EDITORIAL
Am 3. Oktober wird das vereinigte Deutschland 18 Jahre alt: Es wird gewissermaßen volljährig. Aber wird es damit auch erwachsen? Einige mögen die Frage bejahen, ließen doch sportliche Großereignisse wie zuletzt die Olympischen Spiele oder die Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr oder auch die Fußball-Weltmeisterschaft vor zwei Jahren ein recht entspanntes Nationalbewusstsein der Deutschen erkennen. Andere mögen das nicht so sehen oder die Frage zumindest verhaltener beantworten, da nach wie vor der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit keineswegs einmütig beurteilt wird. Das haben die Diskussionen um das Gedenkstättenkonzept des Bundes, das in der letzten Ausgabe des Deutschland Archivs dokumentiert und kommentiert worden ist, ebenso gezeigt wie die anhaltenden Debatten um die angemessene Erinnerung an Flucht und Vertreibung.
Die soll nun mit der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« institutionalisiert werden, doch steht mit der Besetzung des Stiftungsrates möglicherweise noch Streit ins Haus. Diese Auseinandersetzung verweist darauf, dass Deutschland – gerade durch seine Geschichte – mit den Geschicken seiner europäischen Nachbarn auf das Engste verbunden ist. Insofern wird Deutschlands weiterer Weg, wird sein Selbstbewusstsein bzw. das Bewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger auch am Verhältnis zu seinen Nachbarn zu messen sein.
Das war vor der (Wieder-)Vereinigung nicht anders, dies zeigt der Blick auf die bewegenden und aufregenden zwölf Monate davor ebenfalls. Das »Wunder von Leipzig«, der friedliche Verlauf der großen Protestdemonstration am 9. Oktober 1989, war auch dem Umstand geschuldet, dass – anders als beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 – die sowjetischen Streitkräfte in den Kasernen blieben; ja, das massive Aufbegehren in der DDR des Herbstes ’89 insgesamt war ohne den Aufbruch in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion selbst in Gestalt der Perestrojka Michail Gorbatschows kaum denkbar.
Das alles ist Anlass genug, an den Tag von Leipzig zu erinnern und sich zugleich mit der Frage nach deutscher Identität bzw. deutschen Identitäten zu befassen. Diesen Themen widmet sich das Deutschland Archiv in der vorliegenden Ausgabe ebenso, wie es verschiedene Aspekte deutsch-deutscher Geschichte zwischen 1945/49 und 1989/90 in ihren wechselseitigen Bezügen betrachtet – etwa in Kultur, Presse, Politik und Gesellschaft, im Poker um den Freikauf politischer Gefangener aus der DDR oder in den Ränke-»Spielen« deutscher Geheimdienste. Diese Verflechtung ist einer der Streitpunkte in der Debatte um »1968« in Ost und West, die in diesem Heft fortgesetzt wird.
Mit Blick auf die Gegenwart erhält die Frage nach dem Stand der deutschen Einheit einen besonderen Akzent durch die Diskussion über den Umgang mit der »Linken«, die eine ihrer Wurzeln in der früheren DDR-Staatspartei SED bzw. in deren Nachfolgerin, der PDS, hat. Die Landtagswahl in Bayern (nach Redaktionsschluss) wird zeigen, ob »Die Linke« ihren Siegeslauf im Westen Deutschlands fortsetzen kann, der in Bremen, Hessen und Niedersachsen begonnen hatte. Im Osten beruht der Erfolg dieser Partei unter anderem darauf, dass sie sich als Anwältin ostdeutscher Interessen gerieren kann – ein Mandat, das der SED im Herbst ’89 zu Recht und endgültig radikal abgesprochen worden ist.
So schließt sich auch in aktuellen Debatten – etwa um die Frage, ob bzw. wie sich »gleichwertige Lebensverhältnisse« im Osten Deutschlands erreichen lassen – ein Kreis, dessen Bogen in den Ereignissen zwischen dem 9. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 aufgespannt worden ist.
KOMMENTARE
Rainer Ohlinger: Gelungene Wege der Erinnerung? Zur Errichtung der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« S. 773-775
Peter Jochen Winters: Ehrlicher Makler zwischen den Fronten. Zum Tod von Wolfgang Vogel (1925 - 2008) S. 775-778
Ulrich Schmid: Der Prophet, auf den niemand hören wollte. Zum Tod von Alexander Solschenizyn (1918 - 2008) S. 778-780
ZEITGESCHEHEN
Susanne Rippl/Anke Petrat: Die EU vor und nach der Osterweiterung. Stimmungen in deutschen, tschechischen und polnischen Grenzregionen S. 781-792
Martin T. W. Rosenfeld: (Wie) lassen sich »gleichwertige Lebensverhältnisse« in Deutschland erreichen? Bisherige Ergebnisse und die Zukunft der interregionalen Ausgleichspolitik S. 792-799
Florian Hartleb: Das Ende des Dominoeffekts? Die Linke auf fremdem bayerischem Terrain S. 799-805
Günter Agde: Der Golzow-Gigant S. 805-809
Patricia Deuser: Deutsche Identitäten nach 1990. Das Dresdner Opfergedenken als politisches Konfliktfeld S. 810-819
ZEITGESCHICHTE
Martin Jankowski: Sieg ohne Helden - eine vergessene deutsche Revolution. Der Volksaufstand vom 9. Oktober 1989 S. 820-825
Adolf Brüggemann: Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989 S. 826-835
Stefan Laetsch: Fußballeuphorie in Deutschland. Ausdruck einer veränderten Identität? S. 836-843
Jürgen Koller: Brückenschlag in der Provinz. Nachgereichte Anmerkungen zum deutsch-deutschen Bilderstreit S. 843-849
Thomas Moser: Wechselspiel. IM »Amir« ist V-Mann »Reuter« ist
IM »Amir«: Der Fall eines deutsch-deutschen Doppelagenten S. 850-856
Jan Philipp Wölbern: Die Entstehung des »Häftlingsfreikaufs« aus der DDR, 1962 - 1964 S. 856-867
Stefan Matysiak: Zwischen den Stühlen vergessen. Die ostdeutschen Altverleger und ihre Aktivitäten im westdeutschen Exil S. 867-876
FORUM
Peter Steinbach: Der 9. November in der Erinnerung der Bundesrepublik S. 877-882
»Leitkultur der Freiheit und Einheit«. Zur Verleihung des Nationalpreises 2008
Alfred Grosser: Laudatio S. 883-886
Jürgen Engert: Dankesworte S. 886-890
Lothar Fritze: Was die DDR war S. 890-898
Hans-Jürgen Fink: '68 Ost und '68 West. Anmerkungen zu Bernd Eisenfeld, »68er«-Ost und »68er«-West (DA, 4/2008, S. 698 - 700) S. 898-902
Aufruf: »Wir waren so frei … Momentaufnahmen 1989/1990« S. 902
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN
Gerhard Wettig: Der »Prager Frühling«: das internationale Krisenjahr 1968. Konferenz in Graz S. 903-904
Tatiana Nekrasova: Währungsreform, Berlin-Blockade, Spaltung. Weichenstellungen für Nachkriegsdeutschland 1948. Deutsch-russische Historikerkonferenz in Moskau S. 905-907
Andrea Bruns: Sportgeschichte erforschen und vermitteln. Tagung in Göttingen S. 907-910
Martin Jehle: Gedenkstätten als Krisengewinnler? Forum in Ravensbrück S. 911-912
REZENSIONEN
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949 - 1990 (Martin Sabrow) S. 913-915
Mary Fulbrook: The People's State; Jeannette Z. Madarász: Conflict and Compromise in East Germany 1971 - 1989 (Werner Müller) S. 915-917
Christiane Brenner, Peter Heumos (Hg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung (Jan Pauer) S. 918
Christoph Kleßmann: Arbeiter im »Arbeiterstaat« DDR (Jeannette Madarász) S. 919-920
Sebastian Richter: Norm und Eigensinn (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 920-921
Beatrice de Graaf: Über die Mauer (Peter Maser) S. 921-922
Norbert Frei: 1968; Rudolf Sievers: 1968; Martin Klimke, Joachim Scharloth (Hg.): 1968; Ingrid Gilcher-Holthey (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos; Dies. (Hg.): 1968. Eine Zeitreise (Angelika Ebbinghaus) S. 923-925
Angelika Ebbinghaus (Hg.): Die letzte Chance? (Gerhard Wettig) S. 925-927
Hermann Wentker: Außenpolitik in engen Grenzen (Ulrich Pfeil) S. 927-928
Elke Scherstjanoi (Hg.): Zwei Staaten, zwei Literaturen? (Rüdiger Thomas) S. 929-930
Monika Estermann, Edgar Lersch (Hg.): Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren (Joachim Walther) S. 930-932
Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben; Astrid Köhler: Brückenschläge (Dennis Tate) S. 933-934
Ulrike Ziegler: Kulturpolitik im geteilten Deutschland (Bernd Lindner) S. 935-936
Annekathrin Bürger, Kerstin Decker: Der Rest, der bleibt; Angelica Domröse: Ich fang mich selbst ein; Eberhard Esche: Der Hase im Rausch; Ders.: Ein Stolz, der groß ist; Ders.: Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen; Winfried Glatzeder: Paul und ich; Herbert Köfer: Nie war es so verrückt wie immer …; Peter Sodann: Keine halben Sachen; Hilmar Thate: Neulich, als ich noch Kind war (Günter Agde) S. 936-939
Lothar Steinbach: Bevor der Westen war (Gerald Diesener) S. 940-941
Hans Modrow: In historische Mission (Peter Jochen Winters) S. 941-942
Klaus Taubert: Generation Fußnote* (Gunter Holzweißig) S. 942-943
Tilman Grammes u. a.: Staatsbürgerkunde in der DDR (Tina Kwiatkowski-Celofiga) S. 943-944
Heike Amos: Die Entstehung der Verfassung in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR 1946 - 1949 (Mike Schmeitzner) S. 944-945
Stephan Glienke u. a. (Hg.): Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? (Katrin Hammerstein) S. 946-947
Julia von Dannenberg: The Foundations of Ostpolitik (Hermann Wentker) S. 947-949
Gerd-Helmut Komossa: Die deutsche Karte (Armin Wagner) S. 949-950
Norbert Peche: Selbst ist das Volk (Joachim Ragnitz) S. 950-952 Alexander Mackat: Das deutsch-deutsche Geheimnis (Thomas Ahbe) S. 952-953
Eckhard Jesse, Jürgen P. Lang: Die Linke; Georg Fülberth: »Doch wenn sich die Dinge ändern«; Michael Brie u. a. (Hg.): Die Linke (Armin Pfahl-Traughber) S. 953-956
Annotationen
Klaus Marxen, Annette Weinke (Hg.): Inszenierungen des Rechts (Karl Wilhelm Fricke) S. 956; Dokumente zur Deutschlandpolitik, VI. Reihe/Bd. 4 (Hermann Wentker) S. 957; Achim Franke: Der Weg zur Deutschen Einheit von 1978 - 1990 (Detlef Kühne) S. 957; Gerhard Loettel: Einmischung (Gerhard Schildt) S. 958; André Steiner (Hg.): Überholen ohne einzuholen (Oliver Werner) S. 958
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 959
IMPRESSUM S. 960