EDITORIAL »Ich wusste nicht, dass ich so viel Staub aufwirble«, erklärte fast entschuldigend Peter Sodann nach seinem sehr kurzen Intermezzo als sächsischer Spitzenkandidat der neuen »Linkspartei«. Sodann, Fernsehzuschauern als »Tatort«-Kommissar Ehrlicher bekannt, lieferte mit dem kurzen Drama um sein politisches Engagement eine Posse ab, die ihn einige Sympathien gekostet haben dürfte. Allerdings steht der Hallenser Schauspieler mit seiner Vita für die bewegte DDR-Geschichte und für den Umgang damit – auch mit seiner »Tatort«-Rolle, wo er als Ehrlicher so manches Mal sinniert über Wege und Wendungen der (ost-)deutschen Zeitläufte. Sodann dürfte einer der größten Sympathieträger in und für Ostdeutschland sein, zumal er – nicht nur in seiner Rolle – authentisch wirkt. Er hat verschiedene Seiten der SED-Diktatur erlebt, als politischer Häftling ebenso wie als verehrter Künstler. Mit Sodann rückte ungewollt auch die DDR-Geschichte vorübergehend in den Blick der Öffentlichkeit. Seine Vergangenheit berührt gemeinsam mit der der PDS, einer der Bündnispartnerinnen der »Linkspartei« die aktuelle Politik, den Wahlkampf. Hier positionieren sich die Parteien auch zum Thema »Aufbau Ost«, wobei die Akzente sehr unterschiedlich gesetzt werden. Die beiden großen Parteien befassen sich dabei auch mit dem Erbe der DDR: Verweisen die Sozialdemokraten auf das »gesamtstaatliche Interesse« an der »Aufarbeitung der SED-Diktatur«, so wird die Union beim Thema »Opferrente« konkret. An dem Schnittpunkt von geteilter Vergangenheit und gemeinsamer Gegenwart von Ost- und Westdeutschland bewegt sich auch die vorliegende Ausgabe des Deutschland Archivs. Das historische Erbe und der Umgang damit werden etwa anhand der juristischen Aufarbeitung von SED-Unrecht und der Auseinandersetzung mit dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 thematisiert. Mit einer Betrachtung der Schullandschaft in Ostdeutschland wie auch mit einem Ausflug in die Kleinlandwirtschaft in Nordostdeutschland werden weitere Punkte an der Schnittstelle zwischen Geschichte und Gegenwart berührt. Im 15. Jahr der deutschen Einheit scheint die Diskussion über die DDR-Geschichte einigermaßen versachlicht zu sein. Die SED-Diktatur kann nun frei von ostalgischer Verklärung betrachtet werden, wenngleich auf einigen Feldern die politisch-ideologischen Grabenkämpfe andauern werden. Gleichwohl ist es dringend an der Zeit, Bereiche in den Blick zu nehmen, die bislang eher marginal wahrgenommen worden sind. Dies gilt im Besonderen für den Bereich von Kultur und Kulturpolitik, der doch gerade der Hype um die »Neue Leipziger Schule« einen guten Anknüpfungspunkt für Diskussionen darum bietet. Zur Auseinandersetzung mit Fragen an diese Bereiche und zu ihnen regt das Deutschland Archiv mit verschiedenen Beiträgen im aktuellen Heft an. Von besonderem Interesse dürften dabei die Bereiche der so genannten »Zweiten Kultur«, der subversiven Kunst, und der Alltagskultur sein. Ansatzpunkte zu Fragen des Alltags bieten weitere Beiträge, die sich mit spezifischen wissenschaftspolitischen und propagandistischen Aspekten der DDR befassen. Hier wird besonders anschaulich, wie die Bevölkerung einer permanenten Indoktrination ausgesetzt wurde, aber auch, an welche Grenzen der SED-Staat dabei stieß. Die Antwort auf die Frage, wie »durchherrscht« die DDR-Gesellschaft tatsächlich war, wird ohnehin offen bleiben müssen, weil sie auch wesentlich vom subjektiven Empfinden geprägt ist. Gleichwohl ist diese Frage in Zeiten, in denen Politikverdrossenheit und »Staatsgläubigkeit«, die Verschiebung der politischen Gewichte und ein neues politisches Bündnis, das sich in Ost- und Westdeutschland zu etablieren scheint, große Aufmerksamkeit finden, von besonderem Interesse.
BEACHTEN SIE BITTE DIE NEUE REDAKTIONSANSCHRIFT: Redaktion Deutschland Archiv Dr. Marc-Dietrich Ohse Misburger Str. 81D 30625 Hannover Tel. 0511-56374898 Fax 0511-56374899 E-Mail: deutschlandarchiv@wbv.de
Inhalt:
KOMMENTARE Marc-Dietrich Ohse: Kein Stück Volkskammer, 581-583
Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, 583
Gisela Helwig: Schule und Beruf, 584-586
Eberhard Görner: Ein undogmatischer Moralist. Hommage an Lothar Warneke (1936–2005), 586-588
ZEITGESCHEHEN Leonore Ansorg: Die juristische Aufarbeitung von DDR-Unrecht im Strafvollzug. Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige der Strafvollzugsanstalt Brandenburg nach 1989, 589-597
Karl-Heinz Braun: Schulreformen in den neuen Bundesländern. Erfahrungen und Erwartungen, 597-606
Elisabeth Meyer-Renschhausen: Kleinlandwirtschaft in der Regionalpolitik. Selbsthilfe durch informelle Wirtschaft, 607-612
ZEITGESCHICHTE Günter Kunert: Hurra, Humor ist eingeplant!, 613-614
Doris Liebermann: "Geduld, dulden, Ungeduld …". Der "1. Leipziger Herbstsalon" 1984, 614-625
Matthias Braun: Bücher waren ihr Alltag, Schreiben war ihr Leben. Brigitte Reimann im Spiegel der Stasi-Akten, 625-634
Regina Aggio: Filmpolitische Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. 1956–1966, 634-641
Hans-Georg Golz: "You will need your English". Ein Fernsehsprachkurs in der DDR, 642-650
Andreas Malycha: Wissenschaft und Politik in der DDR 1945 bis 1990. Ansätze zu einer Gesamtsicht, 650-659
Florian Giese: "Freude herrscht von Eisenach bis Wieck, denn in Berlin, da schlägt das Herz der Republik". Scheinpluralismus, Volksfeststimmung und Protest zur 750-Jahr-Feier in Ost-Berlin 1987, 660-667
Clemens Heitmann: Das Deutsche Rote Kreuz der DDR und die "sozialistische Landesverteidigung". Paradigma oder Extremfall der Militarisierung im SED-Staat?, 667-674
FORUM Ulrich Heinemann: "In den Herzen der Deutschen nie wirklich Wurzeln geschlagen"? Betrachtungen zur Rezeptionsgeschichte des 20. Juli 1944, 675-682
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Caroline Fricke: Herrschaftswandel und Oppositionsbildung in der Ära Honecker. Die siebziger und achtziger Jahre im Vergleich, 684-688 Marc-Dietrich Ohse: Opfer und Täter der SED-Herrschaft. Lebenswege in einer Diktatur, 688-691 Filip Bloem: Der Helsinki-Prozess und der Zusammenbruch des Kommunismus, 692-695 Alice Volkwein: "Ein soziokulturelle Ansatz der Politikgeschichte". Zur französischen DDR- und Transformationsforschung, 695-699 Sebastian Göschel: Vielfältige Feindbildforschung. Vom Nutzen und Nachteil der Wissenschaft für die Kunst, 699-701 Christopher Beckmann: Umweltpolitik in der Ära Kohl, 701-703
REZENSIONEN Jan Osers: Unter Hakenkreuz und Sowjetstern; Klaus Kinner, Elke Reuter: Der deutsche Kommunismus, Bd. 2; Till Kössler: Abschied von der Revolution (Hermann Weber), 704-707 Mike Schmeitzner: Im Schatten der FDJ (Thomas Baus), 707-708 Michael Gehler, Wolfram Kaiser (Hg.): Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten (Jürgen P. Lang), 709-710 Florian Hartleb: Rechts- und Linkspopulismus (Gero Neugebauer), 710-712 Hans-Peter Schwarz: Republik ohne Kompaß (Hans Jörg Hennecke), 712-713 Micha Brumlik: Die Vertreibung der Deutschen (Martin Hollender), 713-714 Wladimir Gelfand: Deutschland-Tagebuch 1945–1946 (Silke Satjukow), 715-716 Jörg Baberowski: Der Feind ist überall; ders.: Der rote Terror (Hans-Joachim Föller), 716-717 Peter Münch: Lager X (Werner Gruhn), 718-719 Tomas Plänkers u.a.: Seele und totalitärer Staat; Stefan Trobisch-Lütge: Das späte Gift (Johannes Beleites), 719-721 Rahel Frank: "Realer – exakter – präziser"? (Harald Schmid), 722-724 Paul Mendes-Flohr: Jüdische Identität; Ariane Eichenberg: Zwischen Erfahrung und Erfindung (Ansbert Baumann), 724-726 Doron Rabinovici u.a. (Hg.): Neuer Antisemitismus?; Philipp Gessler: Der neue Antisemitismus; Phyllis Chesler: Der neue Antisemitismus; Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien; Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild; Moshe Zuckermann (Hg.): Antisemitismus, Antizionismus; Israelkritik; Christiane von Braun, Eva-Maria Ziege (Hg.): "Das 'bewegliche' Vorurteil" (Armin Pfahl-Traughber), 726-730 Claudia Fröhlich, Horst-Alfred Heinrich (Hg.): Geschichtspolitik (Rainer Eckert), 730-731 Günter Gaus: Widersprüche (Peter Jochen Winters), 732-734 Peter Bohley: Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte (Michael Beleites), 734-736 Ingrid und Gerhard Zwerenz: Sklavensprache und Revolte (Volker Gransow), 736-738 Unterm Strich, Hg. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Andreas Reimann), 738-740 Gisela Schirmer: Willi Sitte – Farben und Folgen; Walter Womacka: Farbe bekennen (Beatrice Vierneisel), 740-742 Jurek Becker: Ihr Unvergleichlichen (Volker Strebel), 743-744 Jens Loescher: Mythos, Macht und Kellersprache; Wolfgang Hilbig: Der Schlaf der Gerechten (Manfred Jäger), 744-747 Reiner Kunze: Bleibt nur die eigne Stirn (Jürgen P. Wallmann), 747-748 Lutz Hachmeister, Dieter Anschlag (Hg.): Die Fernsehproduzenten; Matthias Steinle: Vom Fremdbild zum Feindbild (Thomas Heimann), 748-751 Martina Wobst: Die Kulturbeziehungen zwischen der DDR und der VR China 1949–1990 (Ulrich van der Heyden), 751-753 Annotationen, 753-755
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 2/2005, 756-767 Impressum, 767 Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes, 768