Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 70 (2022), 2

Titel der Ausgabe 
Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 70 (2022), 2
Weiterer Titel 
Das Dorf in Fernsehserien

Erschienen
Frankfurt am Main 2022: DLG-Verlag
Erscheint 
halbjährlich
Anzahl Seiten
120 S.
Preis
Abopreis: € 81,00; Einzelheft: € 40,00

 

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Institution
Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie : ZAA
Land
Deutschland
PLZ
60489
Ort
Frankfurt am Main
Straße
Eschborner Landstr. 122
c/o
Geschäftsführende Herausgeber: Johann Kirchinger (johann.kirchinger@theologie.uni-r.de) Gunter Mahlerwein (guntermahlerwein@aol.com) Versand: DLG-Verlag GmbH ZAA Redaktion
Telefon
0 69/2 47 88-451
Fax
0 69/2 47 88-480
Von
Gunter Mahlerwein

Gunter Mahlerwein/Clemens Zimmermann

Editorial
Das Dorf in Fernsehserien.

Anstelle eines Forschungsüberblickes zum Thema „Dorf in Fernsehserien“, der mangels einer ausreichenden Quantität von Untersuchungen kaum möglich ist , sollen hier im Folgenden die Potentiale für einen geschichtswissenschaftlichen Zugang zu einem Forschungsgebiet aufgezeigt werden, das von verschiedenen Fachdisziplinen erschlossen wird.

Wir sehen die Aufgaben einer historisch orientierten Fernsehserienforschung in der Verbindung von vier Untersuchungssträngen. Erstens geht es um die Positionierung von einschlägigen Serien in der allgemeinen Fernsehgeschichte und der Geschichte von Fernsehserien im Besonderen. Das schließt ein, den Traditionen seriellen Erzählens besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zweitens erweist sich als Aufgabe, die in den Serien aufscheinenden Repräsentationen von Dorf und Land historisch zu kontextualisieren. Drittens ist es erforderlich, die Analyse von in Serien erzählter Geschichte voranzutreiben, hierbei auch eventuelle (literarische) Vorlagen zu reflektieren. Viertens ist besonderes Augenmerk auf das Verhältnis zwischen (historischer, durch Forschung erschlossener) „Realität“ und (filmischer) „Konstruktion“ zu richten.

Das soll in diesem Editorial am Beispiel der sowohl für die Geschichte historischer Serien als auch für die Geschichte der Beschäftigung mit dem Thema Dorf höchst relevanten Serie „Heimat I“ von Edgar Reitz aus dem Jahr 1984 aufgezeigt werden, in der die Geschichte der zwischen 1918 und 1982 im fiktiven Hunsrückdorf „Schabbach“ lebenden Menschen erzählt wird.

Zum ersten ist also nach der Positionierung dieser Serie in der Geschichte der Fernsehserien zu fragen. „Heimat“ ist ein frühes Beispiel in der Entwicklung eines Typus von TV-Serien, der mit dem erst in den 1990er-Jahren in der Forschung intensiver diskutierten Begriff der „Qualitätsserie“ beschrieben werden kann (Agnetta/Schleich 2020: 18). Als Kriterien für Qualitätsserien werden genannt: „narrative Mehrschichtigkeit“, komplexe Plots, ein großes Figurenensemble, literarische Qualität des Drehbuches, künstlerischer Anspruch der Produzenten (Buch, Regie, Kameraführung, Musik etc.), Ausweitung der Genregrenzen, Selbstreflexivität, Realismus- und Authentizitätsansprüche, Entwicklung einer fortlaufenden Geschichte statt lose verbundener Episoden (Robert J. Thompson 1996, zitiert nach Agnetta/Schleich 2020: 18). All diese Elemente lassen sich in „Heimat“, allerdings auch schon in anderen vorher produzierten Serien (etwa die Faßbinder-Serien „Acht Stunden sind kein Tag“ und „Berlin Alexanderplatz“ von 1974 und 1980) finden. In der Fernsehserienforschung waren es zunächst eher diese Qualitätsserien, die die Aufmerksamkeit von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen auf sich lenkten, und nicht die seit der Frühzeit der Fernsehgeschichte in vielen Staffeln und in der Regel kostengünstig produzierten Episodenserien, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden konnten und wollten. Gerade aber durch die seit den neunziger Jahren global boomende Produktion von Qualitätsserien, die auch an die Entwicklung neuer Techniken und Distributionswege geknüpft war (kommerzielle Sender, Video, DVD, Streaming), erlebte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema einen enormen Aufschwung. In dessen Folge wurde auch zunehmende Aufmerksamkeit den Serien jenseits des Qualitätssegmentes gewidmet. Deswegen erscheint es aus Sicht der Geschichtswissenschaften notwendig, den historischen Wandel von Serienproduktion, -distribution und -rezeption in den Blick zu nehmen (Mahlerwein/Zimmermann 2020: 57). Zu analysieren sind jeweils in ihren historischen Kontexten die TV-strukturellen Voraussetzungen einer Serienproduktion, die Umstände ihrer Planung und Finanzierung, die Platzierung im Sendeprogramm, die Erfahrungen und Zielsetzungen aller Akteure von den Verantwortlichen der Sendeanstalten und Produktionsfirmen bis zu den Beteiligten in der Produktion (Buch, Regie, Darstellung, Technik etc.) und die Formen und die Reichweite der Distribution (gerade auch Fragen der internationalen Verbreitung). Von besonderem Interesse im Zuge eines medien- und kulturgeschichtlichen Zugangs sind genauso die Aufnahme der Serien und deren Rezeption durch das Publikum. Letzteres kann zumindest ansatzweise durch die Heranziehung von Publikumsquoten und des Presseechos, auch über Zuschriften an die Sender und bei neueren Serien über Kommentare im Internet recherchiert werden. Dabei ist zu erkennen, dass in allen drei Bereichen, Produktion, Distribution, Rezeption, seit Beginn der Fernsehseriengeschichte in den 1950er-Jahren der transnationale Charakter dieses Formates eine wichtige Rolle spielte. Viele Serien wurden von Anfang an für eine internationale Vermarktung geplant, häufig auch in transnationaler Zusammenarbeit produziert. Sie waren auf international aktive Distributionsunternehmen angewiesen, deren Existenz sie wiederum sicherten, und sprachen Publiken in unterschiedlichen nationalen und kulturellen Bezügen an, die je eigene Formen der Aneignung der Serieninhalte entwickelten. Dabei ist die deutliche Dominanz von US-amerikanischen Produktionen nicht zu übersehen, denen aber von europäischen Sendeanstalten wie der BBC oder der RAI Gegenentwürfe zur Seite gestellt wurden, die teilweise wiederum in den transatlantischen Austausch gingen. Unterschiedliche Formen der transnationalen Produktion und Distribution wie Programmhandel, Koproduktionen oder Formathandel traten mit zeitlich differenzierten Schwerpunkten in einem zunehmend globalisierten Austausch nebeneinander auf.

Eine Serie wie „Heimat“, geplant und realisiert von dem erfahrenen Autorenfilmer und Mitinitiator des „Oberhausener Manifests“ von 1962 Edgar Reitz im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks und des Senders Freies Berlin für das Sonntag- und Mittwochabendprogramm, letztlich auch in Spielfilmqualität für große internationale Filmfestivals produziert, unterscheidet sich nahezu allen Parametern nach von in höchst rationalisierten und standardisierten Verfahren als Begleitprogramm der Fernsehwerbung hergestellten Episodenserien. Dass daher historisch orientierte Fernsehserienforschung nicht auf inhaltlicher Analyse stehen bleiben darf, leuchtet wohl unmittelbar ein.

Gleichwohl kommt auch im geschichtswissenschaftlichen Zugang zur TV-Serie dem gezeigten Inhalt eine erhebliche Rolle zu, vermittelt er doch die zur Entstehungszeit der Serie virulenten Vorstellungen und Perspektiven auf ihre Themenbereiche. „Heimat“ steht demnach für den Blick seiner Produzentinnen und Produzenten auf das Dorf, der zeitbedingt erscheint, hier eben in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre. Es gilt daher diesen Blick zu kontextualisieren. Dass die solchermaßen manifestierten Vorstellungen von Dorf wiederum vorgeprägt sind von literarischen und medialen Traditionen, in diesem Fall aber auch von biografischen Erfahrungen des Autors, verlangt nach Einordnungen. Bilder vom Dorf, transportiert über Romane des 19. Jahrhunderts, Theaterstücke oder Filme, präfigurieren Vorstellungen, die in eigene Umsetzungen des Themas münden (Nell/Weiland 2014: 20, 23, 30; Zimmermann/Mahlerwein/Maldener 2018: 10–12). So wurden in die Geschichten der „Heimat“ zwei Traditionen der Dorfgeschichten eingeschrieben: Das Dorf erscheint als eigenen Gesetzlichkeiten folgender sozialer Raum mit etlichen Bezügen zu vormodernen Formen von Zusammenleben, gleichzeitig aber auch im deutlichen Modernisierungsprozess inbegriffen. Neben den Auswirkungen der politischen und ökonomischen Umbrüche auf das Dorf sind es hier gerade auch die Aneignungen von neuen Medien, die in ihrer transformativen Kraft gezeigt werden (Zeitung, Fotografie, Radio, Kino, Fernsehen). Auch werden in der – auch durch Musik, Kameraführung, Farbgebung (etwa sparsamer Einsatz von Farbe im Schwarzweiß-Film) – betont künstlerisch gestalteten und in ihrer Gesamtaussage sehr ernsthaft mit den vielfältigen Themen umgehenden Serie komödiantische Elemente eingearbeitet. Diese erscheinen aus „Volksschwänken“ und anderen Bearbeitungen des Dorfthemas bekannt. Einzelne Figuren wie die „Mariegot“ und der „Glasich“, das Verhalten von Eduard, einem der Hauptträger der Handlung, und seiner Frau Lucie stehen hierfür als Beispiel.
Ablesbar und historisch einzuordnen sind den Serienhandlungen eingeschriebene zum Entstehungszeitpunkt aktuelle Themen. In vielen Untersuchungen zu Fernsehserien wird dem Thema der Beschreibung von Geschlechterrollen Vorrang zugemessen. Auch hier fallen die vielen handlungsstarken Frauen auf, die in Beziehung gebracht werden können zu den Diskursen dieser Zeit. Darüber hinaus können in „Heimat“ der positive Bezug zur Region und der konsequente Einsatz von Dialekt (der auch in der internationalen Distribution nicht durch Synchronisation abgelöst wurde, sondern durch die Einblendung von Untertiteln auch dem nicht-deutschsprachigen Publikum als Klang präsentiert wurde) als zeitbezogene Elemente im Rahmen der Neubewertung von Regionalität und der Renaissance von Dialekten verstanden werden. Auch die in den letzten Folgen der Serie angeprangerte Zerstörung der Zeugnisse regionaler Bautraditionen, die Verschandelung der alten Bauernhäuser durch Baumarktelemente, nimmt die Diskussionen jener Jahre auf. „Heimat kaputt“ kommentierte schon der „Spiegel“ in seiner Filmkritik im Jahr 1984 genau dieses Phänomen, die Kritik daran als Folge eines „verstärkten Regionalismus“ (Spiegel 40/1984).

Drittens ist die Darstellung von Geschichte in Serien ein Thema, das die geschichtswissenschaftliche Fernsehserienforschung notwendigerweise besonders interessiert (Mahlerwein/Zimmermann 2020: 53–55). Auch hier kann „Heimat“ exemplarisch stehen. Als – so der Untertitel – „Eine deutsche Chronik“ wird die deutsche Geschichte zwischen 1918 und 1982 aus der Perspektive des Hunsrückdorfes erzählt. Die Absicht, der historischen Realität möglichst nahe zu kommen, ist an der sorgfältigen Ausstattung zu erkennen. Architektur, Mobiliar, Geräte, Kleidung, alles ist gut recherchiert. Ebenso sind die sozialen, ökonomischen und politischen Themen der jeweils dargestellten Zeit glaubhaft getroffen. So entsteht eine Erzählung einer Dorfgeschichte in der longue durée, die ein nicht akademisches, aber wissenschaftlich untermauertes Geschichtsbild anbieten will. Neben das „Dorf des Realen“ tritt aber auch das „Dorf des Allegorischen“ (Nell/Weiland 2014: 37): „Heimat“ will mehr sein als eine Dorfgeschichte, eben als „Deutsche Chronik“ eine Welt im Dorf darstellen, die Handlungsspielräume von Akteurinnen und Akteuren in der deutschen Geschichte zwischen 1918 und 1982 nachzeichnen. Die explizite Aussage von Reitz, seine Serie sei als Reaktion auf die Serie „Holocaust“ konzipiert, unterstreicht das (Rauch 2018: 227). Die kontroversen Diskussionen, die schon 1984 einsetzten über die angemessene Darstellung der Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden und der Vorwurf, Reitz blende den jüdischen Anteil an der deutschen Geschichte aus, zeigen, dass der Anspruch mehr als eine Dorfgeschichte zu zeigen, in der Kritik erkannt wurde (Rauch 2018: 278–286).

Abzulesen ist der Serie auch der Stand der geschichtswissenschaftlichen Debatten der Entstehungszeit. Die Anregungen der Alltagsgeschichte, der Anspruch, eine „Geschichte von unten“ zu schreiben, zeigen sich hier nicht nur in der Quellenrecherche, die dem Methodenrepertoire der Geschichtswerkstätten nahekommt: Über Zeitzeugeninterviews, teilnehmende Beobachtung und eigene biografische Erfahrungen näherten sich Reitz und sein Coautor Peter Steinbach ihrem Thema an (Kordecki 2020: 208). Auch die Umsetzung in Filmhandlung zeigt Parallelen zu den Ideen der Alltagsgeschichte: Gezeigt werden Akteurinnen und Akteure, die im Sinn der neuen historiografischen Ansätze nicht als Opfer der Verhältnisse dargestellt werden, ihre Handlungsspielräume und -grenzen, ihre Aneignungen von außen kommender Einflüsse, ihr Anteil am Geschehen der Zeit, an der deutschen Geschichte. So werden die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus in einem Spektrum gezeigt, das von kritischer Distanz über opportunistisches Mitmachen bis zu fanatischem Agieren einschließlich des Begehens von Kriegsverbrechen reicht, sehr häufig aber gerade die Ambivalenzen der Charaktere aufzeigt. Und auch der „Ausverkauf der Heimat“ in den Nachkriegsjahrzehnten, der Verkauf von Mobiliar und Baubestandteilen als Antiquitäten und deren Ersatz durch industrielle Massenware, wird von einem Schabbacher, Ernst Simon, dem zweiten Sohn der Hauptfigur Maria, unter begeisterter Partizipation der Dorfbewohner betrieben. Auch hier sind die Schabbacher nicht Opfer.
Ein viertes Themenfeld ist die Abgleichung dessen, was in den Serien als „real“ angeboten wird, abzuleiten aus den Erkenntnissen historischer und soziologischer Forschung. Schon in einer frühen Bearbeitung des Themas nahm der Medientheoretiker Knut Hickethier den Realitätsbezug von Serien ernst: Serien gäben „Einblicke in fremde Lebenszusammenhänge“, sie wählten einen besonderen „Schauplatz handelnder Figuren“ und zeigten mögliches „Verhalten in Situationen“ in einer Weise, wie das Einzelproduktionen nicht könnten (Hickethier 1991). Am Thema der Serien mit Bezug auf Dörfer sollten folglich die Ergebnisse der historischen und gegenwartsbezogenen Erforschung ländlicher Gesellschaften herangezogen werden, um zu beurteilen, welche Themen aufgenommen und fiktional gestaltet wurden, welche Themen aber auch fehlen. Das kann verstanden werden als Analyse des Diskurses über Dörfer im speziellen Segment der seriellen fiktionalen filmischen Erzählung. Wie dieser Diskurs wiederum die Wahrnehmung des Publikums prägt und gerade dem dörflichen Publikum Handlungsoptionen eröffnet oder beim städtischen Publikum Erwartungen auslöst, deren Erfüllung etwa beim touristischen Erleben von Land und Dorf oder nach dem Umzug auf das Land eingefordert wird und die somit wirkungsmächtig werden, ist allein aus methodischen Gründen schwer nachzuweisen. Dass aber zwischen medialen Konstruktionen von Dörflichkeit und sozial- und kulturhistorisch ebenso wie sozial- und kulturwissenschaftlich evidenten Ausprägungen dörflicher Existenz eine Wechselwirkung besteht, ist anzunehmen.
In den aus einer Tagung der Gesellschaft für Agrargeschichte im Juni 2022 hervorgegangenen Beiträgen dieses Themenheftes werden die Perspektiven des hier skizzierten Forschungsprogrammes in unterschiedlicher Weise akzentuiert.
Der Beitrag von Clemens Zimmermann „Zwischen Medialität und Historizität. Das Genre der Dorfserien“ möchte anhand eines Samples von einschlägigen „Dorfserien“ im deutsch- und englischsprachigen Zusammenhang deren typische Settings und die Art und Weise aufzeigen, wie die Konstellationen dörflicher Sozial- und Machtverhältnisse dargestellt wurden. Inhaltlich zeigt sich hier zwar eine beträchtliche Varianz, doch haben die vorgestellten Serien die Gemeinsamkeit, dass sie auf dörfliche Interaktionen der Akteure innerhalb eines überschaubaren Raumes zielten, auch wenn politische Einflüsse und Konflikte von ‚außerhalb‘ eine gewisse Rolle spielen, insbesondere in der BBC-Serie „The Village“.
Das hier von Zimmermann explizit konzipierte Genre der „Dorfserie“ zeichnete sich freilich auch dadurch aus, dass in ihm Elemente anderer Genres integriert wurden, im österreichischen „Braunschlag“ satirische, in der Schweizer Produktion „Wilder“ typische Erzählmuster und Motive des Kriminalfilms. Die behandelten Serien sind insgesamt als Beitrag zu einer land- und dorfbezogenen Geschichtsschreibung zu betrachten, sie nehmen Erkenntnisse und Bilder des Dörflichen aus der einschlägigen landhistorischen Forschung auf. Am Deutlichsten zeigt sich dies bei der BBC-Produktion „The village“, wo die großen politischen und gesellschaftlichen Konflikte sich im begrenzten, aber exemplarisch gesetzten Setting des Dorfes kompromisslos wiederfinden.

Mehr Aufmerksamkeit als dem detaillierten inhaltlichen und semantischen Nachvollziehen der einzelnen Serien widmet Zimmermann der grundsätzlichen Würdigung von deren Leistung: In Ihnen wird auf das Dorf als Sozialraum detailliert und nachvollziehbar eingegangen, ein Spektrum individueller Charaktere wird entfaltet, Bewohnerinnen und Bewohner erscheinen als Handelnde, aber auch als eingespannt in Machtgefügen. Ein solche Annäherung an eine auf Historizität und dörfliche Differenziertheit zielende Darstellung konnte nur im Rahmen von „Qualitätsfernsehen“ hergestellt werden. In diesem verharren die Serien zwischen Dokumentation und Fiktion gleichsam in der Schwebe. Schließlich zeigt sich die Bedeutung des internationalisierten fernsehgeschichtlichen Kontexts, nämlich von vielfältigen Transfers der Serien.

Gunter Mahlerwein untersucht in seinem Beitrag den Stellenwert und die Darstellung von Dorf und Land in westeuropäischen Kinder- und Familienfernsehserien der 1950er- bis 1970er-Jahre. Dabei wird deutlich, dass die Heldinnen und Helden der in der internationalen Fernsehgeschichte schon früh verbreiteten und äußerst zahlreichen Kinder- und Familienfernsehserien häufig „jenseits der Stadt“, zudem oft in peripheren Regionen agierten. Diese Lokalisierung der Handlungen hatte produktionstechnische Vorteile, sie bot Überschaubarkeit, ermöglichte einen zeitnahen Produktionsrhythmus und den Übergang zu wachsend gewünschten Dreharbeiten im Freien. Inhaltlich ging es in diesem Genre aber mehr um „Land“ als um „Dorf“. In einem Überblick über die Serienproduktionen bis in die Mitte der 1970er, in denen explizit Dörfer im Mittelpunkt stehen, gelangt Gunter Mahlerwein methodisch zu einer europäisierten Perspektive, indem in der Detailanalyse französische, schwedische, englische und spanische Serien gleichermaßen berücksichtigt werden. Damit bietet sich geradezu an, die – bislang in der Forschung eher vernachlässigte – komparative Methode anzuwenden. Über die Beschreibung von Handlungsabläufen, der zur Identifikation einladenden Charaktere und den medialen Mitteln der Spannungserzeugung hinaus werden hier Dorf und Land als „Imaginationsräume“ überschaubarer sozialer Verhältnisse vorgeführt. Ebenso klärt der Autor die produktionstechnischen Voraussetzungen der Serien, deren politische Implikationen und ökonomische Zielsetzungen. Hierbei arbeitet Mahlerwein den kommerziellen Charakter der behandelten englischen Serien heraus, zeigt die politischen Interessen an der Produktion französischer Serien auf und beleuchtet mit der spanischen Produktion „Cronicas de un pueblo“, wie basierend auf franquistischer Ideologie ein idealisiertes, konfliktfreies Bild des Zusammenlebens gezeichnet wurde.

Ferner geht es in der Analyse um die Platzierung der Serien in den jeweiligen Programmabläufen und die jugendpädagogischen Rahmenbedingungen. Letztere steuerten wiederum die Möglichkeiten, die Serien innerhalb des ‚normalen‘ Erwachsenenprogramms im expandierenden Fernsehmedium zu zeigen, das durch die Konkurrenz zwischen der öffentlich-rechtlichen BBC und der sehr aktiven Privatsenderkette ITV dynamisiert wurde.
Das Ziel des Beitrags „Das Dorf als Keimzelle der DDR in der Fernsehserie ‚Märkische Chronik‘ (1983/89)" von Alina L. Just ist, zur Analyse des medialen Formats „Dorfserien“ beizutragen. Diese wurden im Kontext der Absicherung der DDR-Herrschaftsordnung als wesentlich besser geeignet eingeschätzt, zu einem „mehrheitsfähigen Narrativ der sozialistischen Werteordnung“ beizutragen als Filme. Die SED traute ihnen zurecht zu, mit unterhaltenden Angeboten mehr emotionale Teilhabe im Fernsehpublikum erreichen zu können als mit klassischen Filmen. Im Zeitalter der seit den 1970er-Jahren scharfen Medienkonkurrenz zwischen der DDR und der Bundesrepublik ging es der SED darum, das Fernsehpublikum der DDR attraktiver als bislang zu gestalten. Hier standen Serien im Vordergrund des Interesses.

Nach der Herausarbeitung dieses medienhistorischen und -politischen Hintergrunds behandelt die Autorin in einem zweiten Schritt die Serie „Märkische Chronik“, die 1981/82 als „Hauptwerk“ im DDR-Fernsehen etabliert wurde. Alina L. Just zeigt auf, dass in der „Märkischen Chronik“ ein spezifisches Bild von Dorf „als Ort spezifischer sozialistischer Soziabilität und Historizität“ vermittelt wurde. Das Dorf erschien hier prononciert als „Ort des Fortschritts“. Dazu waren die medialen Settings und Charaktere attraktiv zu gestalten. Es bot sich an, die mediale Strategie von Personalisierung und Lokalisierung zu verfolgen, ebenso, tragende Rollen mit populären Darstellerinnen und Darstellern zu besetzen. Im Folgenden wendet sich Just den entscheidenden Motiven der Dorfserie zu: Den zur Identifikation einladenden Aktionen zur Umverteilung der Güter, insbesondere des Bodens, also der „Bodenreform“, dem Dorf als Ort des „Kampfes gegen den Faschismus“, und als Ort, wo integrative Leistungen sozialistischer Dorfpolitik wohl überzeugend vorgeführt wurden, v.a. durch die Einführung von „Sympathiefiguren“. Das filmische Dorf erweist sich in der „Märkischen Chronik“ als „Labor“, wo sich das „Bündnis mit der Sowjetunion“ mittels Aktion und Handlungsträgern manifestierte.

Insgesamt stellt sich die „Märkische Chronik“ als attraktiver medialer Ansatz dar, bei dem es gelang, die Ebene politischer Identifikationsangebote mit der Schilderung privater Horizonte zu verbinden.

Auf der Grundlage seiner umfangreichen Studien zur beliebtesten Krimireihe Deutschlands, dem „Tatort“, stellt Christian Hißnauer am Beispiel ausgewählter Episoden aus den Jahren 1973–2019 sich verändernde Sichtweisen auf die „Provinz“ und das „Land“ vor. Ausgehend von der zuletzt von Nell/Weiland 2014 ins Spiel gebrachten Typologie von medialen Diskursivierungsstrategien, die Dörfer des Realen, des Allegorischen und des Fiktionalen unterscheidet, zeigt Hißnauer Verschiebungen in der Darstellung von Dorf und Land auf. Überwog in den Fallbeispielen der siebziger Jahre das Bild des Fremden gegenüber feindseligen Dorfes, das auch mit Mitteln aus anderen Genres (Western) allegorisch als „Provinz“ gekennzeichnet wird (und wodurch die Deutungen der neueren Agrarsoziologie von Dörflichkeit als „soziale Interaktionsform“ und „Netzwerkbildung“ bestätigt werden), so spiegelt sich die Neubewertung und Aufwertung von „Provinz“ in Episoden seit den 2000er-Jahren nicht zuletzt auch in der Stellung von Kommissarinnen und Kommissaren, die nicht zwangsläufig aus der Stadt zum Einsatz auf dem Land gerufen werden und so als fremde Eindringlinge erscheinen müssen, sondern die sich selbst als Teil der „Region“, der „Provinz“ empfinden. Dass aber auch diese Provinz letztlich unheimlich bleibt, voller Gefahren steckt, zeigt nicht nur die – in einer literarischen Tradition stehende – Darstellung des Schwarzwaldes als „mythischer Ort“, als „Ort der Verdrängung“ voller Geheimnisse, sondern auch die mehrfache Bearbeitung des Themas der „völkischen Siedler“ im „Tatort“ der letzten Jahre.

Marjolaine Boutet behandelt in ihrem Beitrag zu “Un village français“ eine ausgesprochen erfolgreiche französische Serie aus den Jahren 2009–2017. Sie verdankt ihre Entstehung dem Trend zu „Qualitätsfernsehen“, was bedeutet, dass hier eingehend und hoch differenziert historisches Geschehen nachvollzogen wird. Dies geschieht im Rahmen des (fiktiven) Ortes Villeneuve, der an der Grenzlinie zwischen okkupiertem französischem Staatsgebiet während der deutschen Besatzung und dem vom Vichy-Regime kontrollierten angesiedelt wird. Das beherrschende Thema ist das der Kollaboration, das nach sehr langen und strittigen Deutungskonflikten in der französischen Öffentlichkeit schließlich an einem Punkt angelangt scheint, bei dem es heute möglich ist, historische Verstrickungen und Aktionen jenseits kruder Schemata darzustellen.
Gezeigt werden die Probleme des Besatzungsalltags im ländlichen Kontext, Aktionen der Resistance und die prekäre Stellung jüdischer Menschen in „Villeneuve“. Die Charaktere sind (gegenüber früheren Meistererzählungen) ‚gemischt’: Es gibt sowohl eindeutige Kollaborateure als auch zum aktiven Widerstand bereite Protagonisten wie auch solche, die sich im Verlauf der weit gestreckten Serie immer wieder neu positionieren.
Geradezu provokativ ist die Hauptfrage von Marjolaine Boutet danach, ob hier überhaupt, wie der Serientitel beansprucht, ein „Dorf“ gezeigt wird. Oder ist Villeneuve vielmehr als eine Kleinstadt zu betrachten? Dort ist ein Teil der Verwaltung des Departements angesiedelt, somit die staatliche Macht direkt präsent. Die ganzen Verhältnisse und viele Akteure hier erscheinen, so Boutet, eher als städtisch. Jedenfalls könnte man die Geschichte prinzipiell auch in Städten ansiedeln. Der als dörflich gekennzeichnete Handlungsraum wird vielmehr eher strategisch als mediales Mittel eingesetzt, die komplexen Individualitäten und miteinander verwobenen Geschehnisse übersichtlich zu gestalten. Über die erreichte historische Komplexität der Serie hinaus ist ihre Leistung, die Nuancen und Wandlungen von menschlichen Motiven und Einstellungen sichtbar zu machen, was in einer geschlossenen filmischen Filmhandlung nicht gelingen könnte. So erscheint hier ein weiteres Mal das mediale und historiographische Potenzial serialisierter Erzählungen.

Literatur:

o.A.: „Geh über die Dörfer“ in: Der Spiegel 40 (1984), S. 252–261.
Marco Agnetta / Markus Schleich (Hrsg.), Folge um Folge. Multiple Perspektiven auf die Fernsehserie, Hildesheim 2020.
Ib Bondebjerg, Screening Twentieth Century Europe: Television, History, Memory, Cham 2020.
Knut Hickethier, Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, Lüneburg 1991.
Sarah Kordecki, Und ewig ruft die Heimat … Zeitgenössische Diskurse und Selbstreflexivität in den Heimatfilmwellen der Nachkriegs- und Nachwendezeit, Göttingen 2020.
Alexandra Ludewig, Verfilmte Dörfer, in: Werner Nell / Marc Weiland (Hrsg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2019, S. 276–285.
Gunter Mahlerwein / Clemens Zimmermann, Von den Kindern von Bullerbü bis zu Netflix. Fernsehserienforschung in Sicht der Geschichtswissenschaft, in: Marco Agnetta / Markus Schleich (Hrsg.), Folge um Folge. Multiple Perspektiven auf die Fernsehserie, Hildesheim 2020, S. 45–62.
Susanne Marschall, Filmwissenschaft, in: Werner Nell / Marc Weiland (Hrsg.), Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2019, S. 62–68.
Karin Moser, „Wir wollten Geschichte von unten erzählen“: Alpensaga und Arbeitersaga als Schlüsselmomente einer neuen Geschichtsvermittlung, in: Wolfgang Straub (Hrsg.), Alpensagas und Modelldörfer. Heimatbesichtigungen in Literatur und Film (=Archiv der Zeitgenossen, Schriften Bd. 6), Innsbruck 2020, S. 231–256.
Werner Nell / Marc Weiland, Imaginationsraum Dorf, in: Werner Nell / Marc Weiland (Hrsg.), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld 2014, S. 13–50.
Raphael Rauch, „Visuelle Integration“? Juden in westdeutschen Fernsehserien nach „Holocaust“, Göttingen 2018.
Claudia Stockinger, Dorf in Serie? Von der Gartenlaube zum Tatort, in: Magdalena Marszalek / Werner Nell / Marc Weiland (Hrsg.), Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld 2018, S. 37–61.
Jörg Türschmann, Dorfchroniken. Wie TV-Serien von Menschen auf dem Land erzählen, in: Sabine Schrader / Daniel Winkler (Hrsg.), TV Glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate, Marburg 2014, S. 140–160.
Clemens Zimmermann / Gunter Mahlerwein / Aline Maldener, Einleitung: Landmedien und mediale Bilder von Ländlichkeit im 20. Jahrhundert, in: Clemens Zimmermann / Gunter Mahlerwein / Aline Maldener (Hrsg.), Landmedien. Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert (JGLR 15) 2018, S. 7–19.

Inhaltsverzeichnis

Gunter Mahlerwein und Clemens Zimmermann
Editorial. Das Dorf in Fernsehserien
S. 7–15

Clemens Zimmermann
Zwischen Medialität und Historizität: Das Genre der Dorfserien
S. 17–32

Gunter Mahlerwein Jenseits der Stadt. Dorf und Land in westeuropäischen Kinder- und Familienfernsehserien der 1950er- bis 1970er-Jahre
S. 33–48

Alina L. Just
Labor des Sozialismus. Das Dorf als Keimzelle der DDR in der Fernsehserie „Märkische Chronik“ (1983/89)
S. 49–62

Christian Hißnauer
Der Häcksler, das Dorf und der Tod. Provinzerkundungen in der Krimireihe Tatort
S. 63–80

Marjolaine Boutet
Is Un Village français really a village?: a French historical TV series and the representation of the countryside
S. 81–95

Rezensionen

Dieter Gottschalk (Hrsg.), …dem ist sein paden nuetz und guet. Badhäuser und Bader in Franken (Johann Kirchinger)

Thomas Schürmann, Höfe vor der Nachfolge – Landwirtschaft und bäuerliches Selbstverständnis im Oldenburger Münsterland. (Janna Luisa Pieper)

Corinne Marache, Les petites villes et le monde agricole (Gloria Sanz Lafuente)

Johannes Bracht, Ulrich Pfister Landpacht, Marktgesellschaft und agrarische Entwicklung. Fünf Adelsgüter zwischen Rhein und Weser, 16. bis 19. Jahrhundert. (Frank Konersmann)

Sebastian Rick, Die Entwicklung der SED-Diktatur auf dem Lande. Die Landkreise Liebenwerda und Schweinitz in der Sowjetischen Besatzungszone 1945–1949 (Johann Kirchinger)

Eberhard Schulze, Die Wanderversammlung der deutschen Land- und Forstwirthe 1837 bis 1872 – Vorläuferin der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft. Ihre wichtigsten Aktivitäten und Ergebnisse zu Agrarpolitik und Agrarökonomie, Acker- und Wiesenbach, Viehzucht sowie Kulturtechnik einschließlich der Nutzung von Naturwissenschaft und Technik (Johann Kirchinger)

Martin Bauch, Gerrit Jasper Schenk The Crisis of the 14th Century. Teleconnections between Environmental and Societal Change? (Werner Rösener)

Fabian Kümmeler, Ländliche Lebenswelten und Gemeinschaften im venezianischen Dalmatien (1420–1499) (Nicolò Villanti)

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