Die Öffentlichkeit nimmt derzeit verwundert zur Kenntnis, daß viele deutsche Unternehmen trotz hoher Gewinne den Abbau von Arbeitsplätzen oder die Verlagerung von Produktionsbereichen ankündigen. In Reaktion darauf überbieten sich Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen sowie die Politik in ihren Appellen an das soziale Verantwortungsbewußtsein der Unternehmen. Die vermeintlich unmoralischen ökonomischen Praktiken von Hedge-Fonds und anderen Finanzinvestoren wurden gar mit einer Heuschreckenplage verglichen. Fraglich ist jedoch, ob die moralischen Aufrufe und Brandmarkungen irgendeine Änderung zu bewirken imstande sind, denn die Unternehmensführungen verweisen im Gegenzug auf ökonomische Sachnotwendigkeiten (z.B. Renditeziele), ungünstige Rahmenbedingungen (z.B. hohe inländische Lohnkosten) oder externen Druck (z.B. verschärften globalen Wettbewerb), die ihnen keinen Spielraum für ein anderes Verhalten ließen. Insbesondere in Aktiengesellschaften ist die Steigerung des Unternehmenswerts häufig zum maßgeblichen oder gar alleinigen Orientierungspunkt der Unternehmensführung geworden. Vielfach wird argumentiert, daß nur die Maximierung des Shareholder Value legitim und letztlich auch sozial sei, denn es gelte das Prinzip: „the business of business is business“ (Milton Friedman). Alles andere widerspreche der ökonomischen Rationalität. Von daher scheint es paradox zu sein, daß das Thema Corporate Social Responsibility (CSR) derzeit in vielen Unternehmen besonders hohe Priorität besitzt. Einige Unternehmen verpflichten sich beispielsweise freiwillig zur Einhaltung von Verhaltenskodizes zu Sozial- und Umweltstandards und ziehen sich dadurch nicht zuletzt auch den Unmut von Aktionärsvertretern zu. Als wichtiges Tätigkeitsfeld wurde CSR ebenfalls von Unternehmensberatungen entdeckt, die damit insbesondere Großunternehmen, aber in jüngster Zeit vermehrt auch mittelständische Unternehmen ansprechen. Die intensivierte Beschäftigung mit Fragen der sozialen Verantwortung von Unternehmen läßt sich gleichwohl auch als Reaktion auf veränderte Praktiken der Unternehmensführung deuten. Die Irritationen, die das Verhalten der Unternehmen in der Gesellschaft auslöst, sind ein Nachhall der ursprünglichen ethischen Ansprüche an unternehmerisches Handeln. Enttäuschte Erwartungen in der Gesellschaft führen zu Unsicherheit darüber, welche soziale Verantwortung die Unternehmen überhaupt zu tragen bereit sind. Die Unternehmen geben der Öffentlichkeit womöglich gerade deswegen verstärkt Auskunft darüber, wie sie sich zu Fragen der Nachhaltigkeit und der sozialen Verantwortung verhalten, weil sich ihre Unternehmensziele gewandelt haben. Und sie nutzen gleichzeitig die Gelegenheit, ihr eigenes Verständis von Corporate Social Responsibilty in die Debatte einzubringen. Der Schwerpunkt vereint Beiträge von Forscherinnen und Forschern aus den ursprünglich getrennt voneinander diskutierten Themenfeldern Corporate Social Responsibility einerseits und Corporate Governance andererseits, um diese Wechselbezüglichkeit zu verdeutlichen. In der Gesamtschau beleuchten die Autorinnen und Autoren des Schwerpunkts unterschiedliche Aspekte der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen im Kontext einer stärkeren Aktionärs- bzw. Finanzmarktorientierung. Letztere führt dabei keineswegs zu einem Ende der Verantwortungsübernahme von Unternehmen, jedoch zu ihrer Neupositionierung im Hinblick auf veränderte Legitimationsmöglichkeiten ökonomischer Akteure.
In einem zweiten Themenblock dokumentieren wir Ausschnitte aus einer Debatte, die seit 2006 in der Moskauer Zeitschrift Logos zu den Themen russische Nation und russischer Nationalismus geführt wird. Die Kontroverse beginnt bereits bei der Frage, worin eigentlich die entscheidenden Defizite einer Verständigung über Probleme der „verspäteten“ Nationbildung und bei der Formierung einer liberalen Position zum russischen Nationalismus bzw. den imperialen Ambitionen der russischen politischen Klasse bestehen.
Mit den weiteren Texten knüpfen wir an frühere Schwerpunkte unserer Zeitschrift an. Rozita Dimova und Serguei Oushakine führen das Thema „Erinnerungen an Gewalt“ (Heft 3/2007) mit zwei Aufsätzen weiter, die Erinnerungen an die Kriege in Ex-Jugoslawien und Afghanistan behandeln. Mit den Beiträgen „Zur Lage in Ostdeutschland“ setzen wir die Diskussion zu dem in Heft 5/2006 veröffentlichten Bericht des Netzwerks Ostdeutschlandforschung fort. Irene Dölling und Susanne Völker kritisieren eine Reihe methodischer Prämissen dieses Berichts; der Aufsatz von Ulrich Busch und Karl Mai ergänzt die Befunde des Berichts, indem er zu einer zentralen Frage, den Ursachen der zurückbleibenden Arbeitsproduktivität, neue Daten und Argumente beisteuert. Von Edmund Burke publizieren wir die Erstübersetzung einer Rede aus dem Jahr 1780 und Dirk Jörke würdigt in seinem Beitrag den Parlamentarier Edmund Burke als Parlamentarismustheoretiker.
Editorial (S. 3-5)
Schwerpunkt: UNTERNEHMEN ZWISCHEN AKTIONÄRSINTERESSE UND SOZIALER VERANTWORTUNG (Zusammengestellt von Jürgen Beyer und Stefanie Hiß)
Stefanie Hiß: Corporate Social Responsibility. Über die Durchsetzung von Stakeholder-Interessen im Shareholder-Kapitalismus (S. 6-15)
Michael Faust, Christiane Fisecker, Reinhard Bahnmüller: Was interessiert Analysten? (S. 16-26)
Katharina Bluhm, Andrea Geicke: Gesellschaftliches Engagement im Mittelstand – altes Phänomen oder neuer Konformismus? (S. 27-36)
Jeppe F. Jörgensen: Die „Heuschrecken“ und ihre Kritiker (S. 37-46)
Konstanze Senge: Ist Corporate Social Responsibility ein ökonomischer Wert? (S. 47-55)
Jürgen Beyer: Primat der Finanzmarktorientierung. Zur Logik der Auflösung der Deutschland AG (S. 56-64)
Janina V. Curbach: Corporate Social Responsibility. Unternehmen als Adressaten und Aktivisten einer transnationalen Bewegung (S. 65-74)
Philipp Klages: Die Wiederentdeckung schlafender Alternativen in der Rechtslehre: Der Begriff „Aktiengesellschaft“ (S. 75-82)
Nachlese: ERINNERUNGEN AN GEWALT
Serguei Oushakine: Die Politik des Mitleids (S. 83-95)
Rozita Dimova: Strategische Erinnerungen als „Kampf um die Lebenden“ (S. 96-104)
Replik: ZUR LAGE IN OSTDEUTSCHLAND
Irene Dölling, Susanne Völker: Komplexe Zusammenhänge und die Praxis von Akteur/inn/en in den Blick nehmen! (S. 105-120)
Ulrich Busch, Karl Mai: Konvergenzbremse Produktivität. Zurückbleibende Arbeitsproduktivität in Ostdeutschland (S. 121-136)
RUSSISCHER NATIONALISMUS:
Oleg Kil’djušov: Der russische Nationalismus als Problem der rußländischen Öffentlichkeit (S. 137-142)
Vitalij Kurennoj: Anmerkungen zum russischen Nationalismus. Eine Erwiderung auf Oleg Kil’djušov (S. 143-150)
Aleksandr Sogomonov: Zu spät kommen und ausbrechen. Überlegungen zur „Idee der Nation“ (S. 151-155)
WEITERE BEITRÄGE:
Dirk Jörke: Edmund Burke über verheerende Folgen von Wahlkämpfen (156-162)
Edmund Burke: Rede über einen Gesetzentwurf zur Verkürzung der Legislaturperiode von Parlamenten (1780) (S. 163-170)
BESPRECHUNGEN UND REZENSIONEN:
Camilla Warnke: Lehrjahre der Parteiintelligenz. Reflexionen zu Guntolf Herzbergs „Anpassung und Aufbegehren“ (S. 171-186)
Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.): No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Rezensiert von Katharina Beier (S. 187-190)
Nicolas Werth: Die Insel der Kannibalen. Stalins vergessener Gulag. Rezensiert von Wladislaw Hedeler (S. 191-192)