EDITORIAL
»Am Montagabend kam es im Leipziger Zentrum zu nicht genehmigten, ungesetzlichen Zusammenrottungen, die die öffentliche Ordnung störten und den Verkehr zeitweise beeinträchigten. Durch das besonnene und zurückhaltende Verhalten der Sicherheitskräfte blieb diese neuerliche Zusammenrottung mit eindeutig antisozialistischer Tendenz begrenzt.« Mit diesen Worten berichtete die Leipziger Volkszeitung am 26. September 1989 über eine der ersten Montagsdemonstrationen in der Messestadt. Zehn Tage später veröffentlichte die LVZ einen »Leserbrief«, worin ein Kampfgruppenkommandeur erklärte, man sei »bereit und Willens, […] diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!«
Versucht hatte das der SED-Staat bereits in Dresden, Plauen und anderen Städten, wo Anfang Oktober Tausende Menschen auf die Straßen gegangen waren, um ihre Rechte und Reformen in der DDR einzufordern. Die Revolution des Herbstes ’89 hatte begonnen, und sie begann keineswegs so friedlich, wie sie heute gemeinhin bezeichnet wird. Die SED demonstrierte allerorten ihr Gewaltmonopol – auch in Leipzig, wo sie am 9. Oktober allerdings vor der schieren Masse kapitulierte, die gegen das Regime auf die Straße gegangen war. Am Staatsfeiertag zwei Tage zuvor war es der Staatsmacht noch gelungen, (vorübergehend) wieder Ruhe und Ordnung in ihrem Sinne zu schaffen – besonders brutal in Dresden und in Berlin.
Diese Gewaltexzesse sind ebenso Gegenstand von Betrachtungen im vorliegenden Deutschland Archiv wie die Botschaftsbesetzungen, welche im Kontext der Fluchtwelle seit dem Sommer 1989 die Krise der DDR zuspitzten. Dass Ungarn, Polen und schließlich auch die Tschechoslowakei sich dabei nicht dem Willen Ost-Berlins beugten, zeigt, wie sehr auch dieses Kapitel jüngster (deutsch-)deutscher Geschichte vom internationalen Kontext abhing. Daran haben jüngst verschiedene Initiativen erinnert, deren Appelle im aktuellen DA dokumentiert werden. Dabei nehmen die Aufrufe jeweils Bezug auf die Vorgeschichte der deutschen und europäischen Teilung. Sie erinnern an das Leid, das Deutsche vor 70 Jahren über den Kontinent brachten. Und so mischen sich in die Freude über die Selbstbefreiung der Menschen in der DDR verhaltenere Töne, ist 2009 keineswegs nur ein »Jubeljahr«, nicht ein »rauschendes Selbstbespiegelungsfest unserer Nation« geworden, wie Georg Diez im Editorial zur ersten DA-Ausgabe dieses Jahres zitiert worden ist. Möglicherweise ist diese Nachdenklichkeit auch einer der Gründe dafür, weshalb der Wettbewerb um das neue »Nationaldenkmal für Freiheit und Einheit« gescheitert ist. In der Auseinandersetzung hierzu geht es tatsächlich um die Frage, ob in der Freude über die Überwindung von (dunkler) Vergangenheit jeweils auch die Schattenseiten dieser Geschichte sichtbar werden oder sichtbar werden müssen.
Im vorliegenden Heft widmen sich mehrere Beiträge dem Umgang mit verschiedensten Denkmälern, etwa dem pädagogischen Wert von Gedenkstätten, dem Erbe von Denkmalen überwundener Diktaturen und deren Idolen. Schließlich geht es auch um das Denkmal für Freiheit und Einheit, das in Berlins Mitte errichtet werden soll; und es geht um ein bauliches Zeichen, das in Leipzig an die zigtausenden Demonstranten des Herbstes ’89 erinnern soll. Mit ihrem Mut und dem der Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die den Demonstranten damals Worte gaben, aber auch mit dem deutlichen Zeichen des Unmuts, das Tausende mit ihrer Flucht aus dem SED-Staat setzten, begann vor 20 Jahren die friedliche Revolution – friedlich allerdings nur deswegen, weil die Aufbegehrenden sich von der Gewalt des Staates nicht selbst zu Gewalt provozieren ließen. Allein dies ist schon der Erinnerung wert.
INHALTSVERZEICHNIS
ZEITGESCHEHEN
Markus Linden: Was ist eine Partei? Kritische Anmerkungen zu den Beschlüssen des Bundeswahlausschusses S. 773-780
Christoph Stawenow: Warum ist Deutschland noch nicht zusammengewachsen? Zur Entstehung einer politischen Teilkultur in den neuen Bundesländern S. 781-787
Markus Porsche-Ludwig: 19 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Eine Bilanz der Verfassungsdebatte S. 788-795
Manfred Jäger: Zigeunergeiger mit Spieltrieb. Zum Tod von Adolf Endler (1930 – 2009) S. 796-767
DOKUMENTATION
»Das Jahr 1989 feiern, heißt auch, sich an 1939 zu erinnern!« Eine Erklärung zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August S. 798-801
»Die historische Erinnerung ist ein Mandat für Handeln in Gegenwart und Zukunft.« Leipziger Thesen S. 801-803
»Von einer ›Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse‹ verabschieden«? Ein »Politikvorschlag« zum demografischen Wandel S. 803-809
Jochen Laufer: Stalin, Dimitrov und der Aufruf der KPD vom 11. Juni 1945. Deutschland und die Pax Sovietica S. 810-815
Dokumentation: Aufruf der KPD vom Juni 1945 S. 815-820
ZEITGESCHICHTE
Klaus Bästlein: Der letzte »Tag der Republik«. Aus den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zum 7./8. Oktober 1989 in Berlin S. 821-831
Wolfgang Mayer: Die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und Prag vor und während des Herbstes 1989 S. 831-841
Daniel Friedrich Sturm: »Metternich« in Moskau. Egon Bahrs Wandel durch Annäherung S. 841-846
Nikolaus Werz: Lateinamerikaner in der DDR S. 846-855
Ronald Galenza: Eine moribunde Rentnerin. AMIGA S. 856-862
FORUM
Kathi Bromberger/Bert Pampel/Matthias Rosendahl: »Jetzt haben wir auch mal die schlechten Seiten der DDR gesehen.« Eine empirische Studie zu Schulklassenbesuchen in der Gedenkstätte Bautzen S. 863-873
Jürgen Koller: … und der Beton, gegossen für die sozialistische Ewigkeit, zerbröselt. Randnotizen zu einem »Ehrenhain der Sozialisten« S. 873-879
Marko Demantowsky: Das geplante neue Berliner Nationaldenkmal für »Freiheit und Einheit«. Ansprüche, Geschichte und ein gut gemeinter Vorschlag S. 879-887
Michael Lühmann: Als die Demokratie wieder laufen lernte S. 887-891
Axel Klausmeier: Ein Memorialort neuer Prägung. Die Erweiterung der »Gedenkstätte Berliner Mauer« an der Bernauer Straße S. 892-900
Jürgen P. Lang: Heilige Rosa? Die Luxemburg-Rezeption in der Partei »Die Linke« S. 900-907
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN
Svea Koischwitz: Wahlen in Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Internationale Konferenz in Köln S. 908-911
Marc-Dietrich Ohse: Die »schöne neue Welt« nach dem Kommunismus. Internationale Tagung in Wien S. 911-913
Isabel Reißmann: Politische Wechsel – sprachliche Umbrüche Internationale Konferenz in Leipzig S. 913-916
Heike Tuchscheerer: 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre wiedervereinigtes Deutschland. Symposium in Nürnberg S. 916-918
REZENSIONEN
Joachim Jauer: Urbi et Gorbi (Martin Greschat) S. 919 Manfred Bogisch: Die LDPD und das Ende der DDR (Jürgen Frölich) S. 920
Elena Demke: Die Friedliche Revolution 1989/90 (Rainer Brieske) S. 921
Matthias Uhl: Die Teilung Deutschlands (Rolf Steininger) S. 922
Edgar Wolfrum: Die Mauer; Frederick Taylor: Die Mauer (Gerhard Sälter) S. 923-924
Gerhard Sälter: Grenzpolizisten (Peter Joachim Lapp) S. 925-926
Günter Schabowski: Der Zerfall einer Leihmacht; Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren: Wir haben fast alles falsch gemacht (Peter Jochen Winters) S. 926-927
Matthias Frings: Der letzte Kommunist (Volker Gransow) S. 928-929
Mike Schmeitzner: Doppelt verfolgt (Karl Wilhelm Fricke) S. 929-930
Jan Schönfelder: Klassen-Kampf (Henning Pietzsch) S. 931-932
Kirstin Wappler: Klassenzimmer ohne Gott (Andreas Fraude) S. 932-933
Uwe Tellkamp: Der Turm (Manfred Jäger) S. 933-936
Ernst Engelberg: Die Deutschen (Rudolf von Thadden) S. 936-938
Christian Saehrendt: Kunst als Botschafter einer künstlichen Nation (Matthias Braun) S. 939-940
Peter Arlt: Die Flucht des Sisyphos (Bernd Lindner) S. 940-941
Sven Vollrath: Zwischen Selbstbestimmung und Intervention; Dieter Segert: Das 41. Jahr (Peer Pasternack) S. 941-943
Peer Pasternack (Hg.): Stabilisierungsfaktoren und Innovationsagenturen (Andreas Malycha) S. 943-945
Manfred Görtemaker: Die Berliner Republik (Markus Linden) S. 945-946
Daniela Dahn: Wehe dem Sieger! (Heinrich Bortfeldt) S. 946-947
Heidi Behrens, Paul Ciupke, Norbert Reichling (Hg.): Lernfeld DDR-Geschichte (Ulrich Bongertmann) S. 947-948
Peter Ensikat: Populäre DDR-Irrtümer; Ralph Hartmann: DDR-Legenden (Eckhard Jesse) S. 949-950
Dolores L. Augustine: Red Prometheus (Armin Müller) S. 950-951
Michael S. Falser: Zwischen Identität und Authentizität (Klaus von Beyme) S. 951-953
Jörg Berger: Meine zwei Halbzeiten (Hans-Dieter Krebs) S. 953-954
Gero von Gersdorff: Die Gründung der Nordatlantischen Allianz (Siegfried Schwarz) S. 954-955
AnnotationenS. 955-958
Alexander Schug (Hg.): Palast der Republik (Katja Schlenker)
Hiltraud Casper-Hehne, Irmy Schweiger (Hg.): Deutschland und die »Wende« in Literatur, Sprache und Medien (Gustav Korlén)
Jens Saadhoff: Germanistik in der DDR (Horst Schmidt)
René Granzow: Gehen oder Bleiben? (Rainer Eckert)
Christian Sachse: Den Menschen eine Stimme geben (Dirk Klose)
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 959-560 IMPRESSUM S. 960