Die im thematischen Schwerpunkt dieses Heftes versammelten Beiträge verdeutlichen nicht nur die auffallende Diskrepanz zwischen der Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen auf der Ebene des gesellschaftlichen Alltags einerseits und der Intensität der politischen Konflikte und ihrer medialen Präsentation andererseits. Sie zeigen auch, dass einer „Normalisierung“ der Beziehungen auf dieser zweiten Ebene, etwa nach dem Muster des deutsch-französischen Verhältnisses, spezifische Barrieren entgegenstehen. Bei fast allen strategischen Fragen hinsichtlich der weiteren europäischen Integration und der wechselseitigen Erwartungen an die Rolle Polens bzw. Deutschlands für die Entwicklung der EU und ihrer Außenbeziehungen spielen die jeweiligen Vorstellungen davon, wie ein strategisch vernünftiges Verhältnis zu Russland zu gestalten wäre, immer wieder eine zentrale Rolle, worauf hier insbesondere Karol Sauerland und Bożena Chołuj aufmerksam machen.
Doch obwohl Polen und Deutschland als große und benachbarte EU-Mitgliedsländer „eigentlich“ konvergierende strategische Interessen gegenüber Russland haben müssten, scheinen einer gemeinsamen Interessendefinition die differenten historischen Erfahrungen und die unterschiedliche Bedeutung, die man ihnen jeweils zumisst, massiv im Wege zu stehen. Angesichts des von Albrecht Lempp diagnostizierten Umstands, dass Polen und Deutsche, wenn es um die Geschichte geht, „in getrennten Welten leben“, scheint sein Aufruf, das Thema Versöhnung „in Urlaub zu schicken“ und sich von der fruchtlosen Vorstellung zu verabschieden, man müsse sich erst auf ein gemeinsames Verständnis der Geschichte verständigen, bevor man zukunftsorientiert kooperieren könne, den einzig denkbaren Weg zur Überwindung der Blockaden politischer Kooperation aufzuzeigen. Auch wenn Unternehmer, Studierende, Arbeitsmigranten und Kulturschaffende, wie Ulrich Räther exemplarisch zeigt, Lempps Devise längst zu folgen scheinen, bleibt dennoch fraglich, ob dieser Weg auch in der Politik und im Mediendiskurs möglich ist. Denn in dieser Konstellation, worin die deutsch-polnischen Beziehungen ebenso wenig ohne Russland zu denken sind wie die deutsch-russischen Beziehungen ohne Polen, ist „Geschichte“ selbst in der Inszenierung und Austragung von Konflikten, die ursächlich nichts mit Geschichtspolitik zu tun haben, leicht zu mobilisieren und daher eine immer wiederkehrende „Versuchung“, wie die Beiträge von Tomasz Bączkowski, Jan C. Behrends und Katrin Steffen demonstrieren. Die Beobachtung, dass Intellektuelle, die sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigen, dies zumeist mit großem inneren Engagement tun, scheint ein Teil der hier thematisierten Problematik zu sein.
INHALTSVERZEICHNIS
Ulrich Räther: Das deutsch-polnische Jahr 2005/2006. Politischer Fehlschlag mit kulturellem Kollateralnutzen (S. 4-14)
Karol Sauerland: Aussöhnung mit Polen wie mit Frankreich? (S. 15-22)
Albrecht Lempp: Divergierende Dynamiken (S. 23-32)
Tomasz Bączkowski: „Diese widerwärtigen Päderasten…“ Grundrechte, sexuelle Minderheiten und deutsch-polnische Spannungen (S. 33-41)
Bożena Chołuj: Europa-Modelle in den deutsch-polnischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart (S. 42-52)
Jan C. Behrends: Geschichtspolitiken. Die Krise der deutsch-polnischen Verständigung in historischer Perspektive (S. 53-67)
Katrin Steffen: Differenzen im Gedächtnis. Die Debatte um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ revisited (S. 68-82)
Weitere Beiträge:
Dick Howard: Hannah Arendt und die „Probleme unserer Zeit“ (S. 83-94)
Rieke Schäfer: Die Metapher des Spiels im politischen Denken Ulrich Becks (S. 95-105)
Besprechungen und Rezensionen:
Magdalena Nowicka (Hg.): Von Polen nach Deutschland und zurück. Die Arbeitsmigration und ihre Herausforderungen für Europa. Rezensiert von Katharina Blumberg-Stankiewicz (S. 106-108)
Uwe Krähnke: Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee. Rezensiert von Rainer Totzke (S. 109-112)