EDITORIAL
„Das Leben in der Bundesrepublik war zunächst nicht leicht.“ – Diesen Satz, den zahlreiche Ostdeutsche in den letzten Jahren gesagt haben könnten, schrieb Wolfgang Leonhard 1990 in sein Nachwort zu der Neuauflage seines Bestsellers „Die Revolution entläßt ihre Kinder“, der 1955 veröffentlicht wurde und nun erstmals auch in der DDR vertrieben werden konnte. Leonhard, der am 16. April seinen 90. Geburtstag feiern konnte, war im März 1949 von Ost-Berlin nach Jugoslawien geflohen; anderthalb Jahre später ließ er sich in der Bundesrepublik Deutschland nieder. Von hier aus erlebte Leonhard schließlich, fast vier Jahrzehnte später, wie „sich endlich mein großer Wunsch erfüllte: … die friedliche Revolution in der DDR, der Sturz des diktatorischen Honecker-Regimes.“ Seither konnte er „wieder frei mit DDR-Bürgern diskutieren“. Und diese Gespräche „mit den DDR-Bürgern, die nun endlich über ihre Vergangenheit frei sprachen“, seien ihm wichtiger geworden als die Reisen an die Stätten seiner eigenen Vergangenheit, bekannte Wolfgang Leonhard in seinem Nachwort 1990.
Die Euphorie, die hier anklingt, scheint weitgehend verflogen zu sein. Vielerorts hört man stattdessen Klagen über das unwirtliche Leben im vereinten Deutschland. Ein Widerspruch, der nur dadurch verständlich wird, dass das Leben in einer Diktatur wegen seiner strikten Beschränkungen auch klare Orientierungen bietet, durch Zwänge, die Wahlfreiheit nicht oder nur in einem sehr begrenzten Maße zulassen. „Nur so wird verständlich, warum der kleine Spielraum und die kleinen privaten Freiheiten, die am Status unserer generellen politischen Abhängigkeit und Ohnmacht nicht rütteln konnten, doch eine große Freude, viel Wärme und Nähe in uns auszulösen vermochten – eben jene Intensität des Erlebens, die wir später in der großen Freiheit vermissten.“ So versucht Joachim Gauck in seinen Erinnerungen „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ die Verlustempfindungen vieler seiner ostdeutschen Landsleute zu erklären: „Die Freiheit als Sehnsucht hatte eine verlockende Kraft, sie war ungeschmälert schön. Die Freiheit als Wirklichkeit ist nicht nur Glück, sondern auch Beschwernis.“
Gaucks Erinnerungen wurden wie auch die Leonhards ein großer Erfolg. Überhaupt stoßen Autobiografien Ostdeutscher derzeit auf ein außerordentlich großes Interesse. Diese Aufmerksamkeit für die Einlassungen „Betroffener einer osteuropäischen Verlustgeschichte“ (Gauck) könnte ein Indiz dafür sein, dass solche autobiografischen Schriften eine Brücke zwischen der „erinnerten Geschichte“ und der „erforschten Geschichte“ (Martin Sabrow) zu bauen vermögen. Sie zeichnen möglicherweise jene fehlenden Linien zwischen dem Gedächtnis, das in den Familien, vor allem in Ostdeutschland, tradiert wird, und jenem Gedächtnis, das die Wissenschaft und die Medien vermitteln und das die Politik pflegt. Autobiografien wie die Gaucks oder Leonhards vermögen Facetten zu malen, die in den – zuweilen in zu schrillen Farbtöne oder zu sehr in Schwarz-Weiß gehaltenen – Bildern, die sonst in der Öffentlichkeit kursieren, überdeckt zu sein scheinen; und sie vermögen Leerstellen auszufüllen, die in der Erinnerung etlicher Menschen verloren gegangen oder bewusst verdrängt worden sind, weil die entsprechenden Facetten dem eigenen Selbstbild oder der Außenwahrnehmung nicht entsprochen hätten (wie dies in der vorliegenden Ausgabe des Deutschland Archivs am Falle Erwin Strittmatters geschildert wird) oder weil sie sich nicht mit der eigenen Überzeugung deckten (wie Hans Mayer sie zum Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in DDR aufgezeichnet hat und die im vorliegenden Deutschland Archiv dokumentiert werden).
Der Alltag aber besteht sehr oft aus Grautönen, das Schrille und Eindeutige ist ihm fremd – und zwar nicht nur in der Diktatur. Das gilt für weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, für die im vorliegenden Deutschland Archiv stellvertretend Kultur, Innenpolitik und Wirtschaft stehen.
ZEITGESCHICHTE/ZEITGESCHEHEN
Werner Liersch: Die Inseln des Verschweigens. Strittmatters Erinnerungsbuch „Grüner Juni“ und der Krieg auf den Zykladen S. 165-171
Korrektur: Editorial DA 44 (2011) 1 S. 171
Reiner Merker: „... und stets Künder seiner Zeit zu sein“? Neuausrichtung und Behauptung des Gustav Kiepenheuer Verlags zu Beginn der 50er-Jahre in der DDR S. 172-178
Christian Könne: „Die Gestaltung massenwirksamer Unterhaltungssendungen – ein unerläßlicher Bestandteil des politischen Auftrages des Massenmediums Rundfunk“. Die Unterhaltungssendungen im Hörfunk der DDR S. 179-185
Sebastian Lindner: Mauerblümchen Kulturabkommen S. 186-192
Ingrid Sonntag: Die Freie Akademie der Künste in Leipzig 1992 – 2003. Nur aus einer Prägung des sächsischen Kulturraumes hervorgegangen? S. 193-199
Tobias Wunschik: Risse in der Sicherheitsarchitektur des SED-Regimes. Staatssicherheit und Ministerium des Innern in der Ära Honecker S. 200-207
Marcus Sonntag: DDR-Arbeitslager – Orte der Schaffung eines „neuen Menschen“? S. 208-215
Ralph Kaschka: Die „Neumann-Mittag-Kontroverse“. Eine Auseinandersetzung über die DDR-Eisenbahn und deren Infrastruktur in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre S. 216-221
Christian Könne: Wirtschaftssendungen für die DDR. Hörfunk zur Finanzierung des Sozialismus S. 222-229
Jörg Roesler: Nur den Anforderungen des Marktes verpflichtet? Autokratische Züge und demokratische Ansätze der Treuhandprivatisierung S. 230-237
DOKUMENTATION
Hans Mayer: Wir sollten anfangen, aus der Geschichte zu lernen oder: Der Faschismus wird bei uns nicht wiederkehren S. 238-240
Jörg Bernhard Bilke: Hans Mayer und der 17. Juni 1953. Ein unbekannter Text S. 240-245
FORUM
Hermann Weber: Die SED und der Titoismus. Wolfgang Leonhard zum 90. Geburtstag S. 246-254
Markus Porsche-Ludwig: Der Staat im Osten. Zu Martin Draths Charakteristik eines totalitären Regimes S. 255-260
Francesca Weil: Räte im Deutschen Reich 1918/19 – Runde Tische in der DDR 1989/90. Ein Vergleich S. 261-268
Frank Hoffmann: Erinnerung als Integration. Zum ostdeutschen Autobiographie-Boom seit 1990 S. 269-277
Sabine Moller: Diktatur und Familiengedächtnis. Anmerkungen zu Widersprüchen im Geschichtsbewusstsein von Schülern S. 278-285
Sebastian Prinz: Das Verhältnis der Linkspartei zu den Kirchen und die kirchenpolitischen Positionen der Partei S. 286-294
REZENSIONEN
Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): 100 Jahre Kiepenheuer-Verlage; Jens Thiel (Hg.): Ja-Sager oder Nein-Sager (Rüdiger Thomas) S. 295-300
Kristian Buchna: Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr; Jan-Ole Prasse: Der kurze Höhenflug der NPD; Harald Bergsdorf: Fakten statt Fälschungen; Friso Wielenga, Florian Hartleb (Hg.): Populismus in der modernen Demokratie; Detlef Joseph: Die DDR und die Juden; Y. Michal Bodemann, Micha Brumlik (Hg.): Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden (Harald Schmid) S. 301-306
Hannelore Klar: Wir müssen weit gehen, liebes Kind; Peter Böthig, Peter Walther (Hg.): Die Russen sind da; Gabi Köpp: Warum war ich bloß ein Mädchen?; Ingo von Münch: „Frau, komm!“; Ulrich Schacht: Vereister Sommer (Jörg Bernhard Bilke) S. 307-311
Michael Beleites, Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringsdorf, Robert Grünbaum (Hg.): Klassenkampf gegen die Bauern; Erhard Runnwerth: Entwicklung der bäuerlichen Landwirtschaft in der DDR bis zur Vollkollektivierung im sozialistischen Frühling 1960; Michael Heinz: Von Mähdreschern und Musterdörfern (Mario Janello) S. 311-316
Karl-Heinz Paqué: Die Bilanz; 20 Jahre Deutsche Einheit, Hg. Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Jörg Roesler) S. 317-319
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 320
IMPRESSUM S. 320