Wer gilt wann als Opfer? Und: wer entscheidet eigentlich darüber?
Die neue Ausgabe der Zeitschrift „Gerbergasse 18“ thematisiert die Schicksale und den Alltag vergessener Opfer(gruppen). Die Beiträge des Heftes erstrecken sich dabei auf beide deutsche Diktaturen im 20. Jahrhundert und reichen bis in unsere Gegenwart.
Gerade in der Frage, wer als Opfer staatlich anerkannt und in welchem Umfang entschädigt wird, prallen die Befunde der Forschung auf die Erfahrungen der Betroffenen. Am Beispiel des Ende 2018 ausgelaufenden „Fonds Heimerziehung“ wurde deutlich, dass die als Entschädigung deklarierten Sachersatzleistungen das erfahrene Leid kaum lindern, sondern oft erneut stigmatisieren. Die langjährigen Verfahren in Behörden und vor Gerichten erzeugen nicht selten eine zweite Leidensgeschichte, weil die Beweislast nur bei den Antragstellern liegt. Doch der Kampf mit Antragsfristen und Rehabilitierungsverfahren ist auch heute noch, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, für viele Menschen Realität – nicht wenige haben inzwischen aufgegeben. Für Betroffene geht es um weit mehr als „nur“ um materielle Aspekte: Sie wollen sich nicht ein Leben lang in die Rolle des Opfers drängen lassen, sie möchten selbstbestimmt und Handelnde ihrer Biografie sein.
Am Beispiel des Durchgangsheims Schmiedefeld bei Neuhaus stellt der als Künstler und Kurator tätige Manfred May seine Forschungen zur Heimerziehung in der DDR vor. Parallel erscheint die von ihm herausgegebene Buchreihe „edition H“, die Selbstzeugnisse ehemaliger Heimkinder sammelt: nüchtern, eigen, unpathetisch, verstörend. Die sozialen Benachteiliungen und erheblichen Spätfolgen bei vielen Betroffenen zeigen, dass die zerstörten Biografien nicht mehr repariert werden können. Einige Überlebende finden durch künstlerische Mittel einen Weg der Verarbeitung, wie May erläutert.
Weitere Beiträge des Heftschwerpunkts belechten die politische Verfolgung der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen, die zweifache Enteignung eines jüdischen Hotelbesitzers in Binz auf Rügen, den Kampf mosambikanischer Vertragsarbeiter („Madgermanes“) um einbehaltene Lohnanteile, die Suche nach in Speziallagern und Gefängnissen nach 1945 geborener Kinder sowie die behördliche Ausweisung von als „asozial“ stigmatisierten Personen aus dem Wismutgebieten Anfang der 1950er Jahre.
TITELTHEMA: VERGESSENE OPFER
S. 03 Alexander Latotzky – Geboren hinter Stacheldraht Auf der Suche nach vergessenen Kindern
S. 07 Susanna Misgajski – Adalbert Bela Kaba-Klein Ein jüdisches Schicksal im 20. Jahrhundert
S. 13 Falk Bersch – Von „Opfern des Faschismus“ zur „faschistischen Organisation“ Zur Verfolgung der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen in der DDR
S. 19 Manfred May – „kontrolliert, geduscht, delitexbehandelt, eingekleidet, belehrt, isoliert“ Das Durchgangsheim Schmiedefeld als weißer Fleck in der Erinnerungslandschaft Thüringens
S. 24 Anke Geier – „alle unliebsamen Elemente aus diesen Brennpunkten des Aufbaus entfernen“ Die Ausweisung von „Asozialen“ aus den Wismut-Gebieten in Thüringen 1952
S. 30 Hans-Joachim Döring – Bittere Solidarität, fehlende Anerkennung, offene Rechnungen Vertragsarbeiter und Aufarbeitung 3.0
ZEITGESCHICHTE
S. 35 Rüdiger Stutz – Protektion eines Hochverräters Hitlers Vortragskampagne vom Herbst 1925 in Thüringen
S. 42 Doris Liebermann – Verbotene Lieder in Bad Köstritz Über ein Konzert mit Gerulf Pannach, Bettina Wegner und Jürgen Fuchs im Februar 1975
S. 47 Elise Catrain – Stasi in Thüringen Die DDR-Geheimpolizei in den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
S. 52 „Ich bin ein großer Fürsprecher der dezentralen Aufarbeitung.“ Ein Gespräch mit Dr. Peter Wurschi, Landesbeauftragter des Freistaats Thüringen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
S. 54 Bertram Triebel – Die Thüringer CDU in der SBZ/DDR Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt
REZENSIONEN
S. 60 Alexander Lorenz – Von sozialistischen Helden und skrupellosen Häschern Ein Sammelband analysiert erstmals umfassend die filmische Darstellung des MfS
S. 63 Daniel Börner – Vom Opfertod zur Opferkultur Wie aus dem Zählen der Verluste das Erzählen der Überlebenden wurde