Das Editorial der ersten Ausgabe 1996 der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ war mit „Gegen Geschichtsklitterung“ überschrieben – „streitbar und sachkundig“ sollte die neue Zeitschrift den Erfahrungen und Erkenntnissen „ein Podium bieten“, die bisher tabuisiert, verdrängt, ungehört oder unterdrückt waren. Das „Forum für Geschichte und Kultur“, wie es anfänglich hieß, erschien fortan vierteljährlich. Keine Plattform also, um auf Tagesereignisse und Pressemeldungen zu reagieren, sondern eine vernehmbare Stimme der historischen Aufarbeitung und der zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung zu Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert.
Ein Vierteljahrhundert später hat unser Langzeitprojekt nun das 100. Heft erreicht, keine Selbstverständlichkeit für ein durch einen gemeinnützigen Verein herausgegebenes Periodikum. Auf dieser Wegstrecke haben viele engagierte Menschen etwas beigetragen, ob ehrenamtlich im Hintergrund oder programmatisch im Vorstand, als beratende Stimmen im Umfeld oder als Autorinnen und Autoren, ohne die eine Zeitschrift nicht existieren könnte. In 25 Jahren durchlief die „Gerbergasse 18“ nicht nur eine äußerliche Entwicklung, auch die Fragestellungen und Themenschwerpunkte differenzierten sich immer stärker aus. Während die öffentliche Beschäftigung, die Nutzung der Archive und die wissenschaftliche Forschung massiv angewachsen sind, blieb der Ansatz konstant: die lokale und regionalgeschichtliche Ausrichtung („Grabe, wo du stehst“), die Perspektive der Betroffenen und Zeitzeugen (methodisch orientiert an der Oral History), das Hinterfragen etablierter Narrative und Gewissheiten (verstanden als kritische Geschichtsschreibung), gründliche Recherchen zu Alltag und Lebensläufen von Verfolgten, Ausgegrenzten und Andersdenkenden („Geschichte von unten“), die Einbeziehung von Quellen zu Opposition und Widerstand („Archive von unten“), sowie – als eine spezifische Prägung – das Entgegentreten bei Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur.
In der Jubiläumsrubrik haben wir – im Vergleich zum runden Heft 80 – auf klassische Grußworte verzichtet. Vielmehr richten wir den Blick auf die eigenen Wurzeln: die Ursprünge der Geschichtswerkstätten-Bewegung, den Werkstattcharakter als leitendes Prinzip, den Sitz der Geheimpolizei in der alten Gerbergasse als ein „Ort der Angst“ und zugleich des Triumphs im Dezember 1989, eine verdichtete Vereinsgeschichte in vier Bildern sowie ein Interview mit dem Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der unsere Zeitschrift, wie schon seine Vorgänger/innen, intensiv fördert.
S. 03Jenny WüstenbergDemokratisierung der Erinnerung. Die Geschichtswerkstätten-Bewegung in der Bundesrepublik
S. 09Henning PietzschGeschichtswerkstatt ist Geschichte plus Werkstatt.Transformation und Werkstattcharakter seit einem Vierteljahrhundert
S. 12Daniel BörnerAmateure, Laien, Hobbyforscher. Werkstatt-Erfahrungen barfuß
S. 17Aufarbeitung der Geschichte von Verfolgung, Widerstand und Opposition in Thüringen. Zwei Gründungsmitglieder zu den Anfängen der Geschichtswerkstatt Jena
S. 18Eine kurze Geschichte der Geschichtswerkstatt Jena. Aufgezeichnet in vier Bildern von Julia Tripke
S. 20In Worten: Einhundert. Grüße und Stimmen zum Jubiläum
S. 23Markus Heckert Wir haben gewonnen. Eine persönliche Rückblende
S. 27„Die Erinnerung an den Mauerbau vor 60 Jahren dient dazu, darüber nachzudenken, was Grenzen mit unseremLeben machen.“ Ein Gespräch mit Peter Wurschi über Beratungstermine in Corona-Zeiten, geplante Zentren für Erinnerungsarbeit und Demokratiebildung und die Ambivalenz von Grenzen
S. 30Tom FleischhauerMit Jugendlichen auf historische Spurensuche gehen und Geschichte(n) entdecken. Wie der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten selbst Geschichte schrieb
S. 34 Über den eigenen Tellerrand hinaus. Nachgefragt bei Geschichtswerkstätten und -vereinen
S. 52Geschichtshunger anno 1985. Elf Zeichnungen von Till Schröder
Zeitgeschichte
S. 56Thomas Purschke„Am liebsten wäre es mir und vielen anderen Fans, die Stones würden einmal in die DDR kommen.“ Wie die Stasi einen jungen Musikfan aus Gera jagte
S. 61Lutz WohlrabFalschgeld und Verbundenheit. Joseph Beuys und die Mail Art in der DDR
S. 66 Michael von HintzensternDie Bringer Stockhausens. Vor 40 Jahren wurde das Ensemble für Intuitive Musik in Weimar gegründet
Zeitgeschehen / Diskussionen
S. 73Auschwitz und Staatssicherheit. Ein Gespräch mit dem Autor Henry Leide über das Geheimwissen des MfS
S. 79Lutz Rathenow Teil 1: Das Gespräch / Teil 2: Was steckt in einem Text, was der Autor beim Schreiben nicht merkte. Eine Nachschrift zum „Gespräch“
Rezensionen
S. 91Daniel BörnerNur nackte Zahlen? Erkenntnisse und Grenzen der Suizidforschung zur DDR
S. 94Gerold Hildebrand Von Ost nach West nach Ost. Lothar Rochaus Halle-Marathon