Ländliche Akteure zwischen Protest und Revolution (18. bis 21. Jahrhundert)
Staatliche Umwälzungen werden von historischen Beobachtern wie in der akademischen Literatur spätestens für die Phase ab dem 18. Jahrhundert vorrangig mit städtischen Existenzbedingungen und Akteursgruppen verknüpft. Im Blick auf Trägerschichten, Konfliktlagen, Zielvisionen, Schauplätze und Handlungsstrategien sind Anläufe zum Umsturz der Herrschafts- und Gesellschaftsordnung bis ins heutige Alltagsbewusstsein hinein primär urban konnotiert. Angesichts einer solchen zwar verzerrten, empirisch aber nicht völlig unplausiblen Wahrnehmung gehört es zu den diffizileren Aufgaben der Erforschung ländlicher Räume, das dort typischerweise breite, zwischen passiver Abwehr und kollektivem Aufruhr variierende Spektrum von Resistenz in ein adäquates Verhältnis zu revolutionären Prozessen zu setzen. Welches systemische Transformationspotential wohnt(e) ruraler Widerständigkeit tatsächlich inne?
Im Umgang mit diesem Problem haben die sozial- und geschichtswissenschaftlichen Fächer gleichermaßen (und oftmals einander inspirierend) einen Perspektivenwechsel vollzogen, der zu Neubewertungen anregt. Tendenziell hat sich das Augenmerk vom direkten – programmatischen und/oder machttaktischen – Einfluss ländlicher Erhebungen auf revolutionäre Zäsuren zur funktionalen Signifikanz und dynamisierenden Rolle endemischen Protests jenseits akuter Umbruchsituationen verschoben. Hier findet das vorliegende Heft seinen Platz: In einem anthropologischen Aufriss, drei historischen Studien zu Großbritannien, Frankreich und Russland sowie zwei politiksoziologischen Beiträgen über Kolumbien und die Philippinen lotet es aus, wie theoretisch-methodische Umakzentuierungen das Bild von der strukturellen Prägekraft ruralen Aufbegehrens verändert haben. Der Fokus gilt dabei nicht formal institutionalisierten Teilhabechancen im Rahmen korporativer, kommunaler, parlamentarischer und agrarverbandlicher Partizipation, sondern jenen (nicht nur physisch gewaltsamen) Spielarten der Interessenartikulation, welche die jeweils hegemonialen Rechts- und Sittennormen als kriminell oder illegitim stigmatisieren.
INHALT
7-19 Niels Grüne, Karl-Friedrich Bohler: Editorial: Ländliche Akteure zwischen Protest und Revolution (18. bis 21. Jahrhundert)
21-36 Christian Giordano: Offene und verschleierte Widerstandsformen in Agrargesellschaften: Banditentum, Rebellion und informelle Beziehungsnetzwerke
37-54 Monika Barget: Stadt, Land und suburbaner Raum als Orte des Widerstands: Das britische Empire im 18. Jahrhundert
55-71 Laurent Brassart: Peasants and politics in the Age of Revolution (1760 – 1848): A historiographical account of the issue in France
73-94 Stephan Merl: Traditionalistische Widersetzlichkeit oder politische Programmatik? Russlands Bauern im Kräftefeld von Agrarreform und revolutionärer Mobilisierung (1856–1941)
95-111 Thomas Fischer, David Graaff: Kleinbäuerliche Widerstandsstrategien und die Rolle der FARC-Guerilla im kolumbianischen Landkonflikt
FORUM
113-121 Peter Kreuzer: Physische Gewalt als Herrschaftsmittel: Ein Vergleich dreier philippinischer Regionen
122-125 Abstracts
126-141 Rezensionen