In Form von Romanen, Tagebüchern, Gedichten oder Briefen bilden sie ein eigenes Genre der Literaturgeschichte. Von Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ bis zu Nelson Mandelas „Der lange Weg zur Freiheit“, von Hans Falladas „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ bis zu Gabriele Stötzers „Die bröckelnde Festung“, von Warlam Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ bis zu Mustafa Khalifas „Das Schneckenhaus“. Haft-Literatur gab und gibt es überall. Hinzu kommt eine nicht überschaubare Anzahl von Hafterinnerungen im Selbstverlag, die unaufhörlich wächst, vor allem vermehrt durch Berichte über Haftorte in autoritären Staaten und Diktaturen. Das neue Heft der „Gerbergasse 18“ bietet im Schwerpunkt eine Auswahl von Beiträgen zum Schreiben in der und über die Haft. Die Spannweite reicht von Kassibern, nach außen geschmuggelten Nachrichten, aus dem Speziallager Buchenwald über Haftberichte aus DDR-Gefängnissen bis zur aktuellen Situation von Schreibenden, die aufgrund ihrer Werke in Haft gerieten oder von Verhaftung in ihren Heimatländern bedroht sind.
Das Aufschreiben, dies bestätigen Beratungsstellen für Betroffene von politischer Haft, ist hilfreich im Prozess der Bewältigung, der Heilung und ein mutiger Schritt bei der Befragung der eigenen Biografie. Für andere ist es ein befreiender Akt der Selbstermächtigung über das erlittene Unrecht, ein Triumph gegenüber den dafür Verantwortlichen. Manche memorierten (mangels Stift und Papier) eigene Gedichte oder ganze Dialoge mit dem festen Vorsatz, später über die Hafterlebnisse schreiben zu wollen.
Auch das übrige Heft beschäftigt sich verstärkt mit der Bedeutung von Büchern. Mit einem ausführlichen Beitrag wird der Vor- und Ablauf der nationalsozialistischen Bücherverbrennung am 26. August 1933 in Jena dargestellt. Auf dem Jenaer Marktplatz brannten vor 90 Jahren die Werke unerwünschter Autorinnen und Autoren – zwischen Bier, Blasmusik und Bratwurst. Vor 50 Jahren wurden „Die neuen Leiden des jungen W.“ zu einem deutsch-deutschen Buchereignis, weil das zum Roman umgearbeitete Theaterstück von Ulrich Plenzdorf 1973 sowohl in einem ost- (Hinstorff) als auch in einem westdeutschen Verlag (Suhrkamp) erschien. Über die Entstehung der „edition H“ berichtet ihr Herausgeber Manfred May, der den von Heimerziehung in der DDR Betroffenen durch veröffentlichte Selbstzeugnissen eine Stimme verleiht, jüngst durch drei neue Bände der „Weißen Reihe“. Rezensionen zu neuen Publikationen zum 17. Juni 1953, zur Autobiografie „Wir wünschten uns Flügel“ des Journalisten Harald Stutte sowie zum angeblich neuen Blick auf die DDR-Geschichte namens „Diesseits der Mauer“ von Katja Hoyer ergänzen die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“.
TITELTHEMA HAFT-LITERATUR
03 Julia Landau – Geheime Nachrichten Kassiber aus dem Speziallager Buchenwald 08 Hans-Jürgen Kühn – Linderlöh Als wäre der erste Tag in der Zelle gestern gewesen 12 „Davon schweigen? Alles ruhen lassen, wo es doch zum Himmel stinkt?“ Ein Gespräch mit Stefan Wachtel zur erweiterten Neuausgabe des Gefängnistagebuchs „Delikt 220“ 14 Hartlieb Romeick – Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom Ein Haftbericht 21 Peter Picciani – Deckname „Sänger“ Jena 1983 26 Michael Verleih – Bei der deutschen demokratischen Zwangsarbeit Reminiszenz an das Zuchthaus Brandenburg 31 Dietrich Schneider – Die kleine DDR Haft in Stralsund 38 Krzysztof Okoński – Das Urteil als ehrenvolle Auszeichnung Kazimierz Moczarskis „Gespräche mit dem Henker“ und Adam Michniks „Briefe aus Białołęka“ als Beispiele für die Gefängnisliteratur im kommunistischen Polen 42 Lena Frewer/Michael Weise – Für die Freiheit des Wortes Die Arbeit des Vereins Gefangenes Wort
ZEITGESCHICHTE
47 Dietmar Ebert – Zwischen Bier, Blasmusik und Bratwurst Die Bücherverbrennung in Jena am 26. August 1933 55 Kerstin Hohner – „Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen“ Vor 50 Jahren erschien das Kultbuch „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
60 Manfred May – Die „edition H“ Heimerziehung in der DDR in Selbstzeugnissen
REZENSIONEN
65 Daniel Börner – Neues zum 17. Juni Akzente und Perspektiven zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes 68 Sebastian Hollstein – Keine Heldengeschichte Ein Journalist erzählt von seiner Jugend in der DDR, die mit der Flucht in den Westen endete 70 Marie Sophie Brühl – Jenseits von Gut und Böse Wer braucht solche Ost-Bestseller?