Im Februar vor fünfzig Jahren erlebte die Welt eine Sensation: Hinter verschlossenen Türen verkündete der Chef der sowjetischen Kommunisten, Nikita Chruschtschow, das Ende des Stalinismus, »enthüllte« einige der Verbrechen, die unter seinem Vorgänger Stalin geschehen waren, und eröffnete den Satelliten Moskaus die Möglichkeit, sich einen eigenen Weg zum Sozialismus zu suchen. Ebenso sensationell war die Rückkehr des polnischen Reformpolitikers Wladislaw Gomulka an die Warschauer Parteispitze im Sommer 1956. Weniger sensationell, sondern vorhersehbar war, dass das Regime die vorausgegangenen Streiks in Posen niedergeschlagen hatte. Und an der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes wenige Monate später überraschte eigentlich nur noch die Brutalität der Sowjets.
Das Eingreifen Moskaus in Budapest zeigte zugleich, wie eng Chruschtschow die Grenzen gesteckt hatte, innerhalb derer der jeweils »eigene Weg zum Sozialismus« in den sowjetischen Satellitenstaaten zu verlaufen hatte. Das kostete die Sowjets ein erhebliches Maß des Ansehens, das sie sich im Gefolge des XX. Parteitages der KPdSU am Anfang des Jahres hatten erwerben können. Doch der Westen vergab diesen Propagandavorteil im Verlauf der Suez-Krise: wenige Tage nach den Ereignissen in Budapest besetzten britische und französische Fallschirmjäger den Suez-Kanal und demonstrierten damit nicht geringere imperiale Gelüste als die Sowjetunion …
Die weltpolitische Entspannung, die man nach dem Moskauer Parteitag hatte erwarten dürfen, blieb also aus. Ohnehin unberührt davon zeigte sich die ostdeutsche Staats- und Parteiführung um Walter Ulbricht. Die Hoffnungen, die Chruschtschow geweckt hatte, wurden in der DDR von Anfang an enttäuscht. Dies hatte erhebliche Folgen für die weitere Entwicklung des SED-Staates, für die ostdeutsche Gesellschaft und für den Fortbestand der deutschen Teilung.
Die Erwartungen von 1956, der Umgang damit und letztlich ihre Enttäuschung stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Deutschland Archivs. Betrachtet werden dabei die kurz- und langfristigen Folgen der »Entstalinisierung« in verschiedensten Bereichen von Politik und Gesellschaft sowie persönliche Erlebnisse in diesem Kontext. Dabei reicht der Blick über die DDR hinaus, gefragt wird in diesem Heft auch nach den Auswirkungen des Chruschtschowschen »Tauwetters« auf andere Länder.
Anders als etwa beim Blick auf das Jahr 1953, dessen Krisen Ulbricht ebenso erfolgreich zu meistern verstand, wird bei der Betrachtung der Ereignisse von 1956 deutlich, dass die Geschichte des geteilten Deutschlands in einen weltpolitischen Kontext eingebettet war. Dies zeigte schon Chruschtschows Rede von »friedlicher Koexistenz«, unübersehbar wurde es durch das Eingreifen Moskaus in Ungarn, aber auch das Engagement Londons und Paris’ im Nahen Osten.
Insofern verdeutlichen die Ereignisse vor fünfzig Jahren und die darauf folgenden Entwicklungen, wie eng verflochten die europäische Geschichte – und auch die jenseits unseres Kontinents – war und ist. Das Deutschland Archiv widmet sich auch diesem Thema und sucht zugleich in bewährter Weise die Auseinandersetzung mit allgemeinen und sehr speziellen Aspekten der Hinterlassenschaft des SED-Staates, diesmal mit den Akten und mit »Kindern« der Staatssicherheit.
Mit dem Blick über den »Tellerrand« aber soll vor allem demonstriert werden, wie wichtig die gemeinsame Aufarbeitung von Geschichte über die Grenzen Deutschlands hinaus ist. Das Datum von »1956« ist erneut ein Anlass, sich dieser Aufgabe bewusst zu werden und sich ihrer anzunehmen.
ANMERKUNG DER REDAKTION:Die Website www.wbv.de/deutschlandarchiv wird derzeit überarbeitet. In Kürze steht sie wieder zur Verfügung und hält dann auch das Jahresinhaltsverzeichnis für den 38. Jahrgang (2005) zum Download bereit.
KOMMENTAREMarc-Dietrich Ohse: »Haben Sie schon eine Idee?«, S. 5-7
Steffen Haffner: Die Fusion des deutschen Sports, S. 8-13
Manfred Jäger: Erich Loest – ein Lebenskluger wird 80, S. 13-15
Alexander von Plato: »Architekt der Perestroika« gestorben. Zum Tod von Alexander N. Jakowlew, S. 16-17
Widerspruch: Zu Peter Jochen Winters, »Anwalt der Menschen zwischen den Fronten«, DA 5/2005 (Alexander W. Bauersfeld), S. 18
Festgabe für Wolfgang Vogel (Peter Jochen Winters), S. 18
ZEITGESCHEHENStefan Troebst: Am Anfang des GULag-Gedächtnisses. Das Jahr 1956 und Europas aktuelle Erinnerungskonflikte, S. 19-26
ZEITGESCHICHTEErich Loest: Die Jahrhundertrede, S. 27-34
Mary Fulbrook: »Entstalinisierung« in der DDR. Die Bedeutung(slosigkeit) des Jahres 1956, S. 35–42
Hope M. Harrison: Ulbricht und der XX. Parteitag der KPdSU. Die Verhinderung politischer Korrekturen in der DDR, 1956–1958, S. 43-53
Martin Greschat: Gemeinschaft mit dem Osten? Die Ökumene und die Kirchen im Ostblock in der nachstalinistischen Zeit, S. 53-62
Kai Agthe: »Es konnte passieren, dass man auf Minen lief«. Ein Gespräch mit Friedrich Dieckmann, S. 62-68
Oliver Werner: Ein Jongleur der Macht. Paul Fröhlich und »sein« Bezirk Leipzig in der DDR-Wirtschaftspolitik 1956 bis 1961, S. 68-77
Jens Schöne: Der »sozialistische Frühling« auf dem Lande. Determinanten der SED-Agrarpolitik zwischen Reformdiskussion und Vollkollektivierung, S. 77-85
Helmut Wagner: Die »deutsche Ostpolitik«. Ihre Genese und spätere Interpretation, S. 85-92
Richtigstellung zu Reinhard Buthmann, Megakrise und Megakredit, DA 6/2005 (Reinhard Buthmann), S. 92
Olaf Klenke: »Verlorene Generation« statt Kampfreserve der Partei. Die Arbeiterjugend und die »Zukunftstechnik« Mikroelektronik in der späten DDR, S. 93-98
FORUMHelmut Müller-Enbergs: Agentenkinder, S. 99-105
Alf Lüdtke: »Die Akten gehören uns!«. Stasi-Akten: wohin?, S. 106-109
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGENNikolaus Werz: Neues Deutschland. Eine Bilanz der deutschen Wiedervereinigung. Jahrestagung der DGfP in Tutzing, S. 110-112
Silke Flegel/Frank Hoffmann: »Historische Erinnerung im Wandel. Internationale DDR-Forschertagung in Weimar, S. 112-118
Günter Agde: »Störende Gäste«. Leinwand zwischen Tauwetter und Frost. Internationales Symposium in Potsdam, S. 118-121
Gertraud Grünzinger: Protestantismus und soziale Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Tagung in Tutzing, S. 122-125
Marc-Dietrich Ohse: Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Deutsch-russische Historikerkonferenz in Moskau, S. 126-128
Siegfried Schwarz: Ist die KSZE/OSZE noch zeit- gemäß? 9. Potsdamer Kolloquium zur Außen- und Deutschlandpolitik, S. 128-130
REZENSIONENGünther Heydemann/Heinrich Oberreuther (Hg.): Diktaturen in Deutschland (Ulrich Kurzer), S. 131-133
Richard Overy: Die Diktatoren (Fred S. Oldenburg), S. 133-134
Klaus Kellmann: Stalin (Gerhard Wettig), S. 134-135
Arsenij Roginskij u.a. (Hg.): »Erschossen in Moskau …« (Jochen Laufer), S. 135-136
Alexander N. Jakowlew: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland (Rahel Frank), S. 137-138
Heidrun Hamersky (Hg.): Gegenansichten (Rainer Eckert), S. 138-139
Detlef Pollack/Jan Wielgohs (eds.): Dissent and Opposition in Communist Eastern Europe (Georg Herbstritt), S. 140-141
Andrei Corbea-Hoisie u.a. (Hg.): Umbruch im östlichen Europa (Katharina Gajdukowa), S. 141-143
Stejârel Olaru/Georg Herbstritt (eds.): Vademekum Contemporary History Romania (Volker Bendig), S. 143-144
Peter Joachim Lapp: Georg Dertinger (Friedrich-Wilhelm Schlomann), S. 145-146
Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen (Eberhard Görner), S. 146-147
Erich Loest: Sommergewitter (Günther Rüther), S. 148-149
Hans Modrow/Hans Watzek (Hg.): Junkerland in Bauernhand (Jens Schöne), S. 149-151
Thomas Lindenberger: Volkspolizei (Stephan Zeidler), S. 151-153
Klaus Behling: Der Nachrichtendienst der NVA; Walter Richter: Der Militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR und seine Kontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit (Heiner Bröckermann), S. 154-155
Dimitrij N. Filippovych/Matthias Uhl (Hg.): Vor dem Abgrund (Armin Wagner), S. 156-157
Peter Tannhoff: Sprutz in den Fängen der NVA; Holger Richter: Güllenbuch (Peter Schicketanz), S. 158-159
www.jugendopposition.de (Klaus Fieberg), S. 159-160
Henning Pietzsch: Jugend zwischen Kirche und Staat (Hermann Wentker), S. 161-162
Annette Weinke/Gerald Hacke: U-Haft am Elbhang (Henry Krause), S. 162-163
Thomas Klemm u. a.: Eine zweite Öffentlichkeit? (Susann Hannemann), S. 164-165
Dirk Moldt (Hg.): mOAning star (Hubertus Knabe), S. 166-167
Jost-Arend Bösenberg: Die Aktuelle Kamera (Gunter Holzweißig), S. 167-169
Michael Parak: Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen (Andreas Malycha), S. 169-171
Günter Buchstab (Hg.): Brücke in eine neue Zeit (Matthias Belafi), S. 172
Klaus Schönhoven: Wendejahre (Heiko Tammena), S. 173-174
Andreas Kießling: Die CSU; Kay Müller: Schwierige Machtverhältnisse (Jürgen P. Lang), S. 175-177
Jens König: Gregor Gysi (Florian Hartleb), S. 177-178
Ehrhard Eppler: Auslaufmodell Staat? (Rolf Reißig), S. 178-180
Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates (Tim Engartner), S. 180-181
Claus J. Duisberg: Das deutsche Jahr (Siegfried Schwarz), S. 181-182
Christa Luft: Wendeland (Jörg Roesler), S. 183
Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), Hg. Friedrich-Ebert-Stiftung/Institut für Sozialgeschichte (Thomas Ahbe), S. 184-186
Helga M. Novak: wo ich jetzt bin (Jürgen P. Wallmann), S. 186-187
Ines Geipel: Heimspiel (Udo Scheer), S. 187-188
Annotationen, S. 188-190
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES, S. 191-192IMPRESSUM, S. 192