vorgänge 47 (2008), 4

Titel der Ausgabe 
vorgänge 47 (2008), 4
Weiterer Titel 
Der gläserne Mensch

Erschienen
Erscheint 
4 Ausgaben pro Jahr
ISBN
0507-4150
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
14 €

 

Kontakt

Institution
vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik
Land
Deutschland
c/o
Redaktion vorgänge Dieter Rulff (verantwortlicher Redakteur) Haus der Demokratie und Menschenrechte Greifswalder Str. 4 10405 Berlin Tel.: 030/2175 0858 Fax.: 030/2363 8206
Von
Dieter Rulff

Als vor 25 Jahren das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus der Taufe geho-ben wurde, war sein Anliegen, die Privatsphäre vor Einblicken und Eingriffen des Staates zu schützen. Der Einzelne müsse, so formulieren die Bundesverfassungsrichter da-mals, „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten bestimmen.“

Inzwischen hat der Fortschritt der Kommunikationstechnologien zu einem rasanten Wandel der Datenerfassung und -verarbeitung geführt. Zudem ist neben das durch die Terrorismusbekämpfung gesteigerte Interesse des Staates an der Privatsphäre seiner Bürger die Wirtschaft als Lieferant und Abnehmer personenbezogener Daten getreten. Eine Vielzahl von datentechnologischen Innovationen will dem Einzelnen das Leben erleichtern – um den Preis eines permanenten Datenflusses. Datenverarbeitung ist allge-genwärtig geworden. Sie läuft geräuschlos im Hintergrund und verändert doch die ganze Gesellschaft. Während das Bundesverfassungsgericht im Februar die Schutzgarantie der Verfassung auf die „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Syste-me“ ausgeweitet hat, zeichnen sich mit ubiquitous computing, cloud computing und RFID bereits die Tendenzen zu einer Datenpreisgabe und -nutzung ab, die mit den Ver-fassungsnormen nur noch schwer zu fassen sind. Zugleich wird das Internet zum virtu-ellen Tummelplatz freiwilliger Selbstpreisgabe. Der Sozialwissenschaftler Roger Clarke definierte das Recht auf Privatsphäre als „die Freiheit von übermäßiger Einschränkung bei der Konstruktion der eigenen Identität“. Diese Freiheit ist zweischneidig, denn sie ist nicht allein von Seiten des Staates bedroht, die Konstruktion der eigenen Identität ist auch mit der freiwilligen Offenbarung sensibler Daten verbunden. Im World Wide Web verschwimmen die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit und einmal offen gelegt, lassen sich Daten nicht wieder einfangen. Die vorliegende Ausgabe der vorgän-ge reflektiert die neuen Entwicklungen der Datennutzung und des Datenschutzes.

Peter Schaar resümiert die Entwicklungen der letzten Jahre und plädiert für eine Ethik der informationellen Selbstbegrenzung: Nicht alles, was möglich ist, darf auch gemacht werden. Die Entscheidung, was möglich sein soll, muss aber von jedem einzelnen selbst getroffen werden.
Hans Peter Bull kritisiert anlässlich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum „Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“ die simple Dichotomie von Freiheit versus Sicherheit, welche die Debatten um den Datenschutz in Deutschland prägt. Diese werde weder der rechtlichen Lage noch der realen Entwicklung gerecht.

Dirk Heckmann erkennt in dem gleichen Urteil eine verfassungsrechtliche Reaktion auf die technologischen Entwicklungen, deren wachsende Komplexität jedoch allein mit juristischen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Wo zudem Freiheit der Persönlichkeit auch deren Entfaltung im Internet bedeutet, erwachsen Persönlichkeitsrechtsgefährdun-gen, die weder vom Staat ausgehen, noch von diesem alleine abgewendet werden können. Gefordert ist vielmehr ein mündiger User, mehr Transparenz der Datenflüsse und deren Trockenlegung, wo sie nicht mehr erforderlich sind.
Der sechzigste Geburtstag des Grundgesetzes ist für Jürgen Roth Anlass, die Aufnahme des Datenschutzes in den Katalog der Grundrechte zu fordern.

Sarah Spiekermann führt in die digitale Welt von Morgen, in der der Computer kein spezifisches Gerät mehr ist, sondern sich in Technologien und Gerätschaften des täglichen Lebens integriert hat und fragt, wie der Mensch in diesem Internet der Dinge die Grenzen seiner Privatheit ziehen wird.

Martin Rost sieht die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft durch die informationelle Verkopplung ehedem getrennter Identitäten aufgehoben. Datenschutz kann sich nicht mehr darin erschöpfen, diese Differenzierung wiederherzustellen. Gefragt sind vielmehr Anonymisierung und ein nutzerkontrolliertes Identitätsmanagement, letztlich eine Ausweitung der Funktionstrennung bis in die datenerhebenden Organisationen hinein.
Regine Kollek stellt den Fortschritt der Biobanken vor und analysiert die Unmöglichkeit, bei ihnen die gängigen Kriterien des Datenschutzes anzuwenden.

Bert Heinrich geht der Frage nach, ob bei prädikativen Gentests das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch das Recht einschließt, zu wissen, was gewusst werden kann und entwickelt Kriterien, an denen sich eine ethisch verantwortungsvolle Antwort darauf zu orientieren hat.
Christian Rath geht mit der Politik der Bürgerrechtsgruppen ins Gericht. Deren Alarmismus stehe häufig in keinem Verhältnis zum Anlass und trage zu den gesellschaftlichen Ängsten bei, gegen die sie sich eigentlich wenden wollen.

Sebastian Buckow analysiert BKA-Gesetz und Online-Durchsuchung als Elemente einer neuen Architektur der Sicherheitsapparate.
In den Essays lotet Marcus Hawel das rechte Verhältnis von Politik und Moral aus. Verselbstständigt sich letztere, zerstört sie erstere, reduziert sich diese jedoch auf pure Sachzwanglogik, neutralisiert sie moralische Sensibilität.

Karin Priester analysiert die Sozialstruktur der NPD-Führungskader. Es sind keine prekären Existenzen, wie häufig gemutmaßt, sondern Extremisten der Mitte.

Florian Hartleb lotet die Potenziale des Rechtspopulismus in Österreich nach Haider aus.

Jesse wendet sich gegen ein NPD-Verbot. Dazu bewegen ihn jedoch nicht Zweifel an der verfassungsgerichtlichen Durchsetzbarkeit, er vertraut vielmehr auf die Stabilität der Demokratie als der besseren Waffe im Kampf gegen Rechtsextremismus.

Die Rezensionen des Buches von Heribert Prantl zur Terrorismusbekämpfung von Christopher Pollmann runden diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Editorial (1)
Peter Schaar
Datenschutz im Informationszeitalter
Vor neuen Herausforderungen (4)

Hans Peter Bull
Die „Online-Durchsuchung“ und die Angst vor dem Überwachungsstaat
Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Februar 2008 (11)

Dirk Heckmann
Identitäts- oder Konsumschutz im Internet?
Das Grundrecht auf freie Entfaltung der digitalen Persönlichkeit (20)

Jürgen Roth
Datenschutz in das Grundgesetz
Eine angemessene Festgabe zu dessen sechzigstem Geburtstag (30)

Sarah Spiekermann
Das Internet der Dinge
Gesellschaftliche Herausforderungen der elektronischen Welt von morgen (39)

Martin Rost
Gegen große Feuer helfen große Gegenfeuer
Datenschutz als Wächter funktionaler Differenzierung (48)

Regine Kollek
Biobanken – medizinischer Fortschritt und datenschutzrechtliche Probleme (59)

Bert Heinrichs
Wissen oder Nichtwissen?
Ethische Aspekte der Anwendung prädikativer genetischer Tests (77)

Christian Rath Der Überwachungsstaat – eine bürgerrechtliche Projektion (79)

Sebastian Buckow
Zentralisiert und vernetzt
Die neue deutsche Sicherheitsarchitektur (93)

Essay

Marcus Hawel
Wie viel Politik verträgt die Moral?
Der schmale Grad zwischen moralischer Überlegenheit und Hypertrophie der Moral (103)

Karin Priester
Die braune Elite
Die Sozialstruktur der NPD-Führung (115)

Florian Hartleb
Nach Haider
Zur Bedeutung der charismatischen Person im Rechtspopulismus (127)

Kommentar

Eckhard Jesse
Ein NPD-Verbot schadet mehr, als dass es nützt (138)

Rezensionen

Christopher Pollmann
Zurück ins Mittelalter?
Heribert Prantl fühlt sich bei der Terrorismusbekämpfung an die Hexenverfolgung erinnert (141)

Autorinnen und Autoren (143)

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