Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 69 (2021), 2

Titel der Ausgabe 
Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 69 (2021), 2
Weiterer Titel 
Kolonialismus und Landwirtschaft

Erschienen
Frankfurt/M. 2021: DLG-Verlag
Preis
Abopreis 81,00 EUR, Einzelheft 40,00 EUR

 

Kontakt

Institution
Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie : ZAA
Land
Deutschland
c/o
Geschäftsführende Herausgeber: Johann Kirchinger (johann.kirchinger@theologie.uni-r.de); Gunter Mahlerwein (guntermahlerwein@aol.com). Versand: DLG-Verlag GmbH ZAA Redaktion Eschborner Landstr.122 60489 Frankfurt Tel.: 0 69/2 47 88-451 Fax: 0 69/2 47 88-480 dlg-verlag@dlg-frankfurt.de
Von
Gunter Mahlerwein

Editorial: Für eine Kolonialgeschichte der Landwirtschaft
Birgit Metzger, Johann Kirchinger

Einleitung
Die Geschichte des Kolonialismus ist en vogue. Nachdem der deutsche Imperialismus über viele Jahre als eine flüchtige Episode galt und der deutsche Beitrag zum kolonialen Handel und zu kolonialen Herrschaftsverhältnissen inklusive dem Sklavenhandel vor Beginn und nach dem Ende der formalen Herrschaft lange ignoriert wurde, widmen gegenwärtig Historiker:innen, Ethnolog:innen und Kunsthistoriker:innen an Universitäten, Museen und Archiven ebenso wie zivilgesellschaftliche Akteur:innen der kolonialen europäischen Expansion unter deutscher Beteiligung sowie deren Konsequenzen verstärkt Aufmerksamkeit. Angefacht wurde das Interesse unter anderem durch Debatten um prominente Projekte wie das Humboldtforum, das zwischen 2012 und 2020 in den rekonstruierten Fassaden des historischen Berliner Schlosses gebaut wurde und das unter anderem die Bestände des ethnologischen Museums aufgenommen hat. Die Sammlung umfasst Stücke aus kolonialen Kontexten, über deren Provenienz und Restitution seit 2015 öffentlich, politisch und wissenschaftlich kontrovers debattiert wird. Ein prominentes Beispiel sind die so genannten Benin-Bronzen, die 1897 von britischen Kolonialtruppen aus dem Königspalast in Benin-Stadt geraubt wurden, bevor die Stadt selbst niedergerissen und in Brand gesetzt wurde. Bereits in den 1970er Jahren und erneut 2019 forderte Nigeria die Rückgabe der Bronzen (Hicks 2020).

Das gegenwärtige öffentliche Interesse an der Kolonialgeschichte lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Es richtet sich besonders auf erinnerungspolitische und erinnerungskulturelle Themen, wie etwa die Frage nach der Restitution von Kulturgütern aus Museen und Sammlungen, den Umgang mit Denkmälern und Straßennamen, die auf den Kolonialismus und zum Teil auf Gewalt und Krieg verweisen. Auch im Zuge der Black Lives Matter-Proteste, die sich in erster Linie gegen rassistische Übergriffe auf Schwarze bzw. People of Color richtete, wurden koloniale Denkmäler in verschiedenen Städten weltweit gestürzt und ein radikales Umdenken in Bezug auf koloniale Erinnerungsorte und das koloniale Erbe gefordert.

Zwei Aspekte fallen an dieser Debatte auf: erstens das ausgeprägte Interesse an Kultur, zweitens die Bedeutung, die der Aufarbeitung der Geschichte für das Verständnis der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft beigemessen wird. Eine Erklärung dafür ist, dass Kulturgüter und Denkmäler einen hohen symbolischen Wert haben und im Prinzip relativ leicht entkolonialisiert werden könnten: Straßen können umbenannt werden, Denkmäler demontiert oder umgewidmet, Kunstwerke restituiert. In dieser aktuellen Debatte spiegelt sich auch der Einfluss der postcolonial studies wider. Diese haben seit den 1980er Jahren international bzw. seit den 1990er Jahren in Deutschland die Kolonialgeschichtsschreibung tiefgreifend verändert. Im Zentrum stehen dabei die Wechselbeziehungen zwischen kolonisierten und kolonisierenden Gesellschaften, wobei vor allem kulturelle Auswirkungen von kolonialer Herrschaft in den Kolonien wie in den Metropolen in den Blick genommen werden, ebenso wie kolonial geprägte und prägende Diskurse und Wissenssysteme. Kulturgüter sind vor diesen Hintergründen zu Symbolen der kolonialen Erniedrigung ebenso wie zu Symbolen für das Ringen um Identität und Selbstbestimmung geworden.

Auch die Landwirtschaft hat ein umfangreiches und vielfältiges koloniales Erbe. Dieses erhält in der öffentlichen und in der wissenschaftlichen Debatte aber nur marginale Aufmerksamkeit, wenn man von kleinen Kreisen von Aktivisten absieht. Agrarische Gesellschaften und landwirtschaftliche Tätigkeiten inklusive Viehzucht haben zwar in den meisten Überblicksdarstellungen zur Kolonialgeschichte ihren Platz, zumeist in Kapiteln zur Wirtschaft, als eigenständiges Thema ist die Kolonialgeschichte der Landwirtschaft aber weder in der Kolonial- noch in der deutschsprachigen Agrargeschichte etabliert. Anliegen dieses Heftes ist es zu zeigen, warum es sich lohnt, sich (erneut) damit auseinanderzusetzen.

Themen und Perspektiven der Forschung
„Kolonisation“ beschreibt den Prozess der Landnahme, „Kolonialismus“ ein Herrschaftsverhältnis, das sich durch kulturelle Fremdheit zwischen Herrschenden und Unterworfenen auszeichnet. In der Geschichte gibt es viele verschiedene Formen der Kolonisation und der Errichtung kolonialer Herrschaftsverhältnisse (vgl. Osterhammel/Jansen 2017: 7-28; Reinhard 2020). Die neuzeitliche europäische Expansion zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert lässt sich dadurch charakterisieren, dass die Kolonialherren von ihrer kulturellen Höherwertigkeit überzeugt waren, dementsprechend wenig anpassungswillig an die Verhältnisse und Lebensweisen in den Kolonien, und Entscheidungen über das Leben der Kolonisierten vorrangig zugunsten externer wirtschaftlicher Interessen trafen: Ganze Kontinente sollten in Ausbeutungszonen von Rohstoffen und Menschen zugunsten der europäischen Metropolen verwandelt werden.

Die neuere Forschung betont, dass die Fokussierung der Geschichtsschreibung auf nationale Kolonialreiche zu kurz greift. Vielmehr müssen die Aktivitäten von nichtstaatlichen Akteur:innen wie Entdeckungsreisenden und Abenteurern, Kaufleuten, Landwirten, Missionar:innen, Wissenschaftler:innen und Militärs sowie ihre Verflechtungen zwischen und über die verschiedenen Kolonialreiche hinweg in den Blick genommen werden. Auf diese Weise geraten auch europäische Länder in den Fokus, die keine eigenen Kolonien besaßen, aber vielfältig in den Kolonialismus verstrickt waren, wie zuletzt am Beispiel der Schweiz für Lebensmittelprodukte und den Handel mit Rohstoffen wie Kaffee, Baumwolle oder Kautschuk gezeigt wurde (Fenner 2015; Haller 2019). Die neuere Forschung weist außerdem auf die Zusammenhänge mit der Geschichte der globalen Vernetzungen und die Bedeutung transimperialer Austauschprozesse hin (z.B. mit Blick auf den Naturschutz Kirchberger 2010). Als besonders wichtig ist die Berücksichtigung der Erfahrung der Kolonisierten bzw. die Erfahrung der „kolonialen Situation“ anzusehen, die bei allen Unterschieden übergreifend durch Herrschaft, Ausbeutung und kulturelle Konflikte geprägt war (Osterhammel/Jansen 2017: 30).

Welche Bedeutung hat die Agrargeschichte innerhalb der Geschichte der europäischen Expansion und der kolonialen Herrschaft? Und in umgekehrter Perspektive: Welche Rolle spielt die Kolonialgeschichte für die Geschichte der Landwirtschaft?

Zunächst kann die agrarhistorische Perspektive den Blick auf globale Ähnlichkeiten von Agrar- und Bauerngesellschaften eröffnen: Landwirtschaft, definiert als Umgang mit domestizierten Pflanzen- und Tierarten, ist ein globales Phänomen. Überall auf der Welt, auch in Europa, in kolonisierenden und in kolonisierten Gesellschaften, gewann die große Mehrheit der Menschen zwischen dem 15. und dem beginnenden 20. Jahrhundert ihren Unterhalt aus landwirtschaftlichen Tätigkeiten. Diese Menschen arbeiteten mit dem Boden, mit Pflanzen und Tieren, waren größtenteils im Freien und abhängig vom Wetter. Hierin liegt eine globale Gemeinsamkeit, die das alltägliche Leben vieler Menschen auf der Welt miteinander verband, ohne dass die Betroffenen voneinander wussten. Im Alltagsverständnis und in den Alltagspraktiken spielten die konkreten Bedingungen vor Ort, die wiederum sehr unterschiedlich waren und sind, eine herausgehobene Rolle. Bodenbeschaffenheit, Niederschlagsmenge und -häufigkeit, Temperaturen und Sonneneinstrahlungen sowie die verfügbaren kultivierten oder kultivierbaren Pflanzen machten ganz unterschiedliche Praktiken erforderlich und führten zu einer Vielfalt agrarischer Produktion. Für einen Vergleich von agrarischen Produktionsformen und des ländlichen Lebens bieten sich drei Kategorien an: die biologisch-ökologischen Grundlagen, Betriebsformen und Arbeitsregime sowie Eigentumsverhältnisse. Ein Teil der Forschung kommt so zu überraschenden Ähnlichkeiten von Agrargesellschaften in verschiedenen Regionen auf der Welt, beispielsweise in Teilen Indiens, Chinas und Westeuropas im 19. Jahrhundert, wo Bauern rechtlich frei waren, teilweise für den Markt produzierten und deren wichtigste Einheit des Wirtschaftens die Familie war, ergänzt um Gesinde und Lohnarbeiter (Osterhammel 2010: 960-970). In diesem Kontext wurde auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion, bäuerlicher Lebensweise und der Funktionsweise von (kolonialer) Herrschaft gestellt (z.B. Spittler 1981). Die Beziehungen zwischen bäuerlicher indigener Bevölkerung und dem (kolonialen) Staat waren an vielen Orten lange vor allem durch Steuern, Zwangsarbeit und teils Militärdienst gekennzeichnet. Neuere Studien verweisen auch hier auf Parallelen der Bevölkerungs- und Arbeitspolitik zwischen europäischen Peripherien wie den östlichen Provinzen Preußens und überseeischen Kolonialgebieten wie etwa Südwestafrika (Lerp 2016). Hier wie da habe der Lebensraumbegriff durch die Verbindung von „Agrarideologie und Lebensraumimperialimus“ (Lerp 2016: 197) zu einem „neuen Verständnis von Raum und Bevölkerung“ (ebd. 200) geführt.

In großen Teilen der Welt nahm die Bedeutung der Landwirtschaft im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weiter zu, denn die „Frontiers“, das heißt die sich ständig verschiebende Übergangszone zwischen besiedelten und noch nicht erschlossenen Gebieten, waren meist agrarische Erschließungen. Pioniere waren Pflanzer, Siedler und Rancher, aber auch Kleinbauern, etwa in den chinesischen Hochländern und in Afrika (Osterhammel 2010: 961). In verschiedenen Teilen der Welt entstanden Agrarlandschaften europäischen Zuschnitts mit Bauernhöfen, Großgrundbesitz und Dörfern. Die Landnahme war ein wesentliches Charakteristikum des Kolonialismus und hatte in vielen Fällen die Konsequenz, dass die einheimische Bevölkerung ihren traditionellen Zugang zu Land und die Verfügung über Boden verlor. Dies bedeutete häufig einen Verlust der traditionellen Subsistenzgrundlage und eine Verarmung der Betroffenen. Besonders in Siedlungskolonien und dort, wo unmittelbare wirtschaftliche Interessen bestanden, wurden die Einheimischen verdrängt und hochwertige Böden von europäischen Siedlern kontrolliert, so etwa in Nordamerika, Algerien oder den Siedlerregionen in Ostafrika und Südafrika.

Agrargesellschaften resultierten zum Teil selbst aus dem Kolonialismus: Ausschlaggebend dafür war die umfassende Hinwendung zum Weltmarkt und die damit verbundene Spezialisierung des Anbaus auf Exportprodukte, also Cash-Crops. Nomadische Lebensweisen wurden zurückgedrängt, nicht-agrarische Tätigkeiten aufgegeben, der Bedarf an Geräten oder Textilien fortan importiert (z.B. Stürzinger 1980: 104-105). Damit etablierte sich zunehmend das kolonialwirtschaftliche Prinzip des Austauschs von Rohstoffen gegen Fertigprodukte. Diese Entwicklung setzte in Asien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, in Subsahara-Afrika zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Osterhammel/Jansen 2017: 83). Die Frage, warum bestimmte Gruppen, etwa in Afrika, zu einem bestimmten Zeitpunkt anfingen Cash-Crops für den Export anzubauen, ist schwierig zu beantworten und wird in der Literatur auf komplexe Motive zurückgeführt (z.B. für Douala Eckert 1999: 62-67). Auch die Auswirkungen auf die jeweiligen spezifischen Agrarsysteme waren sehr unterschiedlich. Spezialisierung und Arbeitsteilung gingen jedoch zum Teil so weit, dass Regionen den Bedarf an Nahrungsmitteln nicht mehr aus ihrem eigenen Anbau decken konnten.

Ein agrarhistorisch relevanter Effekt der neuzeitlichen europäischen Expansion und globalen Vernetzung war der weltweite Transfer von Tieren und Pflanzen, der unter der Bezeichnung „Columbian Exchange“ (Crosby 1972) bekannt geworden ist und der in den letzten Jahren erneut in den Fokus der internationalen Forschung genommen wurde (vgl. z.B. ZAA 61:2). Bakterien und Viren, Heilpflanzen, Genussmittel, Nutztiere und Nahrungspflanzen kamen aus der alten in die neue Welt und umgekehrt. Krankheitserreger reisten mit den europäischen Kolonisatoren in die neue Welt und führten dort in der Frühphase des kolonialen Kontaktes zu einer hohen Mortalitätsrate unter der indigenen Bevölkerung. Dies verschaffte, so die These Crosbys, den europäischen Kolonisatoren einen erheblichen Vorteil. Auf der anderen Seite wurde die altweltliche Flora durch Importe aus Amerika maßgeblich bereichert. Amerikanische Pflanzen wie Kartoffeln, Mais, Tomaten, Sonnenblumen, Kürbisse oder Tabak kamen nach Europa, Afrika und Asien und wurden in einem langwierigen Prozess in die Agrarwirtschaft und Ernährung vor Ort adaptiert. In Europa wurden die neuen Pflanzen häufig zuerst in den Gärten von Gelehrten, Adligen oder wohlhabenden Bürgern angebaut, bevor sie als Feldfrucht weitere Verbreitung fanden. Eine der heute dominanten Weltwirtschaftspflanzen, die Kolumbus von seiner Reise mit nach Spanien brachte, war Mais. Sein Ernährungswert wurde in Andalusien und Norditalien schnell erkannt, wo er bereits im 16. Jahrhundert angebaut wurde, bevor er sich weltweit verbreitete und zu einem der wichtigsten Grundnahrungsmittel für die Ernährung von Menschen in Afrika und Lateinamerika wurde (Troßbach 2013; Backes 2021). Erste Hinweise auf Kartoffelanbau in Europa finden sich ebenfalls für das 16. Jahrhundert, jedoch erst im 18. Jahrhundert setzte sich der Kartoffelanbau im großen Stil in Europa durch (Denecke 1976). Eine Forschungsdiskussion dreht sich um die Frage, inwiefern der Anbau dieser neuen Nutzpflanzen zur Ernährungssicherung einer wachsenden Bevölkerung in Europa beitrug und einen Schritt zu Agrarintensivierung darstellte (Konersmann/Mahlerwein 2007). In jedem Fall veränderten diese Transferprozesse und Adaptionen Biosphäre, Agrarwirtschaft, Ernährung sowie den Konsum weltweit und nachhaltig.

Ein Teilaspekt dieser Geschichte ist die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, die Formen kolonialer Wissensproduktion, Wissenszirkulation und Nutzung von Wissen sowie die damit verbundenen Institutionen behandelt (Habermas/Przyrembel 2013). In der frühen Neuzeit beeinflusste der Kontakt mit neuen, Pflanzen das Wissen und die Praxis von Naturforschern, Missionaren, Ärzten und Apothekern, die etwa Heilpflanzen aus Amerika und Asien beschrieben und katalogisierten (Häberlein 2007), während Frauen etwa in den Gärten Norditaliens praktisches Wissen im Umgang mit den neuen Pflanzen erwarben (Troßbach 2013: 29). Die Geschichte der botanischen Gärten begann häufig als Ort der Überwinterung für seltene tropische Pflanzen, so etwa das Pomeranzenhaus in Berlin, das 1652 errichtet wurde (Kreye 2009). Seit dem 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert entstanden botanische und zoologische Gärten, naturwissenschaftliche Museen und universitäre Fachrichtungen, Versuchsstationen und landwirtschaftliche Schulen, die in kolonialen Kontexten agierten. Hier wurden tropische Pflanzen angebaut und teils ertragreichere oder resistentere Sorten gezüchtet, die dann bei der wirtschaftlichen Erschließung der Kolonien eingesetzt werden konnten. Auch vor Ort in den Kolonien wurden zunächst Gärten und später botanische Versuchsgärten angelegt, die der Weitergabe von Pflanzen und Wissen über sie dienten, so etwa in Jamaika im 19. Jahrhundert (Taylor 2017). Wissensproduktion und kolonialwirtschaftliche wie politische Interessen waren hier eng miteinander verwoben. Eine weiterhin diskutierte Frage ist, inwiefern in kolonialen Kontexten Wissen und Erkenntnisformen der einheimischen Bevölkerung aufgenommen wurden, wie etwa bei den Forschungen der Botanikerin Gabrielle Matthaei und des Agrarwissenschaftlers Albert Howard in Indien, oder ob und wie sie im Gegenteil ignoriert wurden (Tilley 2011).

Jedenfalls wurden botanische Gärten, Zoos und Museen auch zu Bildungsinstitutionen. Hier lernten für den Einsatz in den Kolonien ausgebildete Gärtner und Landwirte (Klemun 2015). Außerdem handelte es sich um einen Schnittbereich zur europäischen Eliten- und Massenkultur, wo koloniales Wissen und Sichtweisen durch die Anschauung von lebenden wie unbelebten Natur- und Kulturobjekten aus geographisch und kulturell entfernten Regionen an ein breites Publikum vermittelt werden sollten. Dabei versprachen diese Orte ebenso wie die Kolonialausstellungen stets auch Unterhaltung, allein durch die Darbietung von Exotischem oder Musikveranstaltungen.

Afrikanische, asiatische und europäische Pflanzen wie Zucker, Tabak, Kaffee, Reis, Weizen, Bananen, Zitrusfrüchte usw. gelangten nach Südamerika, in die Karibik und nach Nordamerika. Einige von diesen Pflanzen wurden in exportorientierten Plantagensystemen angebaut. Die Geschichte der Zuckerrohr- und Baumwollplantagen ist als Teil der Geschichte des sich entwickelnden Kapitalismus geschrieben worden (Beckert 2015). Auf den Zuckerrohrplantagen der Karibik wurde fast ausschließlich für den Handel produziert. Zucker wurde zwischen 1600 und 1800 zur wichtigsten international gehandelten Ware und trieb den Welthandel an (Mintz 1987). Dabei wurde lediglich ein wenig verarbeitetes Rohprodukt exportiert, die Weiterverarbeitung erfolgte in Europa: in London, Antwerpen ebenso wie in Hamburg, Augsburg oder Dresden (Wendt 2013: 53-54). Die Geschichte von Baumwolle, Zucker, Kaffee, Kakao, Kautschuk und Tabak ist überzeugend als Geschichte globaler Warenketten und globaler Netzwerke dargestellt worden. Dadurch können lokale Verhältnisse der kolonialen Rohstoffgewinnung mit der Geschichte des Transports, der Weiterverarbeitung, die zumeist in Europa stattfand, und der Geschichte des Konsums verbunden werden (z.B. Nützenadel/Trentmann 2008; Rischbieter 2007; Ross 2019).

Bei den Plantagen handelte es sich um große profitorientierte und monokulturelle Komplexe der Pflanzenproduktion, die sich auf ein Konsumgut spezialisierten. Trevor Burnard und John Garrigus haben zuletzt die „Plantagenmaschine“ als revolutionäre Form sozialer und wirtschaftlicher Organisation beschrieben: hier fand zuerst eine industrieähnliche Produktionsweise statt (Burnard/Garrigus 2018; Mintz 1987: 77). Afrikanische Sklaven und Sklavinnen arbeiteten ähnlich wie in einer Fabrik unter einem strikten Zeitregime und bearbeiteten arbeitsteilig eine Reihe komplexer und voneinander abhängiger Aufgaben. Dies funktionierte auch deswegen, weil die Plantagenbesitzer die vollen Möglichkeiten des Kapitals ausschöpfen konnten, da es in der Karibik des 17. Jahrhunderts nicht wie woanders auf der Welt gewachsene Sozialstrukturen, feudale Abhängigkeiten oder familienzentrierte Subsistenzwirtschaft gab. So entstand die „Weltwirtschaft […] auf dem Rücken afrikanischer Sklaven“ (Beckert 2021). Die Frage, welche Bedeutung der Kolonialwirtschaft für das moderne Wirtschaftswachstum in Europa beizumessen ist, ist Teil einer grundlegenden und interessanten Kontroverse der Wirtschaftsgeschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts (vgl. für einen Überblick Kramper 2009).

Jedenfalls zeigt gerade die Geschichte der kolonialen Landwirtschaft, wie sehr die europäische Wirtschaft durch diejenige der Kolonien beeinflusst wurde. Über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen dieses Verhältnisses ist bereits viel geforscht worden. Über den Einfluss, den die kolonialen Landwirtschaftsstile (zum Begriff der Landwirtschaftsstile Landsteiner 2012; Langthaler 2012) auf die europäischen hatten, ist kaum etwas bekannt. Hier ist ein Blick auf die Biographien der kolonialen Protagonisten zu werfen, für die die Tätigkeit in den Kolonien häufig nur eine Phase in ihrem Leben darstellte. Als Beispiel soll hier nur der niederbayerische Landwirt Ludwig Gandorfer (1880-1918) angeführt werden – bekannt durch seine Beteiligung an der Novemberrevolution 1918. Bevor er den elterlichen Hof in Pfaffenberg übernahm, hatte er in Deutsch-Ostafrika eine Farm bewirtschaftet. Wie bedeutsam diese Zeit für sein Selbstverständnis war, zeigt sich daran, dass er sein Haus mit Artefakten aus Afrika dekorierte (Miyake 1978). Es entstanden transnationale Identitäten, die sich mental sowohl von den Gesellschaften in den Herkunftsländern wie von denjenigen in den kolonisierten Gebieten unterschieden, was vor allem für katholische Missionare, die sich in der Regel intensiv mit Landwirtschaft beschäftigten, bereits gut untersucht ist (Egger 2015; Hölzl 2021).

Landwirtschaftliche Arbeit war im Fall kolonialer Plantagenwirtschaft von brutaler Gewalt, unzulänglichen Bedingungen und hohen Mortalitätsraten geprägt. Formen unfreier Arbeit finden sich darüber hinaus in weiteren Teilen der Kolonialgeschichte. An vielen Orten versuchten die Eroberer die einheimische Landbevölkerung für sich arbeiten zu lassen. In Lateinamerika teilte die spanische Krone im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert Indigene als Arbeitskräfte Privatpersonen zu (so genannte Encomienda) (Bauer 1979; Reinhard 2020: 360). In Afrika kam es im Zuge der Kolonisierung im 19. Jahrhundert überall zu verschiedenen Formen bezahlter und unbezahlter Zwangsarbeit, zu denen auch Trägerdienste gehörten. Auch die Kolonialgeschichte in Afrika zeigt, dass Zwangsarbeit nicht im Widerspruch zur kapitalistischen Moderne steht, sondern dass sie ein Teil von ihrer Geschichte ist (Seibert 2016).

Die Verpflichtung zur Arbeit für die Kolonisatoren entstand nicht nur durch gewaltsamen Zwang, sondern wurde auch durch die Erhebung regelmäßiger Steuern erwirkt. Daneben war die „Erziehung zur Arbeit“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Bestandteil des rassistisch-kulturmissionarischen Diskurses und der deutschen kolonialen Politik. Hier verbanden sich ökonomische Interessen mit dem zivilisatorischen Sendungsbewusstsein: Kolonialpolitik, wirtschaftliche Unternehmen und Mission ergänzten sich (Axster 2018).

Neben der Plantagenwirtschaft bildeten die Farmwirtschaft und der Handel mit Waren aus einheimischer Produktion unterschiedliche Ansätze kolonialer Wirtschaftspolitik. Damit verbindet sich die Frage nach den Handlungsspielräumen und der Handlungsmacht lokaler Akteure: Wie partizipierten sie am Kolonialismus und wie konnten gewisse einheimische Gruppen davon profitieren? Geschichten wie beispielsweise die der Kakaoproduzenten an der Goldküste in Ghana, die mit extensiven Anbautechniken im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erfolgreich waren, oder Gummi produzierender Kleinbauern zeigen die Handlungsmacht der Kolonisierten auf (Ross 2014).

Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass sich Kolonialismus und Imperialismus zum größten Teil sozial und ökologisch negativ auf die kolonisierten Gebiete auswirkten. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass Kolonialherrschaft in weiten Teilen als „Beutewirtschaft“ charakterisiert werden kann (Reinhard 2020: 999). Besonders ausgeprägt war diese Haltung während der spanischen Herrschaft in Lateinamerika und ebenso zu Beginn der kolonialen Herrschaft in Afrika. Abenteurer, Entdecker und Händler wollten dort durch die Ausbeutung von Bodenschätzen und Naturprodukten wie Elfenbein oder Kautschuk schnelle Profite machen und schreckten dabei vor der rücksichtslosen Ausnutzung der Arbeit von Indigenen und ihrer Ressourcen nicht zurück.

Allerdings weisen besonders neuere Forschungsarbeiten darauf hin, dass bereits während der Kolonialzeit bei Teilen der kolonialen Verwaltungen, Experten und anderen Akteuren auch andere Ansätze vorhanden waren, nach denen für die kolonialen Ressourcen Sorge zu tragen und sie nach wissenschaftlichen und ökonomischen Kriterien zu verbessern oder nachhaltig zu nutzen seien. Aktuell widmen sich etwa mehrere Forschungsprojekte dem Umgang mit Nutztieren und Viehzüchtern in Deutsch-Südwestafrika/Namibia, Französisch-Westafrika, Madagaskar und Indochina, wo die Viehzucht ein zentrales Element indigener und kolonialer Unternehmungen war. Bestehende Viehbestände und Produktionssysteme galten – genauso wie die afrikanischen Gesellschaften – als verbesserungsbedürftig durch europäische Anleitung. Dazu gehörte die Verbesserung lokaler Tierrassen, die Einführung europäischer Rassen, neue Methoden zur Bekämpfung von Rinderkrankheiten, neue Formen der Tierhaltung sowie neue Strategien der Land- und Ressourcennutzung (Wedekind 2021; Coghe 2021; Zehnle/Kaufmann/König 2021). Andere Konzepte setzten auf eine gelenkte landwirtschaftliche Entwicklung und „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Büschel 2014). Die Entwicklungszusammenarbeit während und nach der Dekolonisation im 20. Jahrhundert konnte unmittelbar daran anknüpfen. Gerade in den 1960er Jahren fand diese zumeist unter den Vorzeichen von Modernisierungskonzepten statt, die sich wiederum an der spezifisch europäischen Entwicklung orientierten. Diese Zielvorstellungen von Fortschritt teilten aber längst nicht alle der Betroffenen, die Kritik zielte und zielt auf die Kontinuität europäischer Bevormundung unter anderen Vorzeichen.

Ähnliches gilt für den Naturschutz, der ebenfalls im 20. Jahrhundert als Antwort auf den Raubbau und ökologische Krisen gefordert und teils umgesetzt wurde – hier wurde wiederum die alteingesessene Bevölkerung häufig nicht involviert oder sogar ausgeschlossen (z.B. Gißibl 2016).

Die Beiträge in diesem Heft
Die vorliegende Ausgabe der ZAA verfolgt das Ziel, den Blick der deutschsprachigen Agrargeschichte um koloniale, außereuropäische und transnationale Phänomene zu erweitern. Damit möchten wir die bereits 2013 von Werner Troßbach und Clemens Zimmermann (ZAA 61:2) festgestellte Notwendigkeit, auch die deutschsprachige Agrargeschichte global zu denken, aufgreifen und um weitere Perspektiven, Themen und Zugänge ergänzen. Die Beiträge des von Zimmermann und Troßbach herausgegebenen Heftes nahmen Transferprozesse von Pflanzen, das damit verbundene Wissen und die Relevanz für die wirtschaftliche Produktion im Europa der Neuzeit in den Blick. Eva Barlösius und Clemens Zimmermann setzten diese globale Perspektive 2016 mit einem Heft über „Global Food“ fort (ZAA 64:2).

Dieses Heft fokussiert auf Landwirtschaft als ein koloniales Handlungs- und Aushandlungsfeld in der Hochphase der kolonialen Weltordnung zwischen 1880 und 1960. Der geographische Schwerpunkt liegt auf Deutschland einerseits und Ostafrika, speziell Tanganyika/Tansania andererseits, wo landwirtschaftliche Aktivitäten stark ausgeprägt waren. Zwischen dem deutschen Kaiserreich und Tanganyika bestanden zwischen 1885 und 1918 koloniale Beziehungen, 1920 übernahm Großbritannien das Mandat des Völkerbundes.

Ein Anliegen war es dabei, verschiedene Perspektiven, Themen und Zugänge aufzunehmen und zusammenzuführen: So verfolgt Karsten Linne in seinem Beitrag zur Ausbildung von Tropenlandwirten in den 1950er bis 1970er Jahren einen politik- und institutionengeschichtlichen Ansatz und geht dabei von einer klassischen europäischen Perspektive aus. Die seit 1898 bestehende deutsche Kolonialschule war 1944 geschlossen worden und wurde 1957 unter dem Namen „Lehranstalt für Tropischen und Subtropischen Landbau“ wiedereröffnet. Hintergrund war ein in der Bundesrepublik entstehendes Interesse an Entwicklungshilfe, das unter anderem auf Wissensvermittlung durch Fachpersonal setzte, das jedoch für den Bereich der „Agrarhilfe“ erst ausgebildet werden musste. Die Entwicklung der Ausbildung in Witzenhausen, so die These Linnes, folgte im Wesentlichen den Vorstellungen der bundesdeutschen Entwicklungspolitik zwischen den 1950er und den 1970er Jahren.

Johann Kirchinger ergänzt in seinem Beitrag zur kolonialen Landwirtschaft der Missionsbenediktiner von St. Ottilien die europäische Perspektive um den Aspekt der Rückflüsse und Rückkopplungseffekte aus dem Missionsgebiet in Ostafrika nach Europa. Auf der Basis missionswissenschaftlicher Publikationen zeigt Kirchinger, wie die Missionsbenediktiner in Ostafrika erstmals eine intensive und rationale Landwirtschaft erprobten, diese als kulturelle Praxis zurück nach Europa transferierten und dort an ihrer Landwirtschaftsschule popularisierten. Denn in den Augen der Benediktiner waren die bayerischen Bauern ebenso wie die Bewohner Ostafrikas zu erziehen. Nives Kinunda und Samwel Mhajida wiederum rücken die afrikanische Perspektive in den Vordergrund: Die Etablierung kolonialer Herrschaft bedeutete für die indigenen Gesellschaften vor Ort massive Eingriffe und verursachte tiefgreifende Veränderungen der Lebensweise wie der Lebensräume mit ihrer Ressourcenausstattung und Landnutzung: Im südlichen Hochland von Tanganyika/Tansania wurde die Landwirtschaft mit Beginn der deutschen Herrschaft – und fortgesetzt unter britischer Herrschaft – auf die Anforderungen der Kolonialwirtschaft umgestellt, Männer zur Arbeit verpflichtet und Steuern erhoben. Kinundas Beitrag lotet die Handlungsspielräume von Bäuerinnen in dieser Situation aus. Um der Kontrolle des Kolonialstaats zu entgehen, wanderten diese ins Killindi-Village aus. Damit konnten sie gleichzeitig den patriarchalen Familienstrukturen und damit verbundenen Zwängen entkommen. Mithilfe einer Methodenkombination von Oral History und der Auswertung von Archivdokumenten gelingt es Kinunda, eine meist schwer zu fassende Akteursgruppe sichtbar zu machen.

Mhajida zeigt die enormen sozioökonomischen Auswirkungen von kolonialen Grenzziehungen und Landzuteilungen auf die indigenen Gemeinschaften und ihr Verhältnis zueinander in Nord- und Zentraltansania zwischen dem beginnenden 20. Jahrhundert und den 1950er Jahren auf. Sowohl die deutsche als auch die britische Kolonialverwaltung verbanden ein europäisches Konzept von Grundbesitz mit der Vorstellung von ethnisch homogenen Gruppen. Mhajida beschreibt anschaulich, wie die auf Karten eingezeichneten und durch Landgesetze umgesetzten ethnischen Grenzen zu Konflikten führten: einerseits zwischen den Datoga und ihren Nachbarn, vor allem dort, wo Weideland und Wasser knapp waren, und andererseits zwischen der Regierung und den vornehmlich nomadisch lebenden Datoga. Die Beiträge von Kinunda und Mhajida zeigen erneut, dass die Erfahrung der Kolonisierten in der kolonialen Situation über klassische historische Zäsuren hinaus eine hohe Kontinuität aufwies: Mit dem Ersten Weltkrieg endete die deutsche Herrschaft in Ostafrika formal, aber die Briten übernahmen beispielsweise die deutschen Grenzziehungen und auch das britische Landgesetz unterschied sich kaum von dem früheren deutschen. Der Komplex von Herrschaft, Ausbeutung durch Zwangsarbeit und Besteuerung sowie daraus resultierenden (Kultur-)Konflikten blieb für die indigene Bevölkerung bestehen. Demgegenüber bildete die Weltwirtschaftskrise ab 1929 durchaus eine wichtige Zäsur, weil zum Beispiel der britische Kolonialstaat in den 1930er Jahren dazu anhielt, mehr Cash-Crops für den Export herzustellen, um die Auswirkungen der Wirtschaftskrise abzumildern.

Im Forum analysieren Johnny Ibraimo und Christian Herzig Reklamesammelbilder, auf die sie im Archiv der ehemaligen deutschen Kolonialschule in Witzenhausen gestoßen sind. Der Beitrag skizziert, wie sich die Geschichte des Wandels der Ernährung im Zusammenhang mit Globalisierung und kolonialer Politik verdichtet in Sammelbildern widerspiegelt und wie diese dazu beitrugen, ein rassistisches Repräsentationsregime konsumierbar zu machen und zu popularisieren. Gleichzeitig soll der Beitrag das Potenzial agrarhistorischer Lehre und Forschung im Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften verdeutlichen. Denn die Recherche ist im Kontext einer von Studierenden angestoßenen und von Dozierenden unterstützten Initiative zum Erhalt des Fachs Agrargeschichte am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaft in Witzenhausen entstanden, das bis 2017 von Werner Troßbach vertreten wurde. Seither werden die Neubesetzung der Stelle und die Fortführung seiner sehr geschätzten Lehre als fester Bestandteil des agrarwissenschaftlichen Studiums als dringendes Desiderat angesehen.

Indem sich die Beiträge auf einen relativ eng umgrenzten geographischen und politischen Raum beziehen – Deutschland und Ostafrika –, werden über die ganz unterschiedlichen Perspektiven und Themen hinweg Ansätze einer kontextbezogenen Historisierung möglich, ohne dabei transnationale und längerfristige Entwicklungen aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig konnten in diesem Heft viele Regionen und Themen nicht berücksichtigt werden: andere Teile Afrikas oder die Südsee, wo ebenfalls Viehzucht, Ackerbau und Plantagenwirtschaft betrieben wurden. Ebenso nicht berücksichtigt sind internationale Kolonialkongresse in Europa und internationale Konferenzen in den afrikanischen Kolonien, die sich mit Fragen der Optimierung, Rationalisierung und Standardisierung der Landwirtschaft befassten. Dies ist als Anregung zu verstehen auch weitere Ausgaben der ZAA dem Thema der kolonialen Landwirtschaft zu widmen, möglicherweise mit konkreten thematischen, zeitlichen oder regionalen Schwerpunkten.

Ausblick
Nahezu das gesamte globale Landwirtschafts- und Ernährungssystem enthält koloniale Spuren. Mit Beginn der europäischen Kolonialexpansion entstanden global vernetzte landwirtschaftliche Produktionssysteme wie der koloniale Zucker-, Baum- woll- oder Kautschukanbau. Seitdem schreiten die Austausch- und Transformationsprozesse in Landnutzung und Ernährungspraktiken weiter fort. Zu beobachten ist eine tendenziell immer stärkere globale Vernetzung von Agro-Food-Systemen und in der Folge Veränderungen der globalen Ernährungsgewohnheiten. Hier zeigt sich, dass eine Kolonialgeschichte der Landwirtschaft auch als Problemgeschichte der Gegenwart zu verstehen ist. Die globale Arbeitsteilung zwischen Agrar- und Industrieländern und die damit verbundene einseitige Spezialisierung auf Cash-Crops für den globalen Nahrungsmittelmarkt haben Abhängigkeiten und große soziale wie politische Ungleichheiten geschaffen, die für die bäuerliche Landwirtschaft in großen Teilen der Welt bis heute problematisch sind. So reicht das Einkommen von Landarbeiter:innen und Bäuer:innen, die für den Weltmarkt auf kleinen Flächen wirtschaften, häufig nicht aus, um die eigene Ernährung und den eigenen Unterhalt zu sichern. Unter dem Schlagwort „Landgrabbing“ wird in der Gegenwart ein Transfer in riesigem Ausmaß von nutzbarem Land an private Konzerne und staatliche Agenturen beschrieben, bei dem Millionen Menschen weltweit den Zugang zu Land verlieren (Baker-Smith/Szocs-Boruss 2016; Hall 2011). Eine Global- und Kolonialgeschichte der Landwirtschaft kann hier ansetzen und die Entstehungszusammenhänge und Entwicklungspfade dieser Problemlagen ebenso wie alternative Entwicklungen aufzeigen. Es ist Zeit, auch die Agrargeschichte zu entkolonialisieren.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Birgit Metzger, Johann Kirchinger
Editorial. Für eine Kolonialgeschichte der Landwirtschaft (7-19)

Johann Kirchinger
Rückkoppelungseffekte. Thesen zur Bedeutung der kolonialen Landwirtschaft für die transnationale Identität der Missionsbenediktiner von St. Ottilien (21-41)

Samwel Mhajida
The Border Lies Here and Beyond: Datoga Pastoral Land Claims in British Northern Tanzania, 1916 to 1950s (43-63)

Nives Kinunda
Farming in Distant Virgin Land: Women Farmers’ Techniques of Evading Colonial Administration in Tanganyika, 1920-1960 (65-81)

Karsten Linne
Personelle Engpässe: Tropenlandwirte für die „Entwicklungshilfe“ (83-99)

Forum

Johnny Ibraimo, Christian Herzig
Reklamesammelbilder – Von innovativer Vermarktungsstrategie über Massenmedium zur kolonialen Propaganda (100-119)

Abstracts (120-123)

Rezensionen / Reviews

Christoph-Werner Karl: Krise und Reform. Verwaltung, Eigenwirtschaft und Grundherrschaft des Regensburger St. Katharinenspitals 1747-1809
Johann Kirchinger (124-125)

Leonore Scholze-Irrlitz: Paradigma „Ländliche Gesellschaft“. Ethnografische Skizzen zur Wissensgeschichte bis ins 21. Jahrhundert
Clemens Zimmermann (125-126)

Veronika Settele: Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945-1990
Barbara Wittmann (126-128)

Franz Xaver Bischof (Hg.): Die Pfarrbeschreibungen der Erzdiözese München und Freising von 1817
Johann Kirchinger (129-130)

Stefan Sonderegger, Helge Wittmann (Hg.): Reichsstadt und Landwirtschaft. 7. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen 4. bis 6. März 2019
Johann Kirchinger (130-131)

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Bestandsnachweise 0044-2194