Im neuen Heft der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ stehen diesmal Fragen zur Wirtschaftsgeschichte Ostdeutschlands im Mittelpunkt. Wie vielfältig und kontrovers die Perspektiven bis heute ausfallen, zeigt die Bandbreite der Titelthemen. Zu Beginn verfolgt eine Spurensuche die statistische Karriere der DDR als „eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt“. Ausgangspunkt dafür ist die SED-Propagandaformel „Unter den ersten zehn“, die Mitte der 1960er Jahre verstärkt auftauchte und sogar von westlichen Korrespondenten übernommen wurde. In einem anderen Beitrag analysiert der Historiker Dietmar Remy, der bald eine umfangreiche Biografie über Wolfgang Biermann (1927–2001) veröffentlicht, das Wirken des umstrittenen Zeiss-Generaldirektors, der von 1975 bis Ende 1989 an der Spitze des Kombinats Carl Zeiss Jena stand. Weitere Beiträge untersuchen die ökonomische Bedeutung der Bausoldaten für das SED-Regime, die Wirtschaftsspionage in West-Berlin oder die Struktur des ostdeutschen Treuhandpersonals.
Doch auch die zusätzlichen Texte im Heft zur Zeitgeschichte bieten neue Einsichten. Etwa eine Darstellung über die wenig bekannte Gruppe der Auskunftspersonen (AKP), die abseits der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) ein dichtes Informanten-Netz in den Wohngebieten bildeten. Der „Weiße Kreis“ war im Sommer 1983 eine lose Gruppe von Ausreisewilligen in Jena, die friedlich und zumeist weiß gekleidet auf dem Platz der Kosmonauten (heute Eichplatz) demonstrierten. Heidelore Rutz war mit ihrer Familie dabei und wurde inhaftiert. Sie schildert in einem persönlichen Bericht ihren langen Weg in die Freiheit. Ein Artikel zu den Erinnerungen von Opfern politischer Gewalt, ein Nachruf auf die verstorbene DDR-Fußballlegende Manfred Kaiser, eine Betrachtung zum Phänomen „DDR-Alltags-Museen“ sowie eine Rezension zur verschwiegenen und unterdrückten Literatur bis 1989 runden das Heft ab.
INHALTSVERZEICHNIS
TITELTHEMA: Wirtschaft
André SteinerWie die DDR unter die zehn führenden Industrieländer der Welt geriet? Eine Spurensuche S. 3
Christopher NehringDie Wirtschaftsspionage des MfS. Eine Fallstudie zur Bezirksverwaltung Berlin S. 8
Wolfgang Klietz„Nie war der Bausoldat so wertvoll wie heute!“ Die ökonomische Bedeutung der Bausoldaten in der DDR der 1980er Jahre S. 13
Dietmar RemyEin lautstarker Propagandist der SED als stiller Reformer der DDR? Die vernichtende Kritik des Zeiss-Generaldirektors Wolfgang Biermann am Zustand der Planwirtschaft S. 18
Marcus BöickAltkader, Knowhow-Träger, Verräter? Das ostdeutsche Personal der Treuhandanstalt zwischen umstrittener Vergangenheit, umkämpfter Gegenwart und ungewisser Zukunft S. 23
ZEITGESCHICHTE
Christian BooßAuskunftspersonen als Stasi-Informanten jenseits der IM. Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Bedeutung S. 28
Heidelore RutzKlopfzeichen. Der „Weiße Kreis“ in Jena und mein Weg in die Freiheit S. 34
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
Nancy ArisDas lässt einen nicht mehr los. Opfer politischer Gewalt erinnern sich S. 40
Kerstin LangwagenStilblüten: DDR-(Alltags)Museen? Zum Verständnis eines Museumsbooms S. 45
Hanns LeskeKaiserliche Festtage im Sozialismus. Eine Würdigung der verstorbenen Fußballlegende Manfred Kaiser S. 51
REZENSION
Wolfgang SchullerVerschwiegen, weggesperrt, zensiert. Ines Geipel und Joachim Walther rekonstruieren die unterdrückte Literaturgeschichte Ostdeutschland S. 54