Der vorliegende Band des „Nordost-Archivs“ ist weitestgehend der Migration der Deutschbalten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihren historischen Umständen gewidmet. Ab 1944 werden auch ihre Nachbarvölker, Esten und Letten, und deren erzwungene „Westsiedlung“ zunächst in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, später in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Indrek Kiverik lässt noch einmal die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts mit ihren nationalen und sozialen Verwerfungen und aufkommenden ethnischen Konflikten Revue passieren, bevor Helēna Šimkuva auf Zahlen und Hintergründe für die bisher wenig berücksichtigte Emigration von Deutschbalten aus Lettland vor der Umsiedlung eingeht. Kaido Laurits beleuchtet anschließend das deutsch-estnische Verhältnis in Estland während der 1920er und 1930er Jahre, die deutsche Kulturselbstverwaltung und deren Ende mit Beginn der Umsiedlung 1939. Die „Ansiedlung“ der Deutschbalten nach ihrer Umsiedlung, hauptsächlich im deutsch besetzten „Warthegau“ zwischen 1941 und 1945, ist in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus der Forschungen zur deutschen Besatzungspolitik in Polen gerückt. Rasa Pārpuce untersucht in diesem Zusammenhang die Geschichte der im Rahmen der Umsiedlung aus Lettland ausgeführten deutschen „Kulturgüter“ und die deutschbaltischen Versuche, über deren zentrale Sammlung in Posen (Poznań) wieder ein deutschbaltisches Zentrum entstehen zu lassen. In den Zusammenhang der sowjetischen Deportationspolitik stellt Jānis Riekstiņš die wenig bekannte Geschichte der Deportation von über 600 in Lettland verbliebenen Deutschen zu Beginn 1945 nach Sibirien. Schließlich runden zwei Beiträge zur Geschichte baltischer Flüchtlinge im Westen – Christian Pletzing über die Geschichte der baltischen Displaced Persons (DPs) in den westlichen Besatzungszonen am Beispiel der Stadt Lübeck und Liene Lauska über die Probleme von Schriftstellerflüchtlingen im Exil am Beispiel der beiden lettischen Literaten Jānis Jaunsudrabīņš und Pēteris Ērmanis im Nachkriegsdeutschland und der frühen Bundesrepublik den Band ab.
INHALTSVERZEICHNIS
Detlef Henning: Editorial S. 7
Abhandlungen
Indrek Kiverik (Moskau): Die Deutschbalten und die jungen Nationalbewegungen in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches 1885–1914/17 S. 13
Helēna Šimkuva (Rīga): Deutschbaltische Emigration aus der Republik Lettland während der Zwischenkriegszeit (1918–1939) S. 39
Kaido Laurits (Tallinn): Die deutschbaltische Minderheit in der Republik Estland von 1918 bis 1940 S. 71
Rasa Pārpuce (Rīga): Die Verwaltung baltischer Kulturgüter in Posen (Poznań) während des Zweiten Weltkrieges S. 116
Jānis Riekstiņš (Rīga): Die stalinistischen Deportationen in Lettland und die „Deutsche Aktion“ vom 5. und 6. Februar 1945 S. 166
Christian Pletzing (Lübeck): Displaced Persons. Esten, Letten und Litauer im Lübeck der Nachkriegszeit S. 197
Liene Lauska (Axams): Lettische Flüchtlinge in Deutschland nach 1944 und die Integration lettischer Exilschriftsteller: Jānis Jaunsudrabiņš und Pēteris Ērmanis S. 220
Rezensionen
Florian J. Anton, Staatlichkeit und Demokratisierung in Lettland. Entwicklung – Stand – Perspektiven (Björn Felder) S. 245
Auswahlbibliographien zur Geschichte des Kommunismus in Osteuropa. Bd. III: Estland, hrsg. v. Wiebke Jürgens (David Feest) S. 247
Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Livland, Estland, Ösel, Ingermanland, Kurland und Lettgallen. Stadt, Land und Konfession 1500–1721. Teil I, hrsg. v. Matthias Asche, Werner Buchholz u. Anton Schindling (Heinrich Wittram) S. 249
Die baltischen Staaten im Schnittpunkt der Entwicklungen. Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. v. Carsten Goehrke u. Jürgen v. Ungern-Sternberg (Bradley Woodworth) S. 252
Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposiums in Tartu vom 19. bis 21. September 2003, hrsg. v. Michael Schwidtal u. Jaan Undusk unter Mitwirkung v. Liina Lukas (Michael Garleff) S. 259
Madlen Benthin, Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa. Deutsche und tschechische Erinnerungskulturen im Vergleich (Ingo Eser) S. 266
Jens Boysen, Preußische Armee und polnische Minderheit. Royalistische Streitkräfte im Kontext der Nationalitätenfrage des 19. Jahrhunderts (1815–1914) (Julia Eichenberg) S. 271
The Cambridge History of Russia. Vol. 3: The Twentieth Century, hrsg. v. Ronald Grigor Suny (Karsten Brüggemann) S. 273
Europäische Dimensionen deutschbaltischer Literatur, hrsg. v. Frank-Lothar Kroll (Michael Garleff) S. 278
Forschungen zur baltischen Geschichte, hrsg. v. Mati Laur u. Karsten Brüggemann. Bd. 3 (2008) (Ulrike Plath) S. 286
Helfer der Armen – Hüter der Öffentlichkeit. Guardians of the Poor – Custodians of the Public: Welfare History in Eastern Europe, hrsg. v. Sabine Hering u. Berteke Waaldijk (Rajah Scheepers) S. 290
Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914 (Michael Garleff) S. 293
Jürgen Joachimsthaler, Philologie der Nachbarschaft: Erinnerungskultur, Literatur und Wissenschaft zwischen Deutschland und Polen (Martin Klöker) S. 301
Konfessionelle Identität und Nationsbildung. Die griechisch-katholischen Kirchen in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Christian Maner u. Norbert Spanneberger (Stephan Stach) S. 306
Mathias Mesenhöller, Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830 (Jörg Hackmann) S. 310
Kazimierz Moczarski, Gespräche mit dem Henker. Das Leben des SS-Generals Jürgen Stroop. Aufgezeichnet im Mokotów-Gefängnis in Warschau (Joachim Tauber) S. 313
Nordosteuropa als Geschichtsregion. Beiträge des III. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten vom 20.–22. September 2001 in Tallinn (Estland), hrsg. v. Jörg Hackmann u. Robert Schweitzer (Andreas Lawaty) S. 318
Perceptions of Loss, Decline and Doom in the Baltic Sea – Untergangsvorstellungen im Ostseeraum, hrsg. v. Jan Hecker-Stampehl, Aino Bannwart, Dörte Brekenfeld u. Ulrike Plath (David Feest) S. 327
The Reception of Medieval Europe in the Baltic Sea Region. Papers of the XIIth Visby Symposium held at Gotland University, Visby, hrsg. v. Jörn Steacker (Stefan Donecker) S. 330
Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, hrsg. v. Karl Schlögel, Frithjof Benjamin Schenk u. Markus Ackeret (Ralph Tuchtenhagen) S. 335
Siegfried Tornow, Was ist Osteuropa? Handbuch zur osteuropäischen Text- und Sozialgeschichte von der Spätantike bis zum Nationalstaat (Ralph Tuchtenhagen) S. 340
Die unbekannten Nachbarn. Minderheiten in Osteuropa, hrsg. v. Ruth Leiserowitz (Jürgen Joachimsthaler) S. 345
Alexander Watson, Enduring the Great War. Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914–1918 (Julia Eichenberg) S. 350
Jörg Zägel (in Zusammenarbeit mit Reiner Steinweg), Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion. Bd. 1: Auseinandersetzungen in den nordischen Staaten über Krieg, Völkermord, Diktatur, Besatzung und Vertreibung; Jörg Zägel (in Zusammenarbeit mit Reiner Steinweg), Vergangenheitsdiskurse in der Ostseeregion. Bd. 2: Die Sicht auf Krieg, Diktatur, Völkermord, Besatzung und Vertreibung in Russland, Polen und den baltischen Staaten (Jan Hecker-Stampehl) S. 354
Zwischeneuropa – Mitteleuropa. Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation. Akten des Gründungskongresses des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes, hrsg. i.A. des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes v. Walter Schmitz in Verbindung mit Jürgen Joachimsthaler (Martin Klöker) S. 357
Rafał Żytyniec, Zwischen Verlust und Wiedergeburt. Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945 (Joachim Tauber) S. 364