Das Luthertum hat seit der Reformation im 16. Jahrhundert einen vielfältigen Einfluss auf Kultur und Politik im Nordosten Europas ausgeübt. Daher kann man vom nördlichen Baltikum als einem lutherischen konfessionellen Raum sprechen, der seit der Reformation kontinuierlich reproduziert wurde. Die drei Staaten Lettland, Estland und Finnland sehen sich heute noch als kulturell überwiegend lutherisch. In allen drei Ländern möchte die lutherische Kirche gerne die historische Volkskirche sein, obwohl die Gesellschaft weitgehend säkularisiert ist und die Religion nur noch für wenige Einwohner einen relevanten Bezugspunkt darstellt. Der historische Einfluss des Luthertums auf Politik und Gesellschaft ist allerdings unumstritten, zumindest im Hinblick auf die Zeit bis zu den Prozessen der gesellschaftlichen Säkularisierung im 20. Jahrhundert und der Inkorporation Estlands und Lettlands in die Sowjetunion 1940/44.
Die acht Beiträge dieser Ausgabe des Nordost-Archivs gewähren Einsichten in die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, welche die Reformation in der nordöstlichen Ostseeregion in Gang setzte. Seit der Reformation vertieften oder spalteten verschiedene politische und kulturelle Erscheinungen die lutherische Prägung dieser Region. Dabei wies hier die Reformation, bedingt durch die politische und demografische Gemengelage der Region nicht die gleiche Durchsetzungskraft wie im nördlichen Mitteleuropa auf. Bereits während der Reformation kam der Unterschied zwischen den baltischen Landen Alt-Livlands im Süden und Finnland im Norden zum Tragen. Während in Alt-Livland die Reformation direkt aus Deutschland Einzug hielt und primär unter der Stadtbevölkerung Wirkung zeigte, verlief sie in Finnland zu Beginn als Ausläufer der schwedischen Reformation, dafür aber gründlicher. Beide Landstriche erfuhren jedoch relativ früh als Teile des europäischen Protestantismus eine lutherische Prägung. Selbst die gegenreformatorischen Maßnahmen in Polen-Litauen blieben in den eroberten Gebieten Alt-Livlands wirkungslos.
Die vielen Kriege des 17. Jahrhunderts, die Klarheit in die sogenannte Ostseefrage bringen sollten, änderten zunächst nichts an der konfessionellen Ausrichtung der Region. Die schwedische Reichskirchenordnung von 1686 zementierte den lutherischen Glauben nach schwedischer Lesart in den baltischen Provinzen und der finnischen Provinz. Diese Ordnung blieb auch nach der Eingliederung der Gebiete 1710/21 als russische Gouvernements (Ostseeprovinzen) und 1809 als Großfürstentum Finnland ins Russische Reich in Kraft. Von einer tiefgreifenden Verbreitung des lutherischen Glaubens unter der autochthonen Landbevölkerung kann erst mit den pietistischen Strömungen in der Mitte des 18. Jahrhunderts gesprochen werden, die allerdings mit Verweis auf die Kirchenordnungen zunächst unterdrückt wurden. Erst im 19. Jahrhundert wurden die pietistischen Herrnhuter Brüdergemeinen unter dem Einfluss aufklärerischer Ideen auch im Russischen Reich wieder erlaubt. Dieser Prozess fiel zeitlich mit der Konversionsbewegung zum orthodoxen Christentum in den 1840er Jahren zusammen. Letztere führte in der deutschbaltischen lutherischen Amtskirche zu einem Überdenken der bisherigen Praxis der Glaubensvermittlung unter Esten und Letten.
Beide Entwicklungen des 19. Jahrhunderts kann man mit Olaf Blaschkes Begriff des Zweiten Konfessionellen Zeitalters fruchtbringend in Beziehung setzen. Insbesondere hinsichtlich der „lutherischen Orthodoxie“ in der vorherrschenden Theologie und verbesserten Sprachkenntnissen der Pfarrer führten beide Entwicklungen zu einer allgemeineren Verbreitung konfessioneller Identitätsmerkmale. Gleichzeitig brachten aufklärerische Ideen Nationalisierungsprozesse in Gang, wie Benedict Anderson gezeigt hat. Religionszugehörigkeit wurde für die estnische und lettische Nationalbewegung nur bedingt als Identitätsmerkmal genutzt, da die vorherrschende lutherische Konfession nicht eng genug mit dem Volk verschmolzen war. Zudem gab es selbstbewusste und einflussreiche orthodoxe Esten und Letten, auf die das Merkmal Luthertum nicht zutraf.
Neben dem aufkeimenden Nationalismus wies besonders der Sozialismus einen antireligiösen Zug auf. Diese „nichtreligiösen“ Ideologien veränderten das Nachdenken über Religion und machten nach Charles Taylor die „Säkularisierung 3“ aus: Das Religiöse sei nun nicht mehr die alleinig vorgegebene Option, sondern nur eine von mehreren Alternativen gewesen. Dadurch habe sich das Selbstverständnis kirchlicher Institutionen geändert: Diese hätten sich fortan in einer säkularen Welt behaupten müssen und die tragende Rolle als Garanten für die göttliche Ordnung verloren. Die dadurch bedingten Diskursverschiebungen und neuartigen Selbstinszenierungen der Kirchen sind als Merkmal von Religiosität im 20. Jahrhundert auch in Nordosteuropa festzustellen, obwohl sie hier durch die besonderen politischen Wechselfälle und den sowjetischen Machtbereich vielfach gebrochen wurden. Die kulturell und religiös prägende Kraft der Reformation in ihrer lutherischen Ausprägung stellte jedoch, wie die Beiträge dieser Ausgabe des Nordost-Archivs belegen, auch in Nordosteuropa ein dauerhaftes historisches Phänomen dar.
INHALTSVERZEICHNIS
Editorial
Sebastian Rimestad (Erfurt)Luthertum und Baltikum. Der konfessionelle Raum und die politische Entwicklung S. 7–21
Martin Pabst (Kiel)Riga als Beispiel der Städtereformation in Nordosteuropa S. 21–50
Otfried Czaika (Oslo)Mikael Agricola: Reformator und Sprachschöpfer. Anmerkungen zur finnischen Reformationsgeschichte S. 50–74
Irina Paert (Tartu)Orthodox Education in the Lutheran Environment 1840–1890s S. 74–92
Toomas Schvak (Tartu)Die orthodoxe Kirche im protestantischen Estland der Zwischenkriegszeit S. 92–114
Valdis Tēraudkalns und Nils S. Konstantinovs (Rīga)Der Kampf gegen die Sünde im Luthertum Lettlands. Wertvorstellungen im Wandel S. 114–136
Priit Rohtmets (Tartu)The international dimension of Estonian Lutheranism in the 20th century S. 136–167
Mikko Ketola (Helsinki)Finland and the 450th Jubilee of Reformation in 1967 S. 167–184
Marcus Moberg (Turku)The Evangelical Lutheran Church of Finland in a Changing Socio-Economic Environment: Marketization and Changing Discursive Practices S. 184–201
Rezensionen
Nadezhda Beljakova, Thomas Bremer und Katharina Kunter, „Es gibt keinen Gott!“ – Kirchen und Kommunismus. Eine Konfliktgeschichte (Sebastian Rimestad)S. 201–204
Ines Angeli Murzaku (Hrsg.): Monasticism in Eastern Europe and the Former Soviet Republics (Łukasz Fajfer)S. 204–207
Manfred Hildermeier, Elise Kimerling Wirtschafter (Hrsg.): Church and Society in Modern Russia – Essays in Honor of Gregory L. Freeze (Alena Alshanskaya)S. 207–210
Liina Eek (Hrsg.): Mitut usku Eesti IV. Valik usundiloolisi uurimusi: Õigeusu eri [Religiös-plurales Estland IV. Ausgewählte religionsgeschichtliche Forschungen: die Orthodoxe Kirche] (Sebastian Rimestad)S. 210–213
Anne Sommerlat-Michas (Hrsg.): Das Baltikum als Konstrukt (18.–19. Jahrhundert). Von einer Kolonialwahrnehmung zu einem nationalen Diskurs (Martin Klöker)S. 213–216
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs (Martyn Housden)S. 216–217
Jānis Siliņš: Padomju Latvija 1918‒1919 [Rätelettland 1918‒1919] (Detlef Henning)S. 217–219
Robert Gerwarth, John Horne (Hrsg.): Krieg im Frieden. Paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg (Tim Buchen)S. 219–222
Marius Otto: Zwischen lokaler Integration und regionaler Zugehörigkeit. Transnationale Sozialräume oberschlesienstämmiger Aussiedler in Nordrhein-Westfalen (David Skrabania)S. 222–226
Katja Wezel: Geschichte als Politikum. Lettland und die Aufarbeitung nach der Diktatur (Benjamin Conrad)S. 226–228
Per Anders Rudling: The Rise and Fall of Belarusian Nationalism 1906–1931 (Artur Schleicher)S. 228–230
Benjamin Conrad, Lisa Bicknell (Hrsg.): Stadtgeschichten. Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku (Jan Musekamp)S. 230–233
Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844 (Guido Hausmann)S. 233–235
Eglė Bendikaitė, Dirk Roland Haupt (Hrsg.): The Life, Times and Work of Jokūbas Robinzonas – Jacob Robinson (Svetlana Bogojavlenska)S. 235–238