Befasst man sich mit dem Thema „Konsum“ und seiner Erforschung, trifft man auf eine Vielzahl von Fragestellungen. Denn Konsum geschieht quasi überall, jederzeit und schließt kaum jemanden völlig aus. So hat Hazel Kyrk schon 1923 in ihrem Klassiker A Theory of Consumption formuliert: „Denn Konsumenten sind wir alle; Konsumenten sind einfach die allgemeine Öffentlichkeit.“ Freilich ist nicht alles gleichermaßen gut untersucht, und hierzu zählt der Zusammenhang von Konsumzeit und Zeitkonsum.
So gibt es gerade zum Verhältnis von Konsum und Zeit im deutschsprachigen Raum kaum Beiträge, geschweige denn eine eigenständige Forschungstradition. Anders schaut dies für den angelsächsischen Sprachraum aus, wenngleich auch dort dem Zeitbezug von Konsum nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Dies mag daran liegen, dass Zeit eine geradezu allgegenwärtige Qualität besitzt, allem immer schon zugrunde liegend, weshalb wir der Gegebenheit von Zeit kaum noch Beachtung schenken, ähnlich wie beim Raum. Dennoch ist die Relevanz von Zeit für den Konsum immens, primär als intervenierende Variable, aber auch als konkrete, mitunter sogar reflexive Referenz, etwa wenn Zeit selbst zum Gegenstand von Konsum wird, mehr noch, wenn Zeit für den Konsum knapp wird. Dabei kann man konzeptionell zwischen einer Makro- und einer Mikroperspektive unterscheiden. Bei der Makroperspektive werden ganze Epochen unterschieden, soweit es das Verhältnis von Konsumzeit und Zeitkonsum betrifft, gewissermaßen Kondratieff’sche Zeit-Konsum-Zyklen und dergleichen mehr. Freilich wirken auch solche universellen Zeitrahmen bis auf die Mikroebene hinab. Bei der Mikroperspektive werden Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden gemessen, also Zeit-Konsum-Einteilungen im Mikrobereich. Hier geht es um die Betrachtung von Mikrozeit als Taktgeber, Konditionierungsinstrument, Sozialisationseffekt, Medium und Orientierungsmaßstab des täglichen Konsumierens. Der Zusammenhang von Konsum und Zeit wirkt dann eher kleinteilig, überwiegend im Verborgenen sich entfaltend. Zudem kann Zeit als Ordnungsfaktor, als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema des Konsums diskutiert werden, bis hin zu der Möglichkeit, als Subjektivierungstechnik zu fungieren. Und in Anlehnung an Foucault könnte man sogar von einer „Zeitordnung der Konsumdinge“ sprechen. All das sind mögliche Anknüpfungspunkte für eine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Konsumzeit und Zeitkonsum.
Eröffnet wird der Schwerpunkt mit einem Beitrag von Jens Lönneker, der sich aus Sicht der Marktforschung mit dem Zusammenhang von Individualisierung, Arbeit, Konsum und Zeit beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem um den Stressfaktor, der mit dem „Schnellerlaufen“ der Zeit verbunden wird. Hartmut Rosa und Stefan Lorenz haben sich der Frage zugewandt, inwiefern man von einer Beschleunigung des Konsums sprechen kann. Hierzu diskutieren sie zunächst Arbeit, sodann Konsum im Rahmen einer Theorie der Beschleunigung. Sabine Wollscheid stellt anschließend die Ergebnisse einer eigenen Untersuchung zum Verhältnis von Literaturkonsum und Lesezeit vor, die international vergleichend angelegt war. Den Abschluss dieses Themenschwerpunktes bildet ein Überblick von Kai-Uwe Hellmann zum Stand der Konsum-Zeit-Forschung, die vor über 30 Jahren in den USA ihren Ausgang genommen hat.
Der zweite Teil dieser Ausgabe enthält sechs Aufsätze von Alexis de Tocqueville zur Abschaffung der Sklaverei, die hier, übersetzt und eingeleitet von Skadi Krause, erstmals in deutscher Sprache vorgelegt werden. Klassische Theoretiker nicht von ihren Hauptwerken, sondern gleichsam von der Seite, von ihren kleineren Schriften her zu erschließen, ist eine inzwischen vielfach bewährte Aneignungspraxis, die sich auch im Falle dieses ersten großen Analytikers der modernen Demokratie lohnt. In seinem Hauptwerk über die amerikanische Demokratie untersucht Tocqueville die für ihn in der Moderne unaufhaltsam zunehmende politische Gleichheit und die dadurch entstehenden Spannungen mit der Freiheit, die er republikanisch versteht. In den aus dem Jahr 1843 stammenden Artikeln zur Abschaffung der Sklaverei plädiert er dafür, dass Frankreich in dieser Hinsicht entschlossen dem englischen Vorbild folgen soll. Er macht dafür vor allem ökonomische und politische Gründe geltend. Sein Einsatz für die Gleichheit ist freilich begrenzt, da er sich nicht gleichermaßen gegen Kolonien wendet. Dennoch hat seine Kritik eine prinzipielle Note, weiß er doch, dass die Sklaverei ein asymmetrisches Verhältnis ist, das sich doppelt schädigend auswirkt: für den Sklaven ohnehin, aber zugleich auch limitierend auf die Seele des Herren.
In der Nachlese zu „Neunzehnhundertachtundsechzig“ (Heft 5/ 2008) präsentiert Manfred Lauermann den wohl umfassendsten Überblick über 40 Jahre deutschsprachiger Literatur zu „1968“, wie er in diesem Umfang anderenorts kaum vorzufinden ist. Mehr als 200 Quellen – Monografien, Aufsätze, Sammelbände, Dokumentationen, autobiografische Schriften – sind hier aufgeführt und kommentiert.
INHALTSVERZEICHNIS
1. Konsumzeit – Zeitkonsum. Zusammengestellt von Kai-Uwe Hellmann und Ingrid Oswald
Editorial (S. 2)
Jens Lönneker: Die Verknappung der Zeit. Vom Konsumieren in neuen Zeitrhythmen (S. 4-9)
Hartmut Rosa, Stephan Lorenz: Schneller kaufen! Zum Verhältnis von Konsum und Beschleunigung (S. 10-18)
Sabine Wollscheid: Literaturkonsum und Lesezeit (S. 19-29)
Kai-Uwe Hellmann: Konsum und Zeit (S. 30-39)
2. Tocqueville
Skadi Krause: Freiheit, Gleichheit und Sklaverei. Tocquevilles Artikel über die Befreiung der Sklaven (S. 40-43)
Alexis de Tocqueville: Die Befreiung der Sklaven. Sechs Artikel aus dem Jahre 1843 (S. 44-62)
3. weitere Beiträge
John Andreas Fuchs: Das letzte Imperium? Imperiale Erfahrungen im heutigen US-amerikanischen Diskurs (S. 63-68)
Cristóbal Rovira Kaltwasser: Populismus: Jenseits von Dämonisierung und Vergötterung (S. 69-77)
Dominik Sommer: Die getarnte Spekulation. Worst Case-Analysen und imperiale Hegemonie im neokonservativen Diskurs (S. 78-84)
Stefan Militzer: Vom Nutzen und Nachteil des Kulturkampfes für den Liberalismus (S. 85-91)
Meinhard Creydt: Die Entwertung des ‚Egoismus‘ (S. 92-101)
Peter Bartelheimer: Gut beraten? Gut vermittelt? Arbeitsagenturen und Grundsicherungsträger als Dienstleister (S. 102-110)
4. Rezensionen und Besprechungen
Manfred Lauermann: Vierzig Jahre 1968. Ein Literaturüberblick (S. 111-149)
Karl Marx: Das Kapital. Zweiter Band. Hamburg 1885. In: MEGA II/13. Rezensiert von Thomas Marxhausen (S. 150-152)
Werner Helsper, Heinz-Herrmann Krüger et al.: Unpolitische Jugend? Eine Studie zum Verhältnis von Schule, Anerkennung und Politik. Rezensiert von Jörg Nicht (S. 153-155)
Cass R. Sunstein: Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips. Rezensiert von Hanno Sauer (S. 156-158)