Mit diesem Heft beschließen wir den 20. Jahrgang unserer Zeitschrift, der nicht zufällig in das Jubiläumsjahr des „Europäischen Herbstes“ gefallen ist. In gewisser Hinsicht ist auch Berliner Debatte Initial ein „Kind der Revolution“ von 1989. Besorgt ob der Ungewissheit über den Ausgang der Umbruchprozesse, aber vor allem motiviert durch das Erlebnis der Befreiung von Dogmatismus und parteistaatlicher Gängelung, übernahm im Frühjahr 1990 eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um den Ostberliner Philosophen Peter Ruben die Nachfolgezeitschrift der Sowjetwissenschaft vom Verlag Volk und Welt, um sie zu einem „Organ der sozialen Aufklärung“, einer „Tribüne für die geistigen Auseinandersetzungen“ um die Probleme der „kommenden gesellschaftlichen Entwicklung“ (Initial 4/1990, 442) zu machen. Eine unabhängige, eigenständig gestaltete Zeitschrift – das war für uns ostdeutsche Gesellschaftswissenschaftler fürwahr ein „revolutionäres Projekt“ und ein Erlebnis, das uns in den folgenden Jahren immer wieder dazu antrieb, uns neuen Herausforderungen zu stellen. Dies betrifft auch die Schwierigkeit, angesichts knapper Kassen der Hochschulen und Institute als multidisziplinäres Journal gegenüber der Vielzahl disziplinärer Fachzeitschriften zu bestehen. Dies wäre kaum möglich gewesen, hätte sich die Zeitschrift nicht von ihrem Gründungsimpuls emanzipiert, jüngere Redakteure und eine breite internationale Autorenschaft gewonnen und sich neuen Themen zugewandt.
Heute, 20 Jahre nach dem annus mirabilis, wird über den Charakter und das Erbe des Staatssozialismus wieder intensiv diskutiert. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise hat das Verständnis des Kapitalismus stärker als je zuvor seit 1989 problematisiert, und Politikwissenschaftler fragen sich, ob und wie angesichts zunehmend transnationalen Regierens gehaltvolle Demokratie noch möglich ist – eine Perspektive, die vor 20 Jahren kaum denkbar war. Es gibt wohl wenige Klassikerschriften, deren Aktualität vor diesem Hintergrund so ins Auge fallen würde, wie Schumpeters Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie aus dem Jahr 1942. Harald Bluhm hat für dieses Heft Autoren gewonnen, die dafür plädieren, dieses Werk mit Bezug auf die genannten aktuellen Problemlagen neu zu lesen. Sein Artikel zum Themenschwerpunkt ordnet die Schrift ein, wirft Interpretationsprobleme auf und stellt die Beiträge vor.
Ein zweiter Block von Artikeln resümiert Resultate der Umbruchprozesse in Osteuropa. Raj Kollmorgen diskutiert den besonderen Charakter der Revolution in der DDR und die spezifische Logik der ostdeutschen Transformation. Dieter Segert argumentiert, dass vor dem Hintergrund der in der spätsozialistischen Ära geprägten Erwartungshaltungen der Bevölkerungen die dominierenden sozialen Tendenzen der letzten 20 Jahre ein brisantes, Demokratie gefährdendes Potenzial erzeugt haben. Dass sich dies schon heute auf beunruhigende Weise zeigt, verdeutlichen Mihai Varga und Annette Freyberg-Inan. Sie untersuchen, wie sich unter dem wachsenden Einfluss rechtsextremer Strömungen in Osteuropa auch „Parteien der Mitte“ in einen Teufelskreis des Populismus begeben, der bei Aufrechterhaltung der formaldemokratischen Fassade die Grundlagen demokratischer Partizipation breiter Bevölkerungsgruppen systematisch unterminiert.
Schließlich setzen wir unsere vor längerem begonnene Tradition von deutschsprachigen Erstveröffentlichungen klassischer Texte fort. Peter Niesen präsentiert Jeremy Benthams Schrift „Staatseinnahmen ohne Belastung“ und stellt Bentham als politischen Theoretiker von hohem Rang vor, der weit mehr Aufmerksamkeit verdient als den hierzulande üblichen Verweis auf seine Schrift zum Panopticon.
INHALTSVERZEICHNIS
SCHWERPUNKT: "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" neu gelesen
Editorial (S. 2)
Harald Bluhm: Schumpeters "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" - Ein Plädoyer für neue Lesarten (S. 3-16)
Gary S. Schaal: Irrationale Rationalität und rationale Irrationalität. Die Grenzen der Demokratiekonzeption von Joseph Schumpeter (S. 17-23)
Marcus Llanque: Schumpeters Politische Ökonomie und der Sozialismus (S. 24-30)
Christoph M. Michael: Joseph A. Schumpeter und die kreative (Selbst-)Zerstörung des Kapitalismus (S. 31-40)
Nils Otter: Schumpeters Diagnose zu Wandel und Krisen im Kapitalismus (S. 41-48)
Rainer Land: Schumpeter und der New Deal (S. 49-61)
WEITERE BEITRÄGE
Peter Niesen: Vom Nutzen der Toten für die Lebenden. Zu Jeremy Benthams Text (S. 62-69)
Jeremy Bentham: Staatseinnahmen ohne Belastung oder: Heimfall statt Besteuerung (S. 70-89)
NEBENSCHWERPUNKT: NEUNZEHNHUNDERTNEUNUNDACHTZIG
Raj Kollmorgen: Umbruch ohne Revolution? Beitritt statt Transformation? (S. 90-103)
Mihai Varga, Annette Freyberg-Inan: Demokratie okay, aber für alle? Demokratieunzufriedenheit und selektive Demokratie in Mittel- und Osteuropa (S. 104-119)
Dieter Segert: Sozialer Wandel in Osteuropa nach 1989 und staatssozialistisches Erbe (S. 120-135)
BESPRECHUNGEN UND REZENSIONEN
Stefania Maffeis: Zwischen Wissenschaft und Politik. Transformationen der DDR-Philosophie 1945-1993. Rezensiert von Heike Guthoff (S. 136-137)
Klaus Müller: Mikroökonomie. Eine praxisnahe, kritische und theoriegeschichtlich fundierte Einführung mit Aufgaben, Klausuren und Lösungen. Rezensiert von Jürgen Leibiger (S. 138-140)
Hauke Janssen: Nationalökonomie und Nationalsozialismus. Die deutsche Volkswirtschaftslehre in den dreißiger Jahren. Rezensiert von Ulrich Busch (S. 141-143)