Kornelia Kończal)
The Ethnic Dimension in Politics and Culture in the Baltic Countries 1920–1945, hrsg. v. Baiba Metuzāle-Kangere (Detlef Henning)
Staatliche Einheit und nationale Vielfalt im Baltikum. Festschrift für Prof. Dr. Michael Garleff zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Gert von Pistohlkors u. Matthias Weber (Ulrike Plath)
Estland und Russland. Aspekte der Beziehungen beider Länder, hrsg. v. Olaf Mertelsmann (Ulrike Plath)
The Hidden and Forbidden History of Latvia under Soviet and Nazi Occupations 1940–1991. Selected Research of the Commission of the Historians of Latvia, ed. by Valters Nollendorfs, a. Erwin Oberländer (Mark R. Hatlie)
Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944; Stefan Klemp, „Nicht ermittelt“. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz – Ein Handbuch (Joachim Tauber)
Jörg Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad 1941–1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (Bernhard Schmitt)
Anita Kugler, Scherwitz: der jüdische SS-Offizier (Ruth Leiserowitz)
Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa: Wilna 1918–1939, hrsg. v. Marina Dmitrieva u. Heidemarie Petersen (Hanna Kozińska-Witt)
Torsten Lorenz, Von Birnbaum nach Międzychód. Bürgergesellschaft und Nationalitätenkampf in Großpolen bis zum Zweiten Weltkrieg (Christian Pletzing)
Stefan Rohdewald, „Vom Polocker Venedig“. Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Yvonne Kleinmann)
Janina Gesche, Aus zweierlei Perspektiven… Zur Rezeption der „Danziger Triologie“ von Günter Grass in Polen und Schweden in den Jahren 1958–1990 (Ewa Teodorowicz-Hellman)
Willibald Omankowski/Omansen, Danzig zur Nacht. Gdańsk nocą. Gedichte. Wiersze, ausgew. u. hrsg. v. Andrzej Kątny u. Jens Stüben (Peter Oliver Loew)
Das literarische Erbe von Danzig und Gdańsk, hrsg. v. Andrzej Kątny (Andreas Lawaty)
Lutz Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung: Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870–1914) (Rudolf A. Mark)
Margret Opladen, Magdeburger Recht auf der Burg zu Krakau. Die güterrechtliche Absicherung der Ehefrau in der Spruchpraxis des Krakauer Oberhofs (Hiram Kümper)
Volker Keller, Herzog Friedrich von Kurland (1569–1642). Verfassungs-, Nachfolge- und Neutralitätspolitik (Jānis Kresliņš)
Elke Wimmer, Novgorod – Ein Tor zum Westen? Die Übersetzungstätigkeit am Hofe des Novgoroder Erzbischofs Gennadij in ihrem historischen Kontext (um 1500) (Christina Otto)
Barbara Falk, Sowjetische Städte in der Hungersnot 1932/33. Staatliche Ernährungspolitik und städtisches Alltagsleben (Vera Doubina)