Zur Agrarforschung im Nationalsozialismus ist in den letzten Jahren intensiv gearbeitet worden. Mehrere innovative Ansätze ermöglichen es, ja lassen es zwingend erscheinen, das Thema auf neuer Grundlage anzugehen: zum einen die in Richtung kultureller Bestände von „Wissen“ und Institutionenforschung sowie multidisziplinär orientierte moderne Wissenschaftsgeschichte, zum anderen die kritische Agrarpolitikforschung.
Zu dieser Neuorientierung soll das vorliegende Heft beitragen, das im Anschluss an eine am 10. Juni 2005 in Frankfurt am Main von der Gesellschaft für Agrargeschichte organisierte Tagung entstanden ist. Es dient der weiteren Erschließung des methodischen, institutionellen, legitimatorischen und biographischen Gesamtzusammenhangs der Agrarforschung im NS. Hierbei sind nicht nur spektakuläre außeruniversitäre Projekte, sondern gerade auch das Spektrum „normaler“ universitärer Forschung im Gesamtbild ihrer Praxis einzubringen.
Wissenschaft im Nationalsozialismus stand je länger je mehr unter einem primären Praxis- und Leistungsgebot, und besonders die angewandten aturwissenschaften erfreuten sich einer wachsenden finanziellen Förderung. Zugleich erweist sich angesichts von Großprojekten im Bereich des so genannten „Kriegseinsatzes“ der Geisteswissenschaften auch deren organisatorische Modernisierung.
Unter „Agrarforschung“ verstehen wir in diesem Heft alle wissenschaftlichen Ansätze, die sich mit landwirtschaftlicher Produktion in ihrem Gesamtwirtschaftlichen Kontext sowie mit dem „Land“ als einer (Bevölkerungs-)Ressource oder als variabel und dynamisch konzipierten „Raum“ technischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Handelns beschäftigten. Deutlich zeigen sich die Wechselbezüge zwischen ihren Teilbereichen, etwa zwischen Geschichte, „Landvolk“-Soziologie und prononciertem Raumbegriff, von agrarischer Autarkiepolitik und Pflanzenzuchtforschung, zwischen Nahrungsverlust-Phobien, der schon in Weimar emphatisch geforderten „Nahrungsfreiheit“ und der postulierten Notwendigkeit einer landwirtschaftlichen Produktionssteigerung. Ein enger Zusammenhang zwischen allen Teilbereichen der Agrarforschung ergibt sich auch durch die weitgehend gemeinsame Orientierung auf die Kriegspolitik. Gemeinsam ist allen praktischen Ansätzen die extreme Betonung der Planbarkeit des Sozialen und die unhinterfragbare Bedeutung der Autarkiepolitik.
Wissenschaftstheoretisch fällt die unbekümmerte Weise auf, mit der man grundlegende Kategorien und Methoden aus den Disziplinen der Raumforschung, der Bevölkerungswissenschaft und der „Volksgeschichte“ in die Agrarforschung importierte. Was sich von 1933 bis 1945 in einmaliger Weise mit zerstörerischen Allmachtsphantasien, aber auch langfristig wissenschaftlich produktiven Konzepten verband, wird in sieben Einzelkomplexen erkennbar:
1. Man beabsichtigte die Transformation der gesamten agrarischen Sozialstruktur und eine erhebliche Steigerung der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität im so genannten „Altreich“. Dies wird im vorliegenden Heft in den Beiträgen von Wolfram Pyta/Jochen Streb und Susanne Heim thematisiert.
2. Es ging um die umfassende Überplanung eroberter Räume in Ostmitteleuropa und Osteuropa seit 1939, verbunden mit der Entstehung „neuer Dorflandschaften“1,
hier behandelt von Andreas Dornheim und Wolfram Pyta/Jochen Streb.
3. Die bisherige Tier- und Pflanzenforschung erfolgte unter einem gesteigerten Anspruch auf unmittelbare Anwendbarkeit, wie der Forschungsbeitrag von Susanne
Heim und der Artikel von Manfred Grieger im Forumsteil deutlich machen.
4. Ernährungswissenschaftliche Ansätze erfuhren eine wissenschaftliche Begründung und Intensivierung; siehe hierzu den Forschungsbericht von Ulrike Thoms.
5. Im Zusammenhang der Agrarforschung sind auch die Bemühungen einer diskursiven Fundierung des symbolisch stark aufgeladenen Naturschutzes und der Landschaftsplanung relevant, hier behandelt durch den Artikel von Willi Oberkrome.
6. Es sind darüber hinaus auch landbezogene Medien- und Medienrezeptions- forschung einzubeziehen.2
7. Für die Leserinnen und Leser der ZAA sind die paradigmatischen Arbeiten der
emergierenden Agrarsoziologie (dazu der Beitrag von Heinrich Becker) und der Volkskunde/Agrargeschichte sicher von besonderem Interesse (siehe den Artikel
von Andreas Dornheim).