EDITORIAL War die DDR eine Diktatur? Nur 49 Prozent im Osten, gegenüber 60 Prozent im Westen bejahen dies – zumindest unter Berliner Schülerinnen und Schülern. Damit korrespondiert, dass 40 Prozent von ihnen (im Osten; im Westen 24 Prozent) die Stasi für einen gewöhnlichen Geheimdienst halten. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Erhebung, die der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November vorgelegt hat. Die Studie verweist auf erhebliche Defizite in der Vermittlung von Wissen über die DDR und ihre Geschichte. Sie bestätigt damit in der Tendenz einen Befund, zu dem eine deutschlandweite Untersuchung durch ein Forscherteam um Ulrich Arnswald vor einem Jahr gekommen war (vgl. Deutschland Archiv, 6/2006). Und Mängel bei der Vermittlung von DDR-Geschichte hatte auch die Stiftung Warentest Ende September im Rahmen einer Untersuchung von Schulbüchern diagnostiziert.
Was hier in speziellen Punkten kritisiert wurde, geht über Detailfragen hinaus, ist grundsätzlicher Natur. So sind die Ursachen für die defizitäre Vermittlung von Erkenntnissen über die DDR äußerst vielschichtig. Sie allein den Schulen bzw. Schulbehörden und den Lehrkräften zuzuweisen, greift zu kurz. Vielmehr dürfte die Verantwortung für das undifferenzierte geschönte Bild von der DDR – dies legen gerade die Ost-West-Differenzen in den Ergebnissen der Studie des Forschungsverbundes nahe – auch und vor allem in den Elternhäusern der Kinder und Jugendlichen und in ihrem näheren sozialen Umfeld zu suchen sein. Offenbar wird hier eine Erinnerung an die DDR gepflegt, die diktatorische Aspekte des Alltags im SED-Staat ausblendet. Diese dunklen Stellen sind anscheinend auch nicht durch so ambitionierte Projekte wie die Filme »Das Leben der Anderen« oder »Die Frau vom Checkpoint Charlie«, die immerhin ein Millionenpublikum erreicht haben, auszuleuchten. Vielmehr sind vielerorts Resistenzen gegenüber einschlägigen Bewertungen des SED-Staat zu beobachten, die auch Der Spiegel in einer Reportage über die »Kinder des Mauerfalls« verzeichnet hat.
Dass man die DDR durchaus differenziert betrachten kann, ohne ihren diktatorischen Charakter in Frage zu stellen, ist offenbar nicht zu vermitteln. Und so erreicht das facettenreiche Bild, das die Wissenschaft seit langem von der DDR zeichnet, die Öffentlichkeit nicht. Über die Ursachen hierfür ist ebenso heftig gestritten worden (und wird immer noch gestritten) wie über die adäquate Aufarbeitung der DDR-Geschichte und ihre Darstellung, gerade im deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht und im internationalen Kontext.
Diesem Anliegen versucht das Deutschland Archiv nach wie vor gerecht zu werden. So greift auch die vorliegende Ausgabe die hier angerissene(n) Diskussion(en) auf. Dies geschieht ebenso mit Blick auf die Arbeiten am Gedenkstättenkonzept der Bundes sowie anhand verschiedener Erfahrungen bei der historischen und juristischen Aufarbeitung der SED-Diktatur. In etlichen Beiträgen werden zudem die Verflechtungen der DDR im äußeren Umfeld, einschließlich der Bundesrepublik, deutlich.
All dies dient der Verständigung über die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte, die der zentrale Gegenstand des Deutschland Archivs ist. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung über den Stellenwert der DDR-Geschichte in der deutschen wie in der europäischen Geschichte.
In diesem Sinne ist auch ein Projekt zu sehen, das ebenfalls noch für kontroverse Diskussionen sorgen wird: das Vorhaben, im Jahre 2009 in Berlin ein »Denkmal für Freiheit und Einheit« zu errichten, das der Deutsche Bundestag am 9. November beschlossen hat.
KOMMENTARE Marc-Dietrich Ohse: Aufarbeitung und Gedenken. Das Gedenkstättenkonzept des Bundes muss zügig zum Abschluss gebracht werden S. 965-967
Thomas Ahbe: Hammer, Sichel, Mythenkranz. Demokratische Selbstvergewisserung auf Kosten der Trägergenerationen der DDR. Zur Wanderausstellung »›Das hat’s bei uns nicht gegeben!‹ Antisemitismus in der DDR« S. 967-970
Gunter Holzweißig: Ein engagierter Deutschlandpolitiker. Ludwig A. Rehlinger zum 80. Geburtstag S. 971-972
Manfred Jäger: Chroniken eines Gedächtniskünstlers. Zum Tode von Walter Kempowski (1929 – 2007) S. 972-974
Jürgen Koller: Wider den Strom der Zeit. Nachruf auf Heinz Tetzner (1920 – 2007) S. 975-976
ZEITGESCHEHEN Markus Linden: Wie frustriert sind die Deutschen? Eine international vergleichende Bestandsaufnahme der Redeweise von der »Politikverdrossenheit« S. 977-987
Wilhelm Hinrichs: Ausländermetropole Berlin: Integration West und Integration Ost? S. 987-998
ZEITGESCHICHTE Hermann Wentker: Äußerer Prestigegewinn und innere Zwänge. Zum Zusammenhang von Außen- und Innenpolitik in den letzten Jahren der DDR S. 999-1006
Carsten Penzlin: »Menschliche Erleichterungen«. Ost-Berliner und Moskauer Wahlhilfe für die sozial-liberale Koalition im Bundestagswahlkampf von 1972 S. 1006-1013
Tobias Wunschik: Die »Bewegung 2. Juni« und ihre Protektion durch den Staatssicherheitsdienst der DDR S. 1014-1025
Jörn-Michael Goll: Innenansichten. Die Kontrolle des deutsch-deutschen Paket- und Päckchenverkehrs durch Zoll und Staatssicherheit der DDR S. 1025-1033
Lars-Broder Keil: »Irgendetwas ist schief«. Jürgen Kuczynski, Kurt Hager und der US-Geheimdienst 1944/45 S. 1034-1041
Anne Chr. Nagel: Aus der Sicherheit des Westens. Wolfgang Abendroth zur Dissidentenfrage in der DDR S. 1041-1045
Theo Mechtenberg: Der erste Besuch Johannes Pauls II. in Polen und die Staatssicherheit S. 1045-1051
Anmerkung zu Karlheinz Lau, Verständnis und Verständigung (DA, 5/2007, S. 783 – 785) (Hans Lindemann) S. 1051
FORUM Klaus-Dietmar Henke: »Aufarbeitung verstärken, Gedenken vertiefen«. Grundsätzliche Bemerkungen zum Gedenken an deutsche Diktaturen S. 1052-1055
Hansgeorg Bräutigam: 17 Jahre Rehabilitierung. Der Versuch, SED-Unrecht wiedergutzumachen S. 1056-1066
Joachim Lampe: Die Bedeutung der Stasi-Unterlagen bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der operativen Westarbeit des MfS S. 1067-1071
Roger Engelmann: Die herbeigeschriebene »Legitimationskrise«. Anatomie einer Kampagne gegen die Stasi-Unterlagen-Behörde S. 1071-1078
Rainer Eppelmann: »Wo und wie können die Idee und das Anliegen eines Freiheits- und Einheitsdenkmals in einem künstlerischen Wettbewerb umgesetzt werden?« S. 1079-1083
Schatten der Vergangenheit – Gerichtsbegradigung? Antwort auf Klaus Schroeder und Jochen Staadt (DA, 5/2007, S. 890 – 899) (Jens Hüttmann) S. 1084
Gegen die Wende-Demagogie – für den Revolutionsbegriff. Anmerkungen zu: Michael Richter, Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffs (DA, 5/2007, S. 861 – 868) (Rainer Eckert) S. 1084-1086
Ebenfalls gegen die Wende-Demagogie und für den Revolutionsbegriff. Replik auf Rainer Eckerts Anmerkungen (Michael Richter) S. 1086-1087
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Stefan Köppl: Einheit in der Vielfalt. Deutschland auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsmodell. Tagung in Tutzing S. 1088-1091
Heidi Behrens: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Arbeit mit Zeitzeugen in Gedenkstätten und in der politischen Bildungsarbeit. Workshop in Berlin S. 1091-1094
Marc-Dietrich Ohse: Staat und Gesellschaft in der Diktatur. Tagung in Archangelsk S. 1095-1097
Michael Westdickenberg: Erbauungsliteratur in Backpflaumen. »Der heimliche Leser in der DDR«. Tagung in Leipzig S. 1097-1099
Imke Hansen: Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Tagung in Heidelberg S. 1099-1103
REZENSIONEN Bernd-Rainer Barth, Werner Schweizer: Der Fall Noel Field (Günter Jeschonnek) S. 1104-1106
Hermann Weber u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (Jochen Laufer) S. 1106-1107
Paul Maddrell: Spying on Science (Helmut Müller-Enbergs) S. 1107-1109
Georg Herbstritt: Bundesbürger im Dienst der DDR-Spionage (Hubertus Knabe) S. 1109-1111
Eric Gujer: Kampf an neuen Fronten (Friedrich-Wilhelm Schlomann) S. 1111-1112
Werner Bräunig: Rummelplatz (Jörg Bernhard Bilke) S. 1112-1113
Viola Kühn: Der Traum vom Glück; Eva-Maria Neumann: Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit; Rudolf Müller: Tunnelflucht in Berlin (Carsten Dippel) S. 1113-1116
Damian van Melis, Henrik Bispinck: »Republikflucht« (Helge Heidemeyer) S. 1116-1117
Jens Niederhut: Wissenschaftsaustausch im kalten Krieg (Ludwig J. Cromme) S. 1117-1118
Renate Meyer-Braun: Löcher im Eisernen Vorhang (Erich Röper) S. 1119-1120
Jens Schöne: Stabilität und Niedergang (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 1120-1121
Sabine Dengel: Untertan, Volksgenosse, Sozialistische Persönlichkeit (Gert Geißler) S. 1122
Edeltraut Roller u. a. (Hg.): Jugend und Politik: »Voll normal!« (Barbara Hille) S. 1123-1124
Ulrike Hänsch: »Jetzt ist eine andere Zeit«; Bärbel Bohley u. a.: Mut; Nils Floreck: Stark und mutig, schön und weise; Ursula Schröter, Renate Ullrich: Patriarchat im Sozialismus?; Eva Sänger: Begrenzte Teilhabe; Sylka Scholz (Hg.): »Kann die das?« (Katharina Gajdukowa) S. 1125-1128
Andreas Wirsching (Hg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie; Wolfgang Lepenies: Kultur und Politik; Riccardo Bavaj: Von links gegen Weimar (Hermann Weber) S. 1129-1131
Reiner Kunze: lindennacht (Jürgen P. Wallmann) S. 1132-1133 Annotationen S. 1134-1137
[Manfred Meier: Ein Leben in Deutschland (Gunter Holzweißig); Martin Jankowski: Der Tag, der Deutschland veränderte (Marc-Dietrich Ohse); Dirk Mellies: Trojanische Pferde in der DDR? (Udo Baron); Kirstin Wesemann: Ulrike Meinhof (Tobias Wunschik); Jürgen Danyel u. a. (Hg.): 50 Klassiker der Zeitgeschichte (Rainer Eckert); Klaus Naumann: Generale in der Demokratie (Eberhard Birk); Václav Havel: Fassen Sie sich bitte kurz (Ralf Altenhof)]
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 3/2007 S. 1138-1150
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 1151-1152 IMPRESSUM S. 1152