Die Rückschau auf die Ereignisse des Herbstes 1989 ist weiterhin geprägt von heftigen Kontroversen und emotionalen Diskussionen. Neben der eher aufgewärmt wirkenden Debatte um den Begriff „Unrechtsstaat“, wird derzeit viel gestritten: über das Erbe der Friedlichen Revolution und wem die Verdienste daran gebühren, über Geschichte als Instrument im Wahlkampf, über die Notwendigkeit einer Ost-Quote, über die Zukunft der Stasi-Akten, über den Stand der inneren Einheit, über alte Klischees und neue Vorurteile oder ob der letzte SED-Vorsitzende ein passender Festredner am 9. Oktober in Leipzig war.
Auf der anderen Seite bilden die 30 Jahre Abstand eine sichtbare Schwelle: Eine neue Generation – auch von jungen Historikerinnen und Historiker – tritt an und die Zeitzeugen werden anders wahrgenommen, gewisse Archivbestände werden zugänglich oder öffnen sich durch entfallene Sperrfristen, die Bewertung der Epochenzäsur des Jahres 1989 wird erneut vermessen. Dieser komplexe Vorgang wird nicht zuletzt an der Heftigkeit der Debattenbeiträge, der Vielzahl neuer Bücher und Dokumentationen oder der politischen Orientierungssuche nach drei Landtagswahlen in den „neuen Bundesländern“ deutlich.
Geht es dabei nur um das symbolische Erringen der Deutungshoheit oder können wir froh sein über die Vielzahl an Streitobjekten? Schließlich ist die Auseinandersetzung über historische Schlüsselereignisse vor allem Ausdruck und Merkmal einer pluralen Erinnerungs- und Geschichtskultur, nicht ihr Mangel oder eine Krisenerscheinung. Einen Raum für Diskussionen, Austausch und kontroverse Positionen zu schaffen, ist seit Anbeginn das Ziel der Zeitschrift „Gerbergasse 18“. Im vorliegenden Heft reagiert etwa Wolfgang Schuller in einer Replik auf die häufig geäußerte Forderung, die DDR müsse „neu erzählt“ werden. Der Historiker begrüßt ausdrücklich neue Forschungsansätze, warnt aber vor der Tendenz, vor lauter Differenzierung und Grautönen analytische Kategorien und Begriffe zu verwischen.
In weiteren Heftbeiträgen geht es um die brisante Situation des Urlauberschiffs „Völkerfreundschaft“ während der Kuba-Krise 1962, das Stalin-Trauma der frühen DDR sowie den Olof-Palme-Marsch 1987 in Weimar. In einer Rezension wird das interessante Büchlein von Erdmuthe Antrack besprochen, die 1989 als Studentin hunderte Transparentsprüche der Friedlichen Revolution in Leipzig, Jena und Kahla notierte, die nun gesammelt unter dem Titel „Die Sprache des Volkes“ herauskamen.
S. 03 Nachruf – Kathrin Zimmer (1964–2019)
TITELTHEMA 30 Jahre Friedliche Revolution
S. 04 Klaus-M. von Keussler – „Überall erschienen Ost- und Westberliner in hellen Scharen und rissen sie nieder.“ Der Journalist James Preston O’Donnell sagte das Ende der Berliner Mauer voraus
S. 06 Frank Reuter – Mitten in der Geschichte Als Mitarbeiter der Ständigen Vertretung im Jahr 1989
S. 14 Udo Scheer – Die Revolution 1989 in Plauen Bürgermut und die Verweigerungshaltung innerhalb der Kampfgruppen
S. 20 „Es war eine hoch gereizte Stimmung.“ Ein Gespräch mit dem Theologen Eckardt Hoffmann über die Friedliche Revolution in Gotha
S. 22 Ruth Reiher – Zwei Tage im Leben Meine Erinnerungen an den 13. August 1961 und den 9. November 1989
S. 27 Aribert Rothe – Welche Farbe hat die Welt am 9. November? Ein Tag zwischen Pogromnacht und Mauerfall
S. 28 Anke Geier – Das „Wunder der Gewaltlosigkeit“ Die Friedliche Revolution in Suhl
S. 35 Axel Doßmann – „Wir sind das Volk!“ Wer verteidigt heute das emanzipative Wir?
S. 38 Martin Stellmacher – Vom SED-Mitglied zum Systemkritiker. Rolf Henrich und „Der vormundschaftliche Staat“
ZEITGESCHICHTE
S. 43 Andreas Petersen – Die „Moskauer“ Wie das Stalintrauma die DDR prägte
S. 45 Wolfgang Klietz – Durch die Blockade Das Urlauberschiff „Völkerfreundschaft“ in der Kuba-Krise
S. 52 Axel Stefek – Funktionärswechsel, Städtepartnerschaft, Friedensmarsch Weimar 1987, zwei Jahre vor dem Beginn der Herbstrevolution
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
S. 59 Wolfgang Schuller – Offene Türen und Nebeneingänge Neue und alte Fragen der DDR-Forschung
REZENSIONEN
S. 62 Tom Fleischhauer – DDR-Geschichte im Kinderzimmer? Das Erzählbilderbuch „Hübendrüben“ überzeugt
S. 64 Steffen Große – „Wir wollen keine Gewalt – wir wollen Veränderung“- Eine Sammlung zur Sprache der Friedlichen Revolution verblüfft
S. 66 Jenny Linek – Der eingeschränkte Sozialstaat Carolin Wiethoffs Studie zur sozialen Sicherung bei Invalidität und Rehabilitation in der DDR