EDITORIAL
In der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 landeten Truppen des Warschauer Paktes in Prag, rollten Panzer in die Tschechoslowakei. Sie walzten den »Prager Frühling«, den letzten ernsthaften Versuch nieder, den Staatssozialismus sowjetischer Prägung zu reformieren. Dieser Reformprozess war von vielen begrüßt worden, und die regierende Kommunistische Partei in der ČSSR erfreute sich der aufrichtigen Unterstützung durch breite Kreise der Bevölkerung. Das war für sozialistische Staaten ungewöhnlich genug, und ebenso ungewöhnlich war die intensive Diskussion der Reformvorhaben in der Presse, die den »Prager Frühling« begleitete. Auf lange Sicht konnte die Liberalisierung aber nicht bei den Medien und bei der Wirtschaft stehenbleiben; langfristig hätte sie eine nachhaltige Demokratisierung zur Folge gehabt – und damit hätten möglicherweise die Kommunisten ihre Macht eingebüßt.
Es ist müßig zu diskutieren, was passiert wäre, wenn … – Doch den Führern im Kreml, in Warschau und in Ostberlin war die Gefährdung der kommunistischen Herrschaft sehr wohl bewusst, und deshalb entschlossen sie sich zur militärischen Intervention.
Nicht nur für die Tschechen und Slowaken, sondern auch für viele Menschen in den Nachbarländern hatte sich der Sozialismus mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« als reformunfähig erwiesen. Vor allem in Deutschland aber – im Osten wie im Westen – hielten auch danach viele an der Utopie eines demokratischen Sozialismus fest. In der DDR allerdings wurden die deprimierenden Eindrücke, welche die Intervention hinterließ, verstärkt durch die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 31. Mai und durch die Verfassungsnovelle des Frühjahrs 1968. Die hatte das Machtmonopol der SED festgeschrieben und die Grundrechte erheblich eingeschränkt. Kirchenabriss und Verfassungsreform demonstrierten – wie dann eben auch die Invasion in die ČSSR –, dass die SED ihren totalitären Macht- und Gestaltungsanspruch rücksichtslos durchsetzen würde.
Im Westen hingegen schien etlichen, vor allem Jüngeren, der Sozialismus weiterhin eine erstrebenswerte Alternative zu sein. Diese Meinung fand ihre Bestätigung durch die brutale Kriegsführung der kapitalistischen Führungsmacht USA in Vietnam, die anstehende Notstandsgesetzgebung in der Bundesrepublik und die Kampagnen der Springer-Presse, die man für das Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 verantwortlich machte.
So ist »1968« in Ost wie West in der Tat ein Epochenjahr gewesen. Und der Blick in andere Länder würde zeigen, dass dieses Jahr tatsächlich eine globale Zäsur bezeichnet. Aus diesem Grunde betrachtet auch das Deutschland Archiv im vorliegenden Heft verschiedene Ereignisse dieses Jahres, und zwar aus verschiedenen und eher ungewöhnlichen Blickwinkeln. Auch in diesen Texten wird deutlich, wie sehr die 68er-Ereignisse miteinander verwoben waren, über die Grenzen hinweg.
Jene, die damals im Osten wie im Westen für Ideale auf die Straßen gingen, dagegen protestierten, dass man ihnen die Hoffnung auf einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu nehmen suchte, einte im weitesten Sinne das Streben nach einer demokratischen oder demokratischeren Gesellschaft, nach einer Zivilgesellschaft. Diese Sehnsucht ist schließlich 1989 im Osten nicht mehr zu ersticken gewesen, dem Aufbau bzw. der Stärkung der Zivilgesellschaft bleibt auch heute die Politik verpflichtet.
Dieser Verantwortung soll ebenfalls das Gedenkstättenkonzept des Bundes gerecht werden. Auch das wird im vorliegenden Deutschland Archiv dokumentiert und kommentiert.
KOMMENTAREWinfried Sträter: Bestandsaufnahme und Neujustierung. Anmerkungen zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes S. 581-586
Gideon Botsch/Christoph Kopke: Verliert das Flaggschiff an Fahrt? Zum derzeitigen Zustand der NPD S. 586-591
Heinrich Bortfeldt: »Wir haben den Wind der Geschichte in unseren Segeln«. 1. Parteitag der »Linken« in Cottbus am 24. und 25. Mai 2008 S. 591-595
Wolfgang Thierse: Homo politicus. Zum 80. Geburtstag von Hermann Weber S. 595-597
Jürgen P. Wallmann: »poesie ist außer wahrheit vor allem poesie«. Zum 75. Geburtstag des Dichters Reiner Kunze S. 597-599
DOKUMENTATIONVerantwortung, Aufarbeitung, Gedenken. Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes vom 18. Juni 2008 S. 600-608
ZEITGESCHEHEN* Fritjof Meyer: Streit in Polen. Warum die Oder-Neiße-Grenze, wozu eigentlich die Vertreibung? S. 609-618 Karlheinz Lau: Start für ein deutsch-polnisches Geschichtsbuch S. 619-620
ZEITGESCHICHTEReisen in den Prager Frühling. Begegnungen Ost- und Westdeutscher mit dem tschechoslowakischen Aufbruch 1968 S. 621-630
Peter Ulrich Weiß: Verräter oder Held. Ceausescu und das Jahr 1968 im deutsch-deutsch-rumänischen Dreiecksverhältnis S. 631-639
Gunter Holzweißig: DDR-Medien im »Prager Frühling«. Hatz auf »Marxtöter« S. 640-654
Falco Werkentin: Das sozialistische Strafgesetzbuch der DDR vom Januar 1968 S. 645-655
Rudolf van Hüllen: »Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr …«. Die »Neukonstituierung« der DKP und der Prager Frühling 1968 S. 656-663
Wilhelm Mensing: Illegaler Grenzverkehr SED/KPD/DKP zwischen KPD-Verbot und den 70er-Jahren S. 664-672
Rainer Erices/Jan Schönfelder: Ein »Kalter Krieger« im Feindesland. Franz Josef Strauß vor 25 Jahren in der DDR S. 673-683
Lars-Broder Keil: Das Risiko, eine eigene Meinung zu haben. Zur Relegation von Schülern der Berliner EOS »Carl von Ossietzky« im Herbst 1988 S. 684-690
Christoph Links: Die Umgestaltung der ostdeutschen Verlagslandschaft im Prozess der deutschen Einheit S. 691-697
FORUMBernd Eisenfeld: »68er«-Ost und »68er«-West. Zehn Thesen - Anregung zur Diskussion S. 698-700
Helmut Müller-Enbergs: Tod der Tschekisten. Zu Leben und Nachleben zweier HV_A-Spitzenleute S. 700-703
TAGUNGEN Hans-Jürgen Fink: Der Prager Frühling - das Ende einer Illusion? Konferenz in Wien S. 704-707
Hedwig Richter: Der Prager Frühling 1968. Zivilgesellschaft - Medien - politische und kulturelle Transferprozesse. Tagung in Prag S. 707-711
Katharina Lenski: Samisdat und Öffentlichkeit. Tagung in Jena S. 711-714
Peter Wurschi: Akteure an den Runden Tischen der Bezirke 1989/90. Tagung in Dresden S. 715-718
REZENSIONENPeter Schneider: Rebellion und Wahn; Götz Aly: Unser Kampf (Angelika Ebbinghaus) S. 719-721
Bernd Gehrke, Gerd-Rainer Horn (Hg.): 1968 und die Arbeiter (Renate Hürtgen) S. 722-723
Stefan Wolle: Der Traum von der Revolte (Rainer Eckert) S. 723-725 Konstantin Hermann (Hg.): Sachsen und der »Prager Frühling« (Gunter Holzweißig) S. 725-726
Stefan Karner u. a. (Hg.): Prager Frühling (Gerhard Wettig) S. 726-728 José M. Faraldo u. a. (Hg.): Europa im Ostblock (Wolfgang Schlott) S. 729-731
Elke Fein: Rußlands langsamer Abschied von der Vergangenheit (Vera Ammer) S. 731-732
Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus (Bernd Bonwetsch) S. 732-734
Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963 (Matthias Uhl) S. 734-735
Matthias Uhl: Krieg um Berlin? (Gerhard Wettig) S. 735-737
Matthias Buchholz u. a. (Hg.): Samisdat in Mitteleuropa (Wolfgang Schlott) S. 737-738 Unsere Russen - unsere Deutschen, Hg. Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Anne Hartmann) S. 739
Bert Hoppe: In Stalins Gefolgschaft (Georg Wurzer) S. 740
Michael Schwartz (Hg.): Ernst Schumacher; Kurt Pätzold: Die Geschichte kennt kein Pardon; Werner Theuer, Bernd Florath: Robert Havemann-Bibliographie; Dies.: Robert Havemann (Hermann Weber) S. 741-743
Michael Roik: Die DKP und die demokratischen Parteien 1968_-_1984 (Wolfgang Buschfort) S. 743-744
Joachim Scherrieble (Hg.): Der Rote Ochse Halle (Saale) (Steffen Reichert) S. 745-746
Joachim Windmüller: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren … (Friedrich Christian Schroeder) S. 746-747
Peter Wurschi: Rennsteigbeat (Henning Pietzsch) S. 747-748 Willi Winkler: Die Geschichte der RAF; Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof (Tobias Wunschik) S. 748-750
Brigitte Reimann: Jede Sorte von Glück (Christina Onnasch) S. 750-751
Annotationen: Anna Christina Berlit: Notstandskampagne und Rote-Punkt-Aktion (Hendrik Bindewald); Hans-Hermann Hertle: Die Berliner Mauer - Monument des Kalten Krieges (Armin Wagner); Helga Priester: Fluchtweg Bulgarien (Helge Heidemeyer); Gerhard Hirscher, Armin Pfahl-Traughber (Hg.): Was wurde aus der DKP? (Gero Neugebauer) S. 751-753
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 2/2008 S. 754-766 DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 767-768 IMPRESSUM S. 768