Editorial
Wir alle sind, jeder einzelne also ist aufgefordert, von tradierten Vorstellungen und Denkgewohnheiten Abschied zu nehmen, wenn das Projekt einer erneuerten Schulpolitik und Bildungsstrategie gelingen soll. – In diesem Sinne jedenfalls interpretiert Bernd Zymek den aufrüttelnden Gestus der Programmschrift „Bildung neu denken“, die im Auftrage der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft verfaßt wurde. Diese Schrift, die eine volkspädagogische Offensive für das Idealbild des „unternehmerischen Menschen“ anstrebt, bestimmt Bildung als „wichtigsten Rohstoff der Wirtschaft“. Wiewohl Interventionen des Staates weitgehend begrenzt werden sollen, stehen am Ende des Forderungskatalogs mehr staatliche Eingriffe, als ehedem praktiziert wurden. – Zu erwarten ist, daß die Diskurslinie einer deutlichen Ökonomisierung der Bildung, gebunden an die ausgreifende Option, Sozialpolitik weitgehend durch Bildungspolitik zu ersetzen, künftig noch stärker von sich reden machen wird.
Der neue Mainstream instrumenteller Verengung des Bildungsbegriffs bei weitgehender Herabsetzung kultureller und emanzipatorischer Komponenten mag auch eine Erklärung bieten, weshalb das eigentlich relevante Skandalon im öffentlichen Diskurs nur marginal wahrgenommen wurde: Wie die PISA-Studien zeigen, ist in fast keinem anderen Land die Chancenungleichheit so stark ausgeprägt wie an deutschen Schulen mit ihrem „alten Zopf“, dem dreigliedrigen Schulsystem, das bislang von keiner Fraktion der politischen Klasse ernsthaft in Frage gestellt wurde. – Milieutheoretisch fundiert und in zeitgeschichtlicher Perspektive befaßt sich Michael Vester mit Paradoxien sozialer Bildungsbeteiligung in Deutschland und den distinkten Kämpfen sozialer Milieus um Deutungsmacht und Hegemonie.
Deutsche Schulen als „Brennpunkte“ sozialen Wandels haben in den vergangenen Jahren auch durch eine Reihe spektakulärer Gewaltakte öffentliches Aufsehen erregt. – Einen materialreichen, systematisierten Überblick über Forschungen zu Formen und sozialen Hintergründen der Gewalt an Schulen im vergangenen Jahrzehnt vermittelt der Beitrag von Ulrike Popp.
Vor besonderen Herausforderungen stehen Schulen in strukturschwachen Räumen und Regionen mit schrumpfender Bevölkerung und sinkenden Einnahmen der Kommunen. Möglichkeiten und „Grenzen“ regionaler Schulentwicklung diskutiert Jörg Nicht am Beispiel innovativer Schulprojekte in einer sächsischen Grenzregion. Als schulrechtliches und schulorganisatorisches Hindernis erweist sich dabei noch immer die nationale Grenze.
Mit dem Beitrag von Adalbert Evers schließt sich der Kreis: Im Rahmen eines zukunftsorientierten Schulkonzepts erfährt das unternehmerische Handlungsparadigma eine überraschende Wendung: Die Profilierung öffentlicher Schulen als „soziale Unternehmen“ bezieht sich auf die Vermittlung von Chancengleichheit und Vielfalt schulischer wie außerschulischer Lehr- und Lernangebote; auf mehr Selbständigkeit und Autonomie sowie die lebendige Öffnung von Schulen, insbesondere zu wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren des lokalen Umfeldes.
Rudolf Woderich
Deutschlands Schule
– Zusammengestellt von Rudolf Woderich und Thomas Müller –
Editorial 2
Bernd Zymek Was bedeutet „Ökonomisierung der Bildung“? Analyse des Gutachtens der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft „Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt“ 3
Michael Vester Die geteilte Bildungsexpansion. Ständische Kanalisierung der Bildungschancen in der BRD 14
Ulrike Popp Wächst die Gewalt an Schulen? Außerschulische und innerschulische Risikofaktoren 29
Jörg Nicht Schulentwicklung an der Grenze. Regionale Anpassungsprobleme im sächsischen Schulsystem 41
Adalbert Evers Schule als soziales Unternehmen 53
Hartwig Schmidt Der Nichtnazi. Über Alain de Benoist und das Manifest der Nouvelle Droite 66
Klaus Schlichte Gibt es überhaupt „Staatszerfall“? Anmerkungen zu einer ausufernden Debatte 74
Roland Benedikter Drache gegen Sonne. China, Japan und der pazifische Raum 85
Nicole Dörr Sprache ist nicht das Problem. Die Sozialforen als Testfall für eine zukünftige europäische Öffentlichkeit 93
Rezensionen und Besprechungen
Birgit Schwelling (Hg.): Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft Rezensiert von Thilo Raufer 106
Manfred Hettling, Bernd Ulrich (Hg.): Bürgertum nach 1945 Rezensiert von Peter Fischer 109