EDITORIAL
„Erzählen Sie weiterhin von Ihrer Liebe zur Freiheit“, bat der neue Bundespräsident Christian Wulff in seiner Antrittsrede am 2. Juli seinen unterlegenen Kontrahenten Joachim Gauck: „Berichten Sie auch künftig über Ihre Erfahrungen mit der SED-Diktatur“. Das tue „besonders denen gut, die das SED-Unrecht erlitten und die Selbstbefreiung der Menschen in der DDR erstritten haben, und es ist unersetzlich für die Jüngeren“.
Wohl selten ist in jüngster Zeit der Wert der Freiheit in der Öffentlichkeit so oft bemüht worden, wie in den vier Wochen zwischen dem Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten und der Wahl seines Nachfolgers. Wohl selten hat seit den Feierlichkeiten zu 20 Jahren friedlicher Revolution die Geschichte der SED-Diktatur und ihrer Überwindung eine derartige Prominenz erfahren wie in dieser Zeit. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand mit Joachim Gauck als Pfarrer und Bürgerrechtler in der DDR und als erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ein aufrechter Vertreter der Freiheit. Nie wurde (und wird) er müde, daran zu erinnern, dass Freiheit verteidigt werden muss, dass Demokratie ein hohes Gut ist.
Christian Wulff wiederum steht für eine Generation Westdeutscher, die Freiheit und Demokratie glücklicherweise als Selbstverständlichkeit erfahren haben. Das Leben in der DDR, dessen Begrenzungen und Beschränkungen, der Aufbruch daraus im Herbst ’89 blieb den meisten dieser Generation fremd, exotisch bis zum Mauerfall – und darüber hinaus.
Ganz und gar fremd ist deshalb vielen (nicht nur in Westdeutschland) der Streit über das Leben in und mit der Diktatur: Welches Leben war das wahre im falschen? Diese Diskussion hat jüngst wieder Auftrieb erfahren durch die Auseinandersetzung um den designierten Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität, Jan-Hendrik Olbertz, und dessen DDR-Vergangenheit; es geht um Anpassung und Widerständigkeit, um Willfährigkeit und Willkür. Gauck und Olbertz, dem Kritiker einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem SED-Regime vorhalten, sind zwei sehr verschiedene Beispiele für Verhaltensweisen in der Diktatur. Viele andere ließen sich anführen, einige werden – wie der Fall Olbertz’ auch – in dieser Ausgabe des Deutschland Archivs aufgegriffen.
Da geht es um Lebensläufe, um journalistisches, wissenschaftliches und literarisches Schaffen in Diktatur und Demokratie, um (erfolgreiche) Appelle zur Denunziation, um (erfolglose) Gesprächsversuche und um Diplomatie. Sichtbar werden immer wieder Grenzen, die beschränkten Spielräume in der Diktatur und auf dem internationalen Parkett, die Grenzen der Diktatur selbst und schließlich die innerdeutsche (System-)Grenze.
Sie bildet einen Schwerpunkt im vorliegenden Deutschland Archiv – gewissermaßen zwischen zwei Gedenkjahren, zwischen dem 20. Jubiläum des Mauerfalls vor gut einem halben Jahr und dem 50. Jahrestag des Mauerbaus im nächsten Jahr. Gegenstand der Betrachtungen sind die Toten an der Berliner Mauer, Versuche, über die Grenze hinweg ins Gespräch zu kommen oder sie im Zuge der Entspannungspolitik erträglicher zu machen, und schließlich der letzte Anstoß zum Fall der Mauer, die Pressekonferenz Günter Schabowskis am 9. November 1989.
Zu Weihnachten jenes Jahres wurde in West- und Ost-Berlin Beethovens 9. Sinfonie unter Leonard Bernstein aufgeführt. Der hatte Schillers Text, die „Ode an die Freude“, dafür ein wenig abgewandelt: „Freiheit, schöner Götterfunken“. Der Volksmund nannte die damaligen Ereignisse schlicht: „Wahnsinn!“ – beides ein spontaner Ausdruck von „Liebe zur Freiheit“?!
ZEITGESCHEHEN
Andreas Stirn: Von Zwängen und Spielräumen in der Diktatur(-Aufarbeitung). Die Debatte um die DDR-Vergangenheit Jan-Hendrik Olbertz’ S. 581-587
Marc-Dietrich Ohse: Lebendige Demokratie. Zur Wahl des Bundespräsidenten: Wulff versus Gauck S. 587-590
Heinrich Bortfeldt: Die Linke – eine Partei im Übergang, auf dem Weg nach Westen S. 590-595
Marc Brandstetter: Mit dem Rücken zur Wand. Die Krise der rechtsextremistischen Parteien S. 595-598
Karl Wilhelm Fricke: Ilse Spittmann-Rühle. Biografie und Zeitgeschichte S. 599-600
Ilko-Sascha Kowalczuk: Gelebte Freiheit in der Unfreiheit. Bernd Eisenfeld (1941 – 2010) S. 601-603
ZEITGESCHICHTE
Miriam Müller: Papiertiger auf Beutezug. Über die Schlussakte von Helsinki und ihre Bedeutung für das geteilte Deutschland S. 604-613
Hans Henning Kaysers: Die letzten Stunden. Wie Günter Schabowski die Berliner Mauer hergab S. 613-625
Hans Joachim Teichler: Schalck-Golodkowski und der Sport. Dopinganalytik aus Mitteln des Häftlingsfreikaufs S. 625-628
Hansgeorg Bräutigam: Die Verschleierung von SED-Vermögen S. 628-634
Peter Paul Schwarz: Mauergebilde. Über Robert Neumanns Versuch, 1961 bis 1964 Studenten aus Ost und West über den Holocaust ins Gespräch zu bringen S. 635-639
Heidrun Budde: Ein Appell an das Böse und seine Folgen S. 640-650
Tomas Kittan: Das „rote Elend“ von Cottbus S. 651-659
Bärbel Gafert: „Operation Swallow“. „Ordnungsgemäße und humane“ Vertreibung in die britische Besatzungszone 1946 S. 660-667
AnmerkungenOpposition? Opposition! Anmerkungen zu Maria Magdalena Verburg, „Rote Socken“ und „nützliche Idioten“? Zur politisch-gesellschaftlichen Verortung der Dritte-Welt-Gruppen in der DDR, in: DA 43 (2010) 1, S. 60 – 66 (Reiner Merker) S. 668-669
Opposition? Opposition light! Replik auf Reiner Merkers Anmerkungen (Maria Magdalena Verburg) S. 670-671
FORUM
Hans-Hermann Hertle/Maria Nooke: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989. Ergebnisse eines Forschungsprojektes S. 672-681
Martin Jankowski: „Die verschwiegene Bibliothek“. Zeugnisse geistiger Repression und literarischen Widerstandes S. 681-686
Eberhard Birk: Der politische Nukleus militärischer Identitätskonstruktionen am Beispiel der NVA. Überlegungen zur „fortschrittlichsten deutschen Militärtradition“ S. 687-695
Matthias Steinbach: Hindenburg auf dem Kyffhäuser. Geschichtspolitisches aus dem wilden Osten S. 695-700
Gegendarstellung S. 700
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN
Andreas M. Vollmer: 20 Jahre Deutsche Einheit – Erfolge, Ambivalenzen, Probleme. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung in Berlin S. 701-704
Elke Kimmel: „Reise in ein fernes Land“? Die DDR als Teil gesamtdeutscher Geschichte in der Bildungspraxis, Tagung in Berlin S. 704-707
Tobias Voigt: Repression, Opposition und Widerstand an den Hochschulen der SBZ/DDR. Tagung in Berlin S. 707-710
Klaus Storkmann: Hauptstadtanspruch und symbolische Politik. Die Bundespräsenz im geteilten Berlin (1949 – 1990). Tagung in Berlin S. 710-712
Arno Helwig: Persönlichkeit und Politik. Deutungsmuster und Befunde der Willy-Brandt-Forschung. Tagung in Berlin S. 713-715
REZENSIONEN
Jacqueline Boysen: Das „weiße Haus“ in Ost-Berlin (Peter Jochen Winters) S. 716-717
Manfred Gehrmann: Die Überwindung des Eisernen Vorhangs (Bernd Eisenfeld †) S. 718-719
Reinhold Albert, Hans-Jürgen Salier: Grenzerfahrungen kompakt (Peter Joachim Lapp) S. 720
Johannes Hürter, Jürgen Zarusky (Hg.): Epos Zeitgeschichte (Michael Braun) S. 721-722
Michael Opitz, Michael Hofmann (Hg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur (Joachim Walther) S. 722-723
Simone Barck, Siegfried Lokatis: Zensurspiele; Werner Heiduczek: Die Schatten meiner Toten; Peter Gosse, Helfried Strauß (Hg.): Weltnest (Manfred Jäger) S. 724-726
Volker Braun: Werktage 1 (Günther Rüther) S. 726-727
Heiner Müller: Werke, Bd. 10 – 12 [Gespräche I – III] (Matthias Braun) S. 728-729
Dietmar Eisold (Hg.): Lexikon Künstler in der DDR (Rüdiger Thomas) S. 730-731
Gabriele Muschter (Hg.): Klaus Werner (Günter Agde) S. 732
Thomas Beutelschmidt: Kooperation oder Konkurrenz?; Siegfried Kühn: Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow (Thomas Heimann) S. 733-734
Ursula Schröter u. a.: Patriarchat in der DDR (Gerda Weber) S. 734-736
Annette Simon: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“; Christoph Seidler, Michael J. Froese (Hg.): Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland (Dirk Klose) S. 736-737
Volker Gerhardt u. a. (Hg.): Aufarbeitung totalitärer Erfahrungen und politische Kultur (Jens Planer-Friedrich) S. 738-739
Andrew H. Beattie: Playing Politics with History (Sebastian Richter) S. 739-741
Wolfgang Benz: Auftrag Demokratie; Wolfgang Benz: Deutschland unter alliierter Besatzung 1945 – 1949/Michael F. Scholz: Die DDR 1949 – 1990 (Arnd Bauerkämper) S. 741-742
Ed Stuhler: Die letzten Monate der DDR (Gunnar Peters) S. 742-743
Christian Chmel: Die DDR-Berichterstattung bundesdeutscher Massenmedien und die Reaktionen der SED (Sandra Pingel-Schliemann) S. 743-744
Werner Faulstich (Hg.): Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 5 – 9 (Dietrich Mühlberg) S. 745-747
Erhard Crome (Hg.): Die Babelsberger Diplomatenschule (Siegfried Schwarz) S. 747-748
Thomas Gensicke u. a.: Entwicklung der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland (Werner Rossade) S. 748-749
Jörn Ipsen: Der Staat der Mitte (Eckhard Jesse) S. 749-751
Timm Beichelt: Deutschland und Europa (Erich Röper) S. 751-752
Annotationen S. 752-755:- Kai von Westerman: Letzte Bilder von der Mauer (Norbert Reichling) S. 752 - Jörn Schütrumpf: Freiheiten ohne Freiheit (Jürgen P. Lang) S. 753 - Ansgar Borbe: Die Zahl der Opfer des SED-Regimes (Karl Wilhelm Fricke) S. 753 - Dirk Moldt: Zwischen Haß und Hoffnung (Henning Pietzsch) S. 754 - Klaus Staib: Rockmusik und die 68er-Bewegung (Heiner Stahl) S. 754 - Evelyn Mertin: Sowjetisch-deutsche Sportbeziehungen im „Kalten Krieg“ (Hans-Dieter Krebs) S. 755
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 2/2010 S. 756-766
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 767-768 Impressum S. 768