Editorial
Parteien und Gewerkschaften bilden die vermutlich bedeutendsten Großorganisationen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Ihre jeweilige Unabhängigkeit voneinander und gleichzeitige Kooperationsbereitschaft miteinander schuf eine flexible neokorporatistische Ordnung. Gewerkschaften haben zwar direkt personelle Einflüsse gesichert, wie beispielsweise auf die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit oder einen Teil der Sozialversicherungen. Diese Privilegien waren allerdings dem Primat staatlichen Handelns und damit des Handelns der Parteien und den von ihnen gestellten Regierungen untergeordnet. Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein sehr enges Kooperationsnetzwerk zwischen den Gewerkschaften und den Parteien, speziell den großen Volksparteien. Obwohl eine makropolitische Steuerung des Kapitalismus darüber hinaus faktisch nicht stattfand, schuf dieses Arrangement Steuerungsmöglichkeiten in Teilbereichen der politischen Ökonomie.
Der Schulterschluß der Parteien und Gewerkschaften hatte weit zurückreichende historische Wurzeln. Seit dem Mannheimer Abkommen zwischen Sozialdemokraten und Freien Gewerkschaften 1906 galt die Annahme, daß man prinzipiell die gleichen Interessen verfolge. Dabei sei man aber darauf angewiesen, daß die tariflichen und staatlichen Akteure unabhängig voneinander ihre spezifischen Stärken zum Wohle der Arbeitnehmerschaft einsetzen. Gewerkschaften konnten somit im Rahmen ihrer Tarifpolitik pragmatisch Arbeits- und Sozialstandards entwickeln. Sozialdemokraten und christliche Arbeitnehmerschaft versuchten durch Rahmengesetzgebung diese Politik gesetzlich abzusichern und abzustützen. Die Gewerkschaften konnten es sich leisten, die allgemeine Politik der Sozial- wie der Christdemokraten immer wieder fundamental anzugreifen, während diese umgekehrt Kritik an der Tarifpolitik üben konnten. Jede Seite akzeptierte dabei die jeweilige funktionale Rolle im bundesdeutschen Regierungssystem.
Seit einigen Jahren lösen sich die gemeinsamen Interessen, Identitäten und Ressourcen von Gewerkschaften und Parteien auf. Die Gewerkschaften nehmen ihre Rolle als neokorporatistischer Bündnispartner zunehmend weniger wahr. Statt dessen treten die Gewerkschaften einerseits als „normale“ Interessengruppe auf und versuchen andererseits zugleich ihre Rolle als soziale Bewegung zu revitalisieren. Die gegenseitige Rücksichtnahme von Gewerkschaften und Parteien wird von nahezu allen Beteiligten für nicht mehr selbstverständlich gehalten, von einigen Akteuren beider Gruppen sogar als verzichtbar eingestuft.
Obwohl die Gewerkschaften selbst klare Positionen gegen die Politik von bisheriger Regierung und Opposition bezogen haben, resultierte hieraus keine neue Stärke. Vielmehr wenden sich die Einschnitte in zentrale Bestandteile der bundesdeutschen Sozialordnung in letzter Konsequenz auch gegen die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften selbst. Anders sind die exemplarisch zu nennenden Veränderungen beim Ladenschluß, die Androhung der Aushöhlung der Tarifautonomie und die Infragestellung der Parität bei den Sozialversicherungen nicht zu beurteilen.
Während der institutionelle Rahmen des gewerkschaftlichen Handelns unter Beschuß gerät, droht der SPD das Risiko der politischen Zweitrangigkeit, wie die Landtagswahlen in Bayern, im Saarland, in Thüringen, Sachsen und Nordrhein-Westfalen zeigen. Dabei tritt das seit den 1980er Jahren viel diskutierte strategische Dilemma von Parteien und Gewerkschaften wieder zutage: Wenn die Großorganisationen in alten Handlungsmustern verharren, verpassen sie die Chance, neue Mitglieder zu gewinnen. Wenn sie beginnen, die „neuen Zeiten“ zu gestalten, geraten sie in Gefahr, ihre Kernanhängerschaft zu verlieren. In der Zwischenzeit sinkt die Mitgliederzahl langsam, aber kontinuierlich.
In diesem Heft wird der Versuch unternommen, den heutigen Stand des Verhältnisses zwischen Parteien und Gewerkschaften in seiner Vielseitigkeit zu ergründen und historisch sowie international zu vergleichen. Als Einführung in die Thematik dient Wolfgang Schroeders Rückblick auf fünf Phasen der Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften. Die Periodisierung ergibt sich aus der Regierungsbeteiligung der SPD und aus den jeweils unterschiedlichen Kontexten des sozialstaatlichen Auf- bzw. Abbaus. Die These vom bevorstehenden Bruch zwischen beiden Organisationen läßt sich nach Schroeders Ansicht nicht bestätigen. Für beide gibt es keine strategische Alternative zur Zusammenarbeit. Allerdings werden die alten Kooperationsformen gefährdet und die Realisierung neuer Kooperationsformen durch das Auseinanderscheren der jeweiligen sozialen Basisorganisationen erschwert. Ob Zusammenarbeit künftig gelingt, hängt mehr als je zuvor davon ab, ob die Spitzenmanager der Organisationen „miteinander können“.
Der latente und mittlerweile akute Konflikt zwischen SPD und Gewerkschaften hängt wesentlich von deren gemeinsamen Kommunikationsmustern und -räumen ab. Diese Kommunikation, schreibt Hans-Jürgen Arlt, fand traditionell als „Selbstgespräch“ statt. Durch überlappende Mitgliedschaften und ähnliche, gar identische politische Erfahrungen und Weltbilder bei der großen Masse der Mitglieder beider Organisationen gab es eine entsprechend breite Basis an gemeinsamen Symbolen und Deutungsmustern. Die Sinnbilder des antikapitalistischen Protests verbanden die Organisationen und motivierten zum kollektiven Handeln. Mit der Agenda 2010 wird ein ganz neues Sinnbild hervorgerufen: das Bild der alternativlosen Anpassung an einen neuen globalisierten Wirtschaftskontext, wo Arbeitsplätze, nicht Arbeitnehmer geschützt werden sollen. Damit wurde eine Tendenz gestärkt, die mindestens seit Helmut Schmidts angekündigter Sparpolitik der frühen 1980er Jahre begann – daß für die Gewerkschaften die SPD zu einer Partei wie alle anderen wird. Die SPD ist ein Dienstleister und nichts mehr. Jetzt gilt es, Nutzen zu maximieren, nicht Partnerschaft zu honorieren.
Ein zentrales Problem von Parteien und Gewerkschaften ist der Mitgliederschwund. Die Zahl der Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften ging von 9,8 Mio. im Jahr 1994 auf 7,0 Mio. im Jahr 2004 zurück, ein Rückgang von ca. 30%. Im selben Zeitraum haben CDU und SPD mit 335.500 Mitgliedern ebenfalls ca. 20% ihrer Mitgliedschaft verloren. Trotz dieses Schwunds warnt Martin Behrens in einer vergleichenden Perspektive vor schnellen Rückschlüssen auf die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften. So gibt es innerhalb Europas starke Unterschiede in der politischen Verflechtung, der Strategiefähigkeit und im institutionell abgesicherten Einfluß auf allgemeingültige Arbeitsbedingungen. Behrens’ internationaler Blick ist eine wichtige Korrektur zum deutschen Pessimismus hinsichtlich der Bedeutung von Gewerkschaften in post-industriellen Demokratien. Zugleich zeigt Behrens, daß auch die Rekrutierungspraxis der Gewerkschaften in Deutschland sich ändern könnte, und verweist in diesem Zusammenhang auf die US-amerikanischen Gewerkschaften.
Beim Problem der Rekrutierung setzt das Forschungsteam um Klaus Boehnke an. Ihr Aufsatz beschäftigt sich mit den Faktoren politische Bildung, gesellschaftlicher Strukturwandel und Entwicklungspsychologie und zeigt, wie sich diese auf die Bereitschaft von Jugendlichen auswirken, sich in einer Großorganisation zu engagieren. Obwohl es keinen Jugendtrend der aktiven Abneigung gegen linke Parteien oder Gewerkschaften gibt, wirken sich die Dynamiken der „Postmoderne“ insgesamt sehr unvorteilhaft für gesellschaftliche Großorganisationen aus und machen sie für junge Leute zunehmend irrelevant.
Die symbolisch wertvolle Rolle der antikapitalistischen Avantgarde haben Gewerkschaften nicht mehr inne: Diese Rolle wurde ihnen von der Anti-Globalisierungsbewegung genommen. Allerdings ist ein Großteil der europäischen Globalisierungsgegner sogar gewerkschaftlich organisiert. Donatella della Porta dokumentiert die Tätigkeit und die Einstellungen von gewerkschaftlich organisierten Aktivisten beim Europäischen Sozialforum in Florenz. Es geht ihr auch um die Frage, ob Gewerkschafter in den Anti-Globalisierungsbewegungen mehrheitlich gegen die europäische Integration sind, die ja immer unter der Fahne des Marktliberalismus vorangetrieben worden ist. In der Tat und trotz des Verlangens nach effektiven Governance-Strukturen auf europäischer Ebene herrscht bei Gewerkschaftern ein Vertrauensdefizit gegenüber der EU. Während die EU für Anhänger von ökologischen Bewegungen ein willkommener Regulator ökologischer Sünden ist, stellt sie für viele Gewerkschafter vielmehr einen unwillkommenen Agenten der Globalisierung dar.
Die internationale Diskussion um das Auseinanderdriften von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ignoriert weitestgehend regionale Ökonomien und die darin praktizierte Verflechtung von Betrieben, Betriebsräten, Gewerkschaftsführern und Parteipolitikern. In Industrieregionen wie etwa Baden-Württemberg, wo die wirtschaftliche Prosperität anhält, wird eine starke Kontinuität der alten westdeutschen tripartistischen Gepflogenheiten erwartet, in den Gebieten der ostdeutschen Transformationswirtschaft eine weitgehende Abweichung von diesen Normen. Dies fordert unterschiedliche Handlungslogiken für Gewerkschaften. Um einen Einblick in die verschiedenen regionalen Ökonomien in Deutschland nach der Wende zu gewinnen, haben wir mit Sieghard Bender gesprochen. Bender war von 1990 bis 2005 erster Bevollmächtigter der IG Metall in Chemnitz und ist in derselben Funktion jetzt wieder in seine alte Heimat im schwäbischen Esslingen zurückgekehrt.
Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei? Quintessenz der Beiträge ist die Feststellung, daß eine gegenseitige Abhängigkeit wohl noch lange Zeit bestehen wird. Aber das Verhältnis der Organisationen zueinander befindet sich mitten in einem Transformationsprozeß mit noch offenem Ende. Parteien wie Gewerkschaften brauchen einander nach wie vor, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen. Die Bindung der beiden Akteure hat aber an Selbstverständlichkeit und kulturellem Halt verloren. Kooperationen werden hergestellt, aber sie haben weniger etwas Urwüchsiges oder Organisches als vielmehr etwas Formalisiertes, Bürokratisches, Technokratisches. Man kooperiert, weil man es irgendwie noch muß, nicht mehr, weil man mit Leidenschaft die Gemeinsamkeit der Sache vertritt. Die Anführer beider Organisationen sind gleichsam Gegenspieler in einem Spiel geworden, das sich durch eine vorher unbekannte Vielfalt an Handlungsoptionen auszeichnet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Gemeinsamkeitsgefühl und common purpose durch Querdenker und Charismatiker wieder geschaffen werden können. Bleibt aber die Entwicklung einer neuen gemeinsamen Kultur aus, werden die Formen des Konflikts und der Kooperation sich auf vielen unterschiedlichen Ebenen weiter ausdifferenzieren – von der Gemeinschaftsebene in Brüssel bis hin zu jedem kleinen Handwerksbetrieb in der deutschen Provinz.
Scott Gissendanner Stephan Klecha
Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei? – Zusammengestellt von Scott Gissendanner und Stephan Klecha –
Editorial 2
Heribert Prantl Kritischer Journalismus. Laudatio zur Verleihung des Otto Brenner Preises „Gründliche Recherchen statt bestellter Wahrheiten“ 5
OSTDEUTSCHLAND
Ulrich Busch Preise und Einkommen in Ostdeutschland 73
Axel Philipps „Weg mit Hartz IV!“ Die Montagsdemonstrationen in Leipzig zwischen 30. August und 4. Oktober 2004 93
REZENSIONEN UND BESPRECHUNGEN
Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten Rezensiert von Guido O. Kirner 105
Julia Inthorn u.a. (Hg.): Zivilgesellschaft auf dem Prüfstand. Argumente – Modelle – Anwendungsfelder Rezensiert von Grischa Schwiegk 109
SCHWERPUNKT Partei braucht Gewerkschaft braucht Partei?
Wolfgang Schroeder Sozialdemokratie und Gewerkschaften 12
Hans-Jürgen Arlt Dissens als Desaster. Zur Kommunikation zwischen SPD und Gewerkschaften 22
Martin Behrens Mitgliederrekrutierung und institutionelle Grundlagen der Gewerkschaften 30
Klaus Boehnke, Dirk Baier, Daniel Fuß, Mandy Boehnke „Wir sind die junge Garde ...“ 38
Interview mit Sieghard Bender „Kein Wiedervereinigungsgeschwafel“ 46
Donatella della Porta Gewerkschaften als Teil der globalisierungskritischen Bewegung und die Europäisierung politischen Handelns 53