EDITORIAL»Deutschlandforschung kann sich, wenn sie denn heute aussagekräftig sein will, nie auf Deutschland beschränken«, erklärte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier jüngst zur Eröffnung der diesjährigen Deutschlandforschertagung. Dementsprechend warnte er vor dem Versuch, »die Geschichte der Bundesrepublik nur aus sich heraus zu erklären«. Dabei hatte der Außenminister den 9. November im Blick, denn »wie kein anderer steht er für entscheidende Umbrüche, Katastrophen und Hoffnungen unseres Landes«. Steinmeier bezog sich zugleich auf die Gedenkfeiern des kommenden Jahres. Dann wird nicht nur der friedlichen Revolution vor 20 Jahren, sondern ebenfalls der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch Deutschland ein halbes Jahrhundert zuvor wie auch der Gründung beider deutscher Staaten und der Verabschiedung des Grundgesetzes vor 60 Jahren und im Jahr darauf der deutschen Wiedervereinigung gedacht werden.Spannungsreicher kann ein Gedenkjahr kaum ausfallen, und diese Spannung wird nur überboten von eben jenem einem Tag im November, an dem die Deutschen Geschichte in ihren verschiedensten Facetten gestaltet haben. Diese Spannung werden wir gerade im kommenden Jahr und mit Blick auf unsere europäischen Nachbarn aushalten müssen.In diesem Sinne sind auch einige Beiträge im aktuellen Deutschland Archiv zu verstehen, etwa wenn es um die Vorgeschichte der Vertreibungen aus Polen geht, wenn nach der Souveränität der DDR gefragt oder ganz grundsätzlich das Wesen des Stalinismus diskutiert wird. Letzteres berührt den antitotalitären Konsens, der einen Eckpfeiler unseres demokratischen Gemeinwesens bildet. Er ist zugleich das Fundament der historisch-politischen Bildung und der gewissenhaften Aufarbeitung der Zeitgeschichte.Der antitotalitäre Konsens wird dort verletzt, wo Unrecht verschwiegen oder geschönt wird. Er wird auch dort verletzt, wo Verantwortung für Unrecht nicht benannt wird, nicht benannt werden darf oder wo sich jemand dieser Verantwortung zu entziehen versucht. Das geschieht beispielsweise, wenn Funktionäre ihren Anteil an einem diktatorischen System in Abrede stellen. Doch niemand ist davor gefeit, dass Schattenseiten seiner Biografie über kurz oder lang ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Günter Grass hat das vor zwei Jahren erfahren, als er erstmals seine Zeit bei der Waffen-SS bekannte. In diesem Sommer hat es eine ähnliche – wenngleich in ihren Dimensionen keineswegs vergleichbare – Debatte um Erwin Strittmatter gegeben. Auch diese Themen greift das Deutschland Archiv in der vorliegenden Ausgabe auf.Dass neue Forschungen Erkenntnisgewinn bedeuten und keineswegs geschehenes Unrecht relativieren, zeigt der Bericht der Historikerkommission zu den Opferzahlen der Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945, der im vorliegenden Heft dokumentiert wird. Diese Zahlen liegen in erheblichem Maße unter jenen Angaben, die von verschiedenen Seiten, etwa in Jörg Friedrichs Buch »Der Brand«, angeführt worden sind. Die – eigentlich angenehme – Erkenntnis, dass damals deutlich weniger Menschen ums Leben gekommen sind, negiert in keiner Weise das Verbrechen des Krieges gegen die Zivilbevölkerung als solches. Und es stellt auch nicht das Gedenken an die Opfer in Frage. Das gilt analog für Diskussionen um andere Opferzahlen, etwa um die der Toten an der DDR-Grenze oder um die Zahl der Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus. Zeitgeschichtliche Kontroversen werden uns gerade in den kommenden beiden Jahren begleiten. Unsere Nachbarn werden diese Auseinandersetzungen mit Interesse – hoffentlich nicht mit Sorge – verfolgen, und das Deutschland Archiv wird zu diesen Debatten beitragen.
INHALTSVERZEICHNIS
KOMMENTAREFlorian Hartleb: Götterdämmerung für die CSU S. 965-968Ergebnisse der Landtagswahl in Bayern vom 28. September 2008 S. 968Errata S. 968Andrew I. Port: Ein verständiger Patriot. Zum Tod von Peter Bender (1923-2008) S. 969-971
ZEITGESCHEHENFrank Hoffmann/Silke Flegel: Autobiografie und Dichtung: Die Sommer-Debatte um Erwin Strittmatter S. 973-979Lutz Rathenow: Was bleibt? Die Echos der DDR-Literatur nach dem Ende der DDR S. 980-984
ZEITGESCHICHTEManfred Wilke: SPD und Kommunisten in der Bundesrepublik oder die Frage des antitotalitären Konsenses S. 985-993
Julian-André Finke: Selbstbestimmter Staat oder Vasall Moskaus? Zur Souveränität der DDR am Beispiel des Diensthabenden Systems der Luftverteidigung S. 993-1002
Hans-Joachim Teichler: Die Stimmungs- und Wirtschaftslage 1988/89 in der DDR. Reflexionen in den Leiterinformationen für das Staatssekretariat für Körperkultur und Sport S. 1003-1018
Bogdan Musial: »Sollen doch die Deutschen Platz machen«. Stalin, die Deutschen und die Westverschiebung Polens S. 1018-1030
Friedrich-Christian Schroeder: Der 5. November 1956 in Berlin. Anschub für die Karriere von Willy Brandt S. 1030-1032Anmerkungen: Zu Jan Philipp Wölbern, Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR, 1962-1964, in: DA 5/2008, S. 856-867
Norbert F. Pötzl: Ein abstruser Stasi-Vermerk und eine spekulative These S. 1032-1035
Reymar von Wedel: Stellungnahme S. 1035-1036
DOKUMENTATIONDie Zahl der Dresdner Luftkriegsopfer vom Februar 1945. Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission S. 1037-1042
FORUMFrank-Walter Steinmeier: Von den deutschen Sonderwegen zur europäischen Außenpolitik? S. 1043-1046
Jörg Baberowski: Was war der Stalinismus? Anmerkungen zur Historisierung des Kommunismus S. 1047-1056
Peter Steinbach: Pavlik Morosov-der ehemalige »Pionier Nr. 1« S. 1056-1060
Jeannette van Laak/Annette Leo: Erinnerungen der Macht, Erinnerungen an die Macht. SED-Funktionäre im autobiografischen Rückblick S. 1060-1067
Jens Hüttmann: 20 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit. Ein Überblick über Projekte und Initiativen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur S. 1067-1072
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGENHendrik Bindewald: Geteilt, vereint-Deutschland zwischen Selbstbehauptung und Bündnisdisziplin. Deutschlandforschertagung 2008 in Berlin S. 1074-1076
Hans Jürgen Fink: Deutschland in der zeitgeschichtlichen Forschung. Historikertag in Dresden S. 1077-1081
Peter Maser: Christentum, Kirchen und Transformation. Internationales Symposium der Stiftung Ettersberg in Weimar S. 1081-1083
Henry Krause: Die Weitergabe von Diktaturerfahrung an die junge Generation. Hohenschönhausen-Forum in Berlin S. 1083-1084
Wolfgang Schlott: Kunst gegen Gewalt. Der »Prager Frühling« und seine Folgen. Tagung in Dresden S. 1085-1086
REZENSIONENMichael Buckmiller, Klaus Meschkat (Hg.): Biographisches Handbuch zur Geschichte der kommunistischen Internationale (Manfred Wilke) S. 1087
Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008 (Georg Wurzer) S. 1088Vladislav M. Zubok: A Failed Empire (Hermann Wentker) S. 1089-1090
Silke Satjukow: Besatzer (Winfrid Halder) S. 1091-1093Mike Schmeitzner (Hg.): Totalitarismuskritik von links (Udo Grashoff) S. 1093-1094
Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, Teil 3 (Armin Wagner) S. 1095-1096Knud Andresen: Widerspruch als Lebensprinzip (Karl Wilhelm Fricke) S. 1097-1098
Evelyn-Marion Giersch: Das Lügennetz (Hans-Joachim Föller) S. 1098-1099
Bernd Florath: Opposition und Widerstand in der DDR 1961-1990 (Reiner Merker) S. 1099-1100
Josef Boyer, Helge Heidemeyer (Bearb.): Die Grünen im Bundestag (Wolfgang Templin) S. 1101-1102
Regina I. Erdmann: Wissenschaftsorientierte Bildungsarbeit unter den Bedingungen der deutschen Teilung (Theo Mechtenberg) S. 1103
Gerhard Besier: Religion, State and Society in the Transformations of the Twentieth Century (Martin Greschat) S. 1104-1105
Ulrich Pfeil (Hg.): Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert (Steffen Kaudelka) S. 1105-1107
Bernd Bonwetsch u. a. (Hg.): Novejshaja istorija Germanii [Neuere Geschichte Deutschlands] (Bernhard Schalhorn) S. 1107-1108
Klaus Kukuk (Hg.): Prag 1968 (Gerhard Wettig) S. 1108-1109Christof Mauch, Kiran Klaus Patel (Hg.): Wettlauf um die Moderne (Siegfried Schwarz) S. 1110-1111
Lothar Mertens (Hg.): Deutschland und Israel (Susanne Schönborn) S. 1111-1112
Friedrich Bauer: Botschafter in zwei deutschen Staaten (Peter Jochen Winters) S. 1112-1113
Jan Selling: Aus den Schatten der Vergangenheit (Alexander Gallus) S. 1113-1114
Victoria Knebel: Preserve and Rebuild (Katja Schlenker) S. 1114-1115
Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat (Wolfgang Lambrecht) S. 1115-1116
Andreas Weigelt, Hermann Simon (Hg.): Zwischen Bleiben und Gehen (Theo Meier-Ewert) S. 1117-1118
Jeannette Z. Madarász: Working in East Germany (Thomas Lindenberger) S. 1118-1120
Rüdiger Steinmetz, Reinhold Viehoff (Hg.): Deutsches Fernsehen Ost; Christina Hodenberg: Konsens und Krise (Thomas Heimann) S. 1120-1123
Nina Noeske: Musikalische Dekonstruktion; Matthias Tischer (Hg.): Musik in der DDR; Corinne Holtz: Ruth Berghaus (Lars Klingberg) S. 1123-1126
Christian Hentschel, Peter Matzke: Als ich fortging …; Geschichten aus 60 Jahren AMIGA (Bernd Lindner) S. 1126-1128Lucas Ackermann: Bausoldaten-Blues (Peter Schicketanz) S. 1128-1129
Hiltrud Ebert (Hg.): Erhard Frommhold (Rüdiger Thomas) S. 1129-1130
Nikolai Genov, Reinhard Kreckel (Hg.): Soziologische Zeitgeschichte (Kurt Starke) S. 1131-1132
Günter Kunert: Auskunft für den Notfall (Jürgen P. Wallmann) S. 1132-1133
Karsten Dümmel: Nachtstaub und Klopfzeichen oder Die Akte Robert (Siegmar Faust) S. 1133-1134
AnnotationenBernd Hey, Volker Wittmütz (Hg): 1968 und die Kirchen (Martin Greschat) S. 1135; Andrea Herz: Thüringen im »Frühling 1968« (Peter Wurschi) S. 1135-1136; Erich Buchholz: Unrechtsstaat DDR? Rechtsstaat BRD? (Karl Wilhelm Fricke) S. 1136; Peter Schäfer: »Schreiben Sie das auf, Herr Schäfer!« (Uwe Dathe) S. 1136-1137; Reiner Kunze: Mensch im Wort (Volker Strebel) S. 1137; Wolfgang Hilbig: Gedichte (Jürgen P. Wallmann) S. 1137-1138; Anne Fuchs: Phantoms of War in Contemporary German Literature, Films and Discourse (Michael Braun) S. 1138
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNGNewsletter 3/2008 S. 1139-1150
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 1151-1152IMPRESSUM S. 1152