Berliner Debatte Initial 21 (2010), 3

Titel der Ausgabe 
Berliner Debatte Initial 21 (2010), 3
Weiterer Titel 
Autokratie heute

Erschienen
Berlin 2010: Selbstverlag
Erscheint 
4 Ausgaben jährlich
ISBN
9783936382693
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
15 €

 

Kontakt

Institution
Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal
Land
Deutschland
Ort
Berlin
c/o
Berliner Debatte Initial, PF 580254, 10412 Berlin, Tel.: (+49-331) 977 4540, Fax: (+49-331) 977 4696, E-Mail: redaktion@berlinerdebatte.de; Redaktion: Ulrich Busch, Erhard Crome, Wolf-Dietrich Junghanns, Thomas Möbius, Thomas Müller (verantwortlicher Redakteur), Johannes Peisker, Gregor Ritschel, Matthias Weinhold, Johanna Wischner.
Von
Müller, Thomas

Mitte der 1990er Jahre lief Huntingtons „Dritte Welle der Demokratisierung“ beinahe ungehört aus. Zweifellos veränderte sie die politische Weltkarte. Zu Fukuyamas „Ende der Geschichte“ führte sie indessen nicht. Ungerührt von Gischt und Brandung trotzen einige autokratische Regime den demokratischen Gezeiten. Sie erzwangen nach einem Jahrzehnt intensiver Analyse und Diskussion von Demokratisierungsprozessen eine umfassende Revitalisierung der Autokratieforschung. Unter dem Titel „Autokratie Heute“ geben die Beiträge zum Schwerpunkt dieses Heftes Auskunft über Erkenntnisstand und die laufende Debatte. Wir fragen nach dem Wesen autokratischen Regierens gestern und heute, aber auch nach den Herausforderungen, denen sich autokratische Regierungen im 21. Jahrhundert gegenüber sehen.

Den Auftakt gibt die deutsche Erstübersetzung des epochemachenden Artikels von Barbara Geddes aus dem Jahr 1999. „Was wissen wir nach zwanzig Jahren über Demokratisierung?“, fragte Geddes damals. Ihre Antwort wurde zum Referenzpunkt für die gesamte jüngere Autokratieforschung. Angesichts des Scheiterns aller Generalisierungsversuche, entweder alle empirische Varianz von Demokratisierungsprozessen zu erfassen oder sie zu erklären, lenkte Geddes den Blick auf die typologische Vielfalt autokratischer Herrschaft. Zeitgleich entzündeten Spekulationen über einen autokratischen Sog, der die Rede von einer Demokratisierungswelle erst rechtfertige, eine Debatte über die mögliche Rückkehr der Autokratien. Wolfgang Merkel stellt in seinem Aufsatz diese Vermutung auf den Prüfstand und kommt zu dem Fazit, dass jene Unkenrufe transitionstheoretischen Konjunkturzyklen, nicht aber belastbaren empirischen Belegen für eine Rückkehr der Diktatur geschuldet sind. Johannes Gerschewski präsentiert einen Überblick über die jüngere Entwicklung der Autokratieforschung. Neben Gegenstandsbestimmung und konzeptionellen Erwägungen stellt er in seinem Literaturbericht vor allem die möglichen Erklärungen der Stabilität autokratischer Regime in den Vordergrund. Alexander Schmotz nimmt hingegen die jüngere Debatte um Entstehung, Wesen und Wandel autokratisch-demokratischer Mischtypen in Augenschein, denn eine angemessene konzeptionelle Erfassung jener hybriden Regime steht bislang aus.

Die weiteren Schwerpunktbeiträge beleuchten verschiedene spezielle Aspekte der Thematik. Heike Holbig hinterfragt den Mythos des autokratischen „Erfolgsmodells China“. Als Produkt westlicher Publizistik werde dieser in China ambivalent rezipiert. Gelte der Mythos einerseits in der chinesischen Debatte als externe Legitimationsquelle des kommunistischen Einparteiregimes, besteht andererseits die Gefahr seiner Instrumentalisierung gegen den Geltungsanspruch des westlichen, Demokratie generierenden Modernisierungsmodells. Dessen Diskreditierung diskutiert Volker Perthes anhand der vermeintlichen Reformresistenz des arabischen Raumes. Obgleich dort ökonomische und soziale Reformdynamiken unübersehbar seien, versage der Westen bislang bei dem Spagat, jene Bewegungen in ihrer ureigensten Dynamik behutsam zu unterstützen und gleichzeitig seine strategischen Interessen zu wahren. Matthias Basedau widmet sich dem Zusammenhang von Ölreichtum und Autokratie. Betonen andere Studien den autokratieförderlichen und demokratieschädlichen Charakter jenes Reichtums, zeichnet seine Analyse ein differenzierteres Bild. Zwei Pfade seien zu unterscheiden, auf denen Ölrenten entweder politische Systeme generell, und mithin auch Autokratien, stabilisieren, oder der Konflikt um knappe Ressourcen die Stützen politischer Autorität in Demokratien wie Autokratien gleichermaßen untergräbt. Abschließend geht Christoph Stefes der Bedeutung politischer Parteien in Armenien, Georgien sowie Bosnien und Herzegowina nach. Entgegen der von Geddes implizierten Annahme, Parteien stabilisierten autokratische und semi-autokratische Kontexte durch Kooptation, macht er ein ganzes Netz formeller und informeller Kanäle aus, für deren Effektivität Parteien keinesfalls hinreichend und vielleicht nicht einmal notwendig sind.

Außerhalb des Schwerpunktes präsentieren wir drei Beiträge, die sich mit dem Zusammenhang von Architektur und Geschichtspolitik in der DDR bzw. in der Bundesrepublik nach 1989 auseinandersetzen. Geschichtspolitik bezeichnet Prozesse, in denen bestimmte Akteure Erfahrungen mit der Vergangenheit für gegenwärtige Debatten einsetzen. Es geht folglich darum zu untersuchen, wer mit welcher Absicht welche Vergangenheit/en thematisiert und diese zu einem relevanten Gegenstand politischer Auseinandersetzungen macht. Ein Aspekt, an dem sich dies anschaulich zeigt, sind die architektonischen und stadtplanerischen Veränderungen Berlins als Hauptstadt der DDR seit den 1950er Jahren bzw. des vereinten Deutschlands, die mit verschiedenen gesellschaftspolitischen Rahmen verknüpft sind. Die Beiträge konzentrieren sich im Besonderen auf Deutungen, die der öffentliche Raum Berlins durch parteipolitische und zivilgesellschaftliche Akteure erfahren hat. So betrachtet Dominik Scholz das Berliner Nikolaiviertel nicht nur als Feststätte der 750-Jahr-Feier Ost-Berlins, sondern als einen Ort, an dem Geschichte für politische Zwecke instrumentalisiert wurde. Tobias Glaser widmet sich dem neohistorischen Bauen in der DDR am Beispiel der Friedrichstraße, in deren Rekonstruktionsprozess sich Identitätsstiftung und Machtpolitik kreuzten. Sonja Thiels Ausführungen zur Debatte um den Berliner Schlossplatz geben schließlich Einblick in geschichtspolitische Prozesse des vereinten Deutschlands.

Des Weiteren dokumentieren wir einen Vortrag, in dem Norman Naimark im Dezember 2009 in der Berliner Vertretung des Suhrkamp Verlages sein in diesem Herbst erscheinendes Buch „Stalin und der Genozid“ vorgestellt hat. Naimark präsentiert hier Argumente für eine Ablösung der engen Bindung des Genozid-Begriffes an den Holocaust als den Genozid der Moderne und plädiert für seine Anwendung unter anderem auf die Massentötungen in der UdSSR in den 1930er Jahren. Auch die Tötung sozialer Klassen und politischer Gruppen durch Staaten, so sein Argument, müsse in die Definition von Genozid aufgenommen werden – eine These, zu der wir eine weitergehende Diskussion erwarten.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Editorial (S. 2-3)

SCHWERPUNKT: Autokratie heute - Autoritäre Regime nach der Dritten Demokratisierungswelle

Barbara Geddes: Was wissen wir nach zwanzig Jahren über Demokratisierung? (S. 4-27)

Wolfgang Merkel: Kehren die Diktaturen zurück? (S. 28-41)

Johannes Gerschewski: Zur Persistenz von Autokratien. Ein Literaturüberblick (S. 42-53)

Alexander Schmotz: Die Vermessung der Grauzone: Hybride Regime zwischen Demokratie und Diktatur (S. 54-66)

Heike Holbig: „Das Land hat einen Plan. Der Westen nicht.“ China als autokratisches Erfolgsmodell? (S. 67-77)

Volker Perthes: Demokratieresistenz im Vorderen Orient? (S. 78-87)

Matthias Basedau: Der „Fluch“ des Schwarzen Goldes. Ist Erdöl Demokratiebremse und Autokratiestabilisator? (S. 88-99)

Christoph H. Stefes: Autoritäre Parteien und Kooptation im Kaukasus und auf dem Balkan (S. 100-112)

NEBENSCHWERPUNKT: DDR-ARCHITEKTUR

Tobias Glaser: Neo-historisches Bauen in der DDR: Das Beispiel Friedrichstraße (S. 113-124)

Dominik Scholz: Architektur und Geschichtspolitik. Das Ost-Berliner Nikolaiviertel (S. 125-140)

Sonja Thiel: Architektur und Identität – Die Berliner Schlossplatzdebatte (S. 141-154)

ZWANZIG JAHRE DEUTSCHE EINHEIT: Eine Umfrage mit Reinhard Höppner, Wolfgang Herles, Christoph Links und Reinhard Jirgl (S. 155-161)

DOKUMENTATION

Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid (S. 162-170)

BESPRECHUNGEN UND REZENSIONEN

Henri Band: Die „Natur“ als Einzugsgebiet der Soziologie. Über Matthias Groß’ „Natur“ (S. 171-179)

Gerd Irrlitz: Rechtsordnung und Ethik der Solidarität. Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten. Rezensiert von Christine Weckwerth (S. 180-182)

Angela Rohr: Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen. Rezensiert von Wladislaw Hedeler (S. 183-184)

Heinrich Parthey, Günter Spur, Rüdiger Wink (Hg.): Wissenschaft und Innovation. Jahrbuch 2009. Rezensiert von Sven Trantow (S. 185-187)

Stephan Truninger: Die Amerikanisierung Amerikas. Thorstein Veblens amerikanische Weltgeschichte. Rezensiert von Oliver Römer (S. 188-192)

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