Sehr geehrte Damen und Herrén, Wer sich heutzutage, zumal in Deutschland, politischen Mythen widmet, setzt sich leicht dem Verdacht aus, Reisender in einem anachronistischen Zug zu sein. Denn was als mythisch bezeichnet wird, gilt dem aufgeklärten Geist als rückständig und unrealistisch, als eine vergangenheitsverhaftete Erzählung, die sich historisch belegbarer Ereignisse bedient, um sie verklärend zu überhöhen und auf diese Weise ein trügerisches Selbstbild der sich auf sie beziehenden Gemeinschaft zu speisen. Meist mit schlechtem Ausgang. Nicht umsonst ist die stärkste Assoziation zum politischen Mythos der Begriff der Nation, und zumindest in Deutschland ist damit eine Wirkungsgeschichte umrissen, die man sich am liebsten mit dem Attribut „bewältigt“ vom Leibe hält. Mit dieser pejorativen Betrachtung schafft man eine beruhigende Distanz zum vermeintlich Irrationalen des Mythos, ohne jedoch seiner Ratio auf die Spur zu kommen. In dieser grobkörnigen Sichtweise erscheint die Geschichte der Bundesrepublik als relativ mythenarm und dieser Umstand als zivilisatorischer Fortschritt. Aber stimmt dieser Befund – oder ist diese Geschichte nicht vielmehr durchsetzt von einer ganzen Reihe von Mythen, die ihre kohärenzstiftende Wirkung wenn auch nicht immer auf das Ganze der Gesellschaft, so doch auf Teile von ihr entfalteten? Ist nicht selbst schon in Mythos umgeschlagen, was einst in aufklärerischer Absicht gegen ihn angetreten ist? Politische Mythen sind eine spezifische Art, Vergangenheit zu verarbeiten, sie zu Zäsuren gerinnen zu lassen, um daraus Gegenwart deuten und Zukunft erzählen zu können. Moderne Mythen sind intellektuelle Produkte, mit denen sich politische Orientierungen verknüpfen und emotionale Bindungen erzeugen lassen. Sie haben eine die Gesellschaft, auch die demokratische Gesellschaft, stabilisierende Wirkung. Deshalb wollen sich die vorgänge mit ihnen beschäftigen. „Gerade Demokratien“, so schreibt Herfried Münckler in diesem Heft, „beruhen auf der Vorstellung, die politischen Zusammenhänge seien überschaubar und es gebe klare Kausalitäten zwischen Entscheidungen und Ergebnissen. Man (wird) auf die Art zu achten haben, in der politische Mythen Komplexität reduzieren. Es dürften immer einige dabei sein, die mit dem Grundmodell der Demokratie unvereinbar sind. Gleichzeitig sind aber gerade Demokratien auf die Reduktionsleistungen politischer Mythen angewiesen.“ Es macht also in demokratischer Absicht durchaus Sinn, sich seiner Mythen zu vergewissern, und es ist durchaus aufklärende Anstrengung Wert, ihre jeweilige Produktion, Funktion und Wirkungsweise zu durchleuchten. Dieser Aufgabe widmet sich das an der Humbold-Universität unter Leitung von Herfried Münckler arbeitende Forschungsprojekt „Politische Mythen in Deutschland“. Ein Teil der in dieser Ausgabe der vorgänge versammelten Aufsätze geht auf eine Tagung dieses Forschungsprojekts zurück. Wer sein Wissen über die Thematik noch weiter vertiefen möchte, sei auf einen Tagungsband verwiesen, der demnächst erstellt wird. Herfried Münckler entwickelt in seinem einleitenden Beitrag einen Begriff des Mythos, der das ihm innewohnende produktive Moment hervorkehrt und es an verschiedenen historisch und national unterschiedlichen Beispielen exemplifiziert. Es wird deutlich, dass die vielfältigen Formen der Mythenproduktion und -aneignung sich nur schwer normativ einordnen lassen. Edgar Wolfrum begibt sich auf die Spurensuche nach den Anteilen, welche die eigene Zunft zu den Erzählungen von der Bundesrepublik Deutschland beisteuerte. Er findet sie bei Eugen Kogons Klage über die verhinderte Neuordnung ebenso, wie in der These vom deutschen Sonderweg, in der Zwei-Staaten-Theorie der siebziger Jahre wie in der Habermasschen Theorie von der postnationalen Demokratie in den achtziger Jahren. Und die Suche endet wohl nur vorläufig bei der Normalisierung Deutschland und der Globalisierung der NS-Vergangenheit. Es ist eine Dekonstruktion des Nationalen, dem alternative Konstruktionsleistungen folgen müssen. Jens Hacke begutachtet die Bilder, die man sich vom Staat machte. In ihnen erkennt er eine folgenreiche Geringschätzung der Bundesrepublik als Staat. Sie prägt Schelskys Einpassung in die technokratisch-funktionale Industriegesellschaft, die Marginalisierung in Luhmanns systemtheoretischen Betrachtungen und die Verflüssigung in Habermas` postnationaler Demokratie. Diese theoretisch gepflegte Staatsskepsis wirke noch heute als Remedium gegen die Erfahrbarkeit und Gestaltbarkeit des Staates. Einem besonders prägenden Staatsbild widmet sich Clemens Albrecht. Die Frankfurter Schule, so seine These, rückte die Begriffe ‚Volk’, ‚Staat’ und ‚Nation’ in die Peripherie des Selbstdeutungsprozesses der deutschen Nachkriegsgeschichte und die Kategorien ‚Gesellschaft’ und ‚Demokratie’ ins Zentrum und hat auf diese Weise politische Heilserwartungen kleingearbeitet, die seit 1789 verdiesseitigt worden waren. Am Ende dieses Prozesses stehen wir zwar wirklichkeitsorientiert und desillusioniert, aber auch weitgehend hoffnungsfrei da. Was das auf Dauer bedeute, sei noch offen; denn Institutionen, die auf Furcht und nicht auf Hoffnung gründen, haben selten Bestand. Eine der wenigen positiven Staatsinterpretationen manifestiert sich in Dolf Sternbergers Verfassungspartiotismus. Dieser ist gleichwohl weit vom positiven Selbstbezug anderer Staatsvölker entfernt. Jan-Werner Müller geht den Fragen nach, ob dieser Begriff einen bundesrepublikanischen Sonderweg markiert und was sich, wenn er einen normativen Wert hat, gegen den Einwand vorbringen lässt, dass er so blutleer daherkommt. Er verteidigt in seiner Antwort die Intention Sternbergers und Habermas`, den Begriff in seinem konkreten bundesrepublikanischen Kontext zu betrachten als keinesfalls steril und sieht angesichts der Herausforderungen von Einwanderungsgesellschaften in Europa derzeit kein besseres Modell politischer Integration. Im bundesrepublikanischen Gesellschaftsmodell war und ist die Mitte mythisch, eine Ideallinie der Selbsteinwirkung wie ein Ort politischer Mehrheiten. Peter Fischer zeichnet den Konstruktionsplan dieser Mitte nach, der aus zweier Schablonen besteht, einer soziologischen und einer kulturellen. Ihre Wirkung entfaltet sie, wenn beide zur Deckungsgleiche gebracht werden können. Doch beide sind, darin liegt die Schwierigkeit, dynamisch. Einen (erfolgreichen?) Versuch der professionellen Mythenproduktion analysiert Rudolf Speth. Er beschreibt, wie die Kampagne „Du bist Deutschland“ unter Einsatz beträchtlicher Mittel und prominenter Personen ein neues Kollektivgefühl generierte. Lösen Werbestrategen die Intellektuellen als Mythenfabrikanten ab? Das Gedenken an die Gefallenen, in anderen Staaten fester Bestandteil eines staatlichen Selbstbildes, hat in der Bundesrepublik ein eher verschämtes Dasein geführt, eingebettet in das allgemeine Erinnern an die Opfer von Krieg und Vertreibung. Angesichts der Geschichte verbot sich jegliche positive Bezugnahme. Manfred Hettling weist in seinem Beitrag darauf hin, dass sich die Frage des angemessenen Gedenkens an die Gefallenen mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr neu stellt. Denn sie starben in Erfüllung eines demokratisch legitimierten Auftrages. Und die Frage ist spätestens aktuell, seit der Bundesverteidigungsminister beabsichtigt, eine Gedenkstätte im Bendlerblock zu errichten. Während die RAF auch in ihrer mythologischen Dimension breit durchleuchtet wurde und in der Konsequenz mittlerweile pejorativ betrachtet wird, ist der Begriff der Militanz in ein weit ambivalenteres Geschichtsbild eingewebt. Wolfgang Kraushaar beschreibt an den Entwicklungen der Studentenbewegung in der historisch kurzen Phase von der „Schlacht am Tegeler Weg“ im November 1968 bis zur Gründung der RAF 1970, dass Erstere sich ohne Letzteres kaum entfaltet hätte. Das Nichteingestehen von politischen Niederlagen mündete in einer ästhetischen Selbstinszenierung, bei der die Wahl der Waffen die Philosophie ersetzte. Wenige Nationen haben, wie die deutschen Nachkriegs-Teilstaaten, einen negativen Gründungsmythos. Lothar Probst bezweifelt denn auch, dass der Holocaust-Mythos die Tiefenstrukturen der Gesellschaft in vergleichbarem Maße zu erreichen vermag. Am Ende seiner Jahrzehnte dauernde Entfaltung vom Gegenstand einer heftig ausgetragenen Generationenfehde in den sechziger über seine allgemeine gesellschaftliche Anerkennung durch die Weizsäcker-Rede in den achtziger bis zu seinem Eingehen in die Staatsraison unter der rot-grünen Regierung in den späten neunziger Jahren steht dieser öffentlich zelebrierten Politik des Erinnerns ein davon zunehmend abweichendes Bewusstsein von Teilen der Bevölkerung gegenüber. Während sich der Holocaust-Mythos erst in die Tiefenstrukturen der bundesrepublikanischen Gesellschaft einbrennen musste, war der durchaus wirkmächtige Mythos des Antifaschismus in der DDR von Anfang an Teil einer Aufbaustrategie der KPD, mit der sie die eigenen Machtinteressen wahren und den alliierten Belangen Rechnung tragen wollte. Wie Manfred Wilke darlegt, war der Antifaschismus das moralische Pfund, das für einen kommunistischen Herrschafts- und Gestaltungsanspruch in die Waagschale geworfen wurde, wobei sich letztendlich selbst die Moral diesem Herrschaftsanspruch beugen musste. Die DDR war auf loyalitätsstiftende Mythen in weit stärkerem Maße angewiesen als die BRD. Neben dem Antifaschismus erfüllte diese Funktion vor allem der Mythos der Arbeiterklasse. Er war aber, wie Peter Hübner schreibt, weit mehr als ein ideologisch aufgeladener Anspruch. Vielmehr wurde versucht, die soziale Realität nach diesem Mythos zu formen: es entwickelte sich unter staatlicher Regie eine arbeiterliche Gesellschaft, was noch heute bei vielen ihrer Mitglieder eine positive Erinnerung prägt. Ein Mythos zur Erzwingung politischer Abhängigkeiten, so beschreibt Jan Foitzik die Funktion des proletarischen Internationalismus im realsozialistischen Herrschaftsbereich der Sowjetunion. Ein Mythos, dessen universalistischen Grundaussagen flexibel dem Stalinschen Hegemonialanspruch angepasst wurden und der deshalb zugleich mit manifester gesellschaftlicher Ablehnung zu kämpfen hatte. Im Essay widmet sich Michael Th. Greven der fast vergessenen Geschichte der Speziallager in der SBZ. Er fragt nach dem Erinnern, sowohl dem eigenen als auch dem gesellschaftlichen, und versucht, den Sinn hinter dem Terror und dem tödlichen Elend, die in diesen von der sowjetischen Besatzungsmacht installierten und von deutschen Personal geführten Orten des Schreckens herrschten, zu entziffern. Ein Nachruf von Carl Wilhelm Macke auf den im Januar verstorbenen langjährigen Redakteur der vorgänge, Gerd Hirschauer, steht am Ende dieser Ausgabe, zu der ich Ihnen eine anregende Lektüre wünsche
Ihr Dieter Rulff
Deutsche Mythen
Editorial ........................................................................................1
Herfried Münckler Politische Mythen Die Bewältigung von Kontingenz, die Klärung der Loyalität und die Reduktion von Komplexität ................................................5
Edgar Wolfrum Geglückte und missglückte Erzählungen über die Bundesrepublik ................................................................12
Jens Hacke Staatsbilder Bundesrepublikanische Vorstellungen vom Staat ...................................................................................22
Clemens Albrecht Schwanengesänge auf den Staat Die Frankfurter Schule und ihre Bundesrepublik ................................................................31
Jan-Werner Müller Verfassungspatriotismus – ein deutscher Mythos? .................................................................40
Peter Fischer Mittelstand und Mittelmaß Zur Selbstverortung der Bundesrepublik ........................................47
Rudolf Speth „Du bist Deutschland“ Vom Verfertigen kollektiver Selbstbilder ........................................54
Manfred Hettling Gefallenengedenken – aber wie? Das angekündigte Ehrenmal für Bundeswehrsoldaten sollte ihren demokratischen Auftrag darstellen ........................................66
Wolfgang Kraushaar Mythos Militanz ............................................................................76
Lothar Probst Gründungsmythos ex post Der Holocaust im politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik ............................................85
Manfred Wilke Mythos Antifaschismus Die KPD und die Durchsetzung einer „antifaschistisch-demokratischen Neuordnung“ ...............................................................................94
Peter Hübner Die Werktätigen Arbeiter und Arbeiterklasse in der DDR ........................................103
Jan Foitzik Der proletarische Internationalismus des sozialistischen Weltsystems Die Mythologisierung des sowjetischen Führungsanspruchs .........................................115
Essay
Michael Th. Greven Der vergessene Terror Die Speziallager in der SBZ – historisches Wissen und geteilte Erinnerung in Ost und West .........................................................................125
Kommentare und Kolumnen
Carl Wilhelm Macke Ein Scherpa der Bürgerrechte Gerd Hirschauer (1928–2007) ...................................................134
Autorinnen und Autoren .............................................................137