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Sehr geehrte Damen und Herren,
Als das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1962 der Bundeswehr attestierte, „bedingt abwehrbereit“ zu sein, witterte der Bundesverteidigungsminister einen „Abgrund von Landesverrat“, ließ den Herausgeber festnehmen und musste doch nach wenigen Wochen auf Druck der Öffentlichkeit diesen wieder freilassen und selbst zurücktreten. Der abgewehrte Angriff auf das selbsternannte „Sturmgeschütz der Demokratie“ war die Sternstunde klassischer Öffentlichkeit.
Knapp fünfzig Jahre später trägt das Geschütz den Namen Wikileaks, es verbreitet im Internet weltweit für jedermann einsehbar 250.000 Dokumente voller Interna der amerikanischen Diplomatie und bringt damit die US-Regierung in die Bedrouille. Auch diese sieht sich vor einem Abgrund von Landesverrat, ihre Gegenmaßnahmen erweisen sich allerdings als hilflos. Das Material ist jedermann zugänglich, dem „Spiegel“ bleibt die Aufgabe, es publikumsgerecht aufzubereiten. Es ist die Sternstunde der neuen Öffentlichkeit – und so die Ankündigungen des Wikileakschefs Julian Assange nicht über-trieben sind, werden ihr weitere folgen.
Die beiden Ereignisse markieren den Wandel der Öffentlichkeit in den letzten Jahren. Zum Zeitpunkt der Spiegelaffäre schuf Jürgen Habermas mit seiner Habilitationsschrift zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ den maßgeblichen theoretischen Referenzrahmen zur zeitgemäßen Fassung dieses Begriffes. Seitdem ist Öffentlichkeit sowohl als Forum gesellschaftlicher Selbstverständigung und Integration als auch in ihrer Kontroll- und Legitimationsfunktion gegenüber demokratischer Herrschaft Veränderungen unterworfen, die eine neue Konzeptionierung dieses Begriffes sinnvoll erscheinen lassen – wobei fraglich ist, ob sich die divergierenden Entwicklungen noch sinnvoll unter einen Begriff der Öffentlichkeit fassen lassen. Schon im späteren Habermas‘schen Konzept blieb vage, in welchen Verhältnis gesellschaftliche Deliberation zur Legitimation staatlichen Handelns steht. Während sich die Staaten transnationalisierten, verharren deren Öffentlichkeiten im nationalen Gehäuse. Die von Habermas seinerzeit als Refeudalisierung kritisierte inszenatorische und manipulative Form der Öffentlichkeit hat in postdemokratischen Zeiten eine neue Qualität erreicht. Diese manifestiert sich in einer Pluralisierung des Angebots von elektronischen und Print-Medien, deren zugrunde liegende ökonomische Dynamik gleichzeitig die damit insinuierte Meinungsvielfalt auf einen selbstreferenziellen Medien-Mainstream schrumpfen lässt. Unklar ist, in welchem Maße Gegenöffentlichkeit ein Therapeutikum ist. Die vermeintliche Vielfalt des Medienangebots korrespondiert mit einer Individualisierung der Nutzer. Der damit einher-gehenden Fragmentierung der Gesellschaft steht das Gleichheitsversprechen gegenüber, mit dem die Nutzung des Internets unterlegt ist – die derzeit programmatisch optimalste Kombination von Freiheit und Gleichheit in der Medienwelt. Dieses Versprechen ist technisch definiert – aber wie wird es inhaltlich eingelöst? Die Fragen sind Grund genug, dem Wandel der Öffentlichkeit diese Ausgabe der vorgänge zu widmen.
Marian Adolf und Nico Stehr nehmen Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ zur Folie, auf deren Hintergrund sie diesen Wandel hin zu einer neuen Öffentlichkeiten fortschreiben, die sie gegen die betreute Öffentlichkeit früherer Jahre abgrenzen. Die Grenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation erodieren zusehends und auch die Nutzungsmuster des umfassenden Medienportfolios pluralisieren sich. Zugleich ist eine weitere Diversifizierung und Individualisierung von Öffentlichkeiten zu beobachten.
Dirk Baecker geht der Rolle der vierten Gewalt im Wechselspiel mit den ersten drei nach und erkennt deren Wesen in einem offenen Netzwerk von Produktionen, Meinungen, Interessen und Konsequenzen, in dem das Publikum frei in der Wahl seiner Verknüpfungen ist und das sich von daher jeder einseitigen Zurichtung entzieht und offen für jederzeitigen Wandel ist.
Hingegen geht Jeffrey Wimmer in Anlehnung an Habermas von einer fortwirkenden Vermachtung der Öffentlichkeit aus, da die neuen Medientechnologien nichts grundlegend an den ökonomischen Herrschaftsstrukturen geändert haben. Die neuen Medien sind folglich nicht allein Foren einer Gegenöffentlichkeit, sondern werden auch von den etablierten Konzernen und politischen Akteuren für ihre Zwecke (aus)genutzt.
Andreas Fisahn erforscht die Konstitutionsbedingungen einer europäischen Öffentlichkeit und fordert von den europäischen Institutionen, die Zentralität des politischen Konfliktes zu organisieren, um dadurch die demokratische Öffentlichkeit zur Entfaltung zu bringen. Der passende Ort dazu ist das europäische Parlament.
Sebastian Müller untersucht an den Beispielen Großbritannien, Kroatien und Deutschland die europäischen Medienstrukturen und plädiert für einen öffentlich-rechtlichen Sektor, der ökonomisch so ausgestattet sein soll, dass seine Unabhängigkeit gewährleistet ist.
Tom Schimmeck hält ein leidenschaftliches Plädoyer für die klassischen Qualitäten des Journalismus und gegen dessen ökonomische Verflachung oder politische Vereinnahmung und eine damit einhergehende journalistische Selbstentmündigung.
Thymian Bussemer durchforstet das Biotop der Berliner Medienrepublik und zeichnet ein für beide Seiten wenig schmeichelhaftes Bild der Beziehung von Politik und Medien.
Hans J. Kleinsteuber und Katrin Voss stellen die Website „abgeordnetenwatch.de“ als einen gelungenen Beitrag der neuen Medien zur Stärkung der repräsentativen Demokratie vor.
Annegret Falter analysiert die Rolle von Wikileaks und Whistleblowern in der Demokratie und bemängelt deren mangelhaften rechtlichen Schutz.
Michael Klundt untersucht, wie weit es mit der auch rechtlich garantierten Teilhabe von Kindern am politischen und kulturellen Leben her ist, und fordert eine Kinderöffentlichkeit, die deren Belange befördert.
In seinem Essay geht Dieter Rulff dem Dilemma einer Klimapolitik nach, die zum Erfolg verdammt ist, aber einen erfolgreichen Weg dorthin nicht benennen kann, und kommt zu dem skeptisch-realistischen Resümee, dass man die Katastrophe, die es zu verhindern gilt, wohl auch denken muss.
Thomas Meyer unterzieht die neueren Begrifflichkeiten, auf die soziale Ungleichheit gebracht wird, einer kritischen Analyse und entdeckt in ihrem Kern bekannte klassengesellschaftliche Muster.
Michael Lühmann erkennt in dem demoskopischen Höhenflug der Grünen nicht allein das Ergebnis einer gelungenen, geschlossenen Performance, sondern auch die Frucht beharrlichen Festhaltens an Konfliktlinien, die mittlerweile den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen.
Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge eine anregende Lektüre.
IhrDieter Rulff
INHALTSVERZEICHNIS
Editorial (1)
Marian Adolf, Nico StehrDie Macht der neuen ÖffentlichkeitDie Konstitution neuer Öffentlichkeit zwischen Internet und Straße (4)
Dirk BaeckerDie vierte Gewalt (16)
Jeffrey WimmerGegenöffentlichkeit im 21. Jahrhundert (23)
Andreas FisahnZur Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit (35)
Sebastian MüllerÖkonomischer und staatlicher Einfluss auf Medien in EuropaDrei Länderbeispiele (46)
Tom SchimmeckWem gehören die Medien? (55)
Thymian BussemerPolitik, Presse, PublikumZum Zustand der öffentlichen Kommunikation. (66)
Hans Kleinsteuber, Kathrin Vossabgeordnetenwatch.deDie Stärkung der repräsentativen Demokratie durch das Internet (75)
Annegret FalterWhistleblower (85)
Michael KlundtKinderöffentlichkeit Erscheinungsformen und Rahmenbedingungen. (94)
Essay
Dieter RulffDas unausweichliche Scheitern der Klimapolitik (104)
Thomas MeyerDie neue Klassengesellschaft (114)
Michael LühmannSehnsüchtiger Blick zurück nach vor Die Grünen zwischen Bewegungs- und Volkspartei (126)
Autorinnen und Autoren (134)