Das versteht man also unter »deutscher Einheit«: Wohin man schaut, überall dürfen die Ossis die Dreckarbeit machen – in der Fußballnationalmannschaft, in der SPD, in der CDU und in der Bundesregierung. Michael Ballack, Matthias Platzeck, Angela Merkel: der Osten dominiert Deutschland, sieht man einmal von Jürgen Klinsmann und Horst Köhler ab.
Das lebhafte Echo, das der Aufstieg der beiden politischen Granden Merkel und Platzeck erzeugt hat, das Interesse an ihrem – auf je eigene Art in einigen Zügen durchaus typischen – Werdegang in der DDR zeigt, dass in der deutschen Politik (anders als in der Bundesliga, wo ostdeutsche Spitzenkicker, wenngleich nicht Spitzenvereine, längst eine Normalität darstellen) ostdeutsche Spitzenleute in gewissem Maße immer noch Exoten sind.
So erkunden Feuilletonisten, Soziologen und Politikwissenschaftler in diesen Wochen wieder einmal intensiv das ostdeutsche Seelenleben und die deutsch-deutsche Geschichte – und das ist nicht das Schlechteste, das man 15 Jahre nach Herstellung der politischen Einheit Deutschlands erwarten kann. Denn auf diese Weise, gerade auch beim Blick auf die Bio-grafien von Angela Merkel und Matthias Platzeck, kommen Normalitäten und Absurditäten des Lebens hinter der Mauer erneut in den Blick.
Die Öffnung dieser monströsen, brutalen Grenze jenes Staates, in dem die Vorsitzenden der beiden Volksparteien aufgewachsen sind, ist nun 16 Jahre her. ›Die Mauer und ihre Überwindung‹ ist eines der zentralen Themen im vorliegenden Heft des Deutschland Archivs. Dabei stehen im Mittelpunkt der verschiedenen Beiträge weniger die innerdeutsche Grenze selbst, als vielmehr Überlegungen zu ihrer Überwindung. Überlegungen, die sowohl von ostdeutschen Widerständlern als auch von deutschen und internationalen Unterhändlern angestellt wurden. Das Grenzregime der DDR und die Verweigerung von Freizügigkeit gegenüber ihren Bürgern aber war eine Grundbedingung für den Erhalt der SED-Diktatur, und der menschenrechtswidrige Umgang mit Ausreisewilligen unterstreicht dies in besonderer Weise.
Aus Sicht einer freiheitlichen Gesellschaft war all dies absurd, in der DDR selbst gehörte es jedoch zum Alltag der »geschlossenen Gesellschaft«. Dieser Alltag kannte natürlich auch zahlreiche Lichtpunkte, und das Comic-Magazin Mosaik war einer davon. Es wird dieser Tage fünfzig Jahre alt, und das Deutschland Archiv gratuliert dazu.
Allerdings gehörte das Mosaik nicht zu jenen Dingen, mit denen die DDR ihr Renommee im Westen zu stärken versuchte. Das gilt schon gar nicht für die militante Gruppe, die im Umfeld der DKP den Sturz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung probte, noch für die zahlreichen Flüchtlinge, die bis zum Mauerbau, aber auch noch danach die DDR verließen.
Diese verschiedenen Themen, die das Deutschland Archiv in diesem Heft aufgreift, sind Facetten einer Geschichte, die trotz aller Einseitigkeiten der DDR-Politik vielgestalt war. Ihrer Aufarbeitung hat sich unter vielen anderen das Bürgerkomitee Leipzig angenommen, das im Sommer das 15-jährige Bestehen des Museums in der »Runden Ecke« feiern konnte.
Die Aufarbeitung der geteilten Geschichte ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der deutschen Vereinigung. Wie diese von Jugendlichen gesehen wird, auch danach fragt das Deutschland Archiv. Die Antworten darauf wie auch auf die Frage nach Besonderheiten ostdeutschen Wahlverhaltens können Auskunft darüber geben, ob bzw. inwieweit die Einheit tatsächlich zur Normalität geworden ist – ungeachtet politischer oder sportlicher Größen an der Spitze der Nation.
KOMMENTARE Marc-Dietrich Ohse: Die gemeinsame Linie – ein Slalomkurs S. 965–967 Johannes L. Kuppe: Überparteiliche Begleiterin der deutschen Zeitgeschichte. Gisela Helwig zum 65. Geburtstag S. 967–970 Markus Meckel: »Vielseitig begabt und äußerst kritisch«. Johannes Kuppe zum 70. Geburtstag S. 970–971
ZEITGESCHEHEN Steffen Schoon/Nikolaus Werz: Die Bundestagswahl 2005 in den neuen Ländern S. 972–980 Sabine Sardei-Biermann/Martina Gille/Wolfgang Gaiser/Johann de Rijke: Jugend in West und Ost. Deutsch-deutsche Verbundenheiten, gegenseitige Wahrnehmung und politische Einstellungen S. 980–990
ZEITGESCHICHTE Reinhard Buthmann: Megakrise und Megakredit. Das Zürcher Modell im Lichte der Stasi-Akten S. 991–1000 Bernd Eisenfeld: Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZE-Prozesses S. 1000–1008 Udo Baron: »Gruppe Ralf Forster«. Die geheime Militärorganisation von DKP und SED in der Bundesrepublik S. 1009–1015 Regina Teske: Der Deutsche Wiedervereinigungsbund (DWB). Ein Beispiel politischer Gegnerschaft der sechziger Jahre S. 1016–1022 Elke Kimmel: Das Notaufnahmeverfahren S. 1023–1032 Rüdiger Thomas: Die Welt als Comic. 50 Jahre MOSAIK S. 1033–1044 Gisela Helwig: Kinder und Jugendliche in der DDR. Ein Literaturbericht S. 1044–1049 Ingrid Miethe: »Die Universität dem Volke!«. Der Beitrag der Vorstudienschule Greifswald zur sozialen Umschichtung der Universität (1946–1949) S. 1050–1056 Ludwig J. Cromme: Ideologiefreie Wissenschaft? Technisch-naturwissenschaftliche Gutachten im Rahmen von Untersuchungsvorgängen des MfS der DDR S. 1056–1061
FORUM Jana Simon: Deutschland, einig Elementarteilchenland S. 1062–1064 Tobias Hollitzer: Zeitgeschichte in Originalräumen. 15 Jahre Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« S. 1065–1070 Holger Bahl: Karl Wienand. Hochbezahlter Landesverräter oder ein mögliches Fehlurteil? S. 1071–1077 Karlheinz Lau: Die Vertriebenverbände im 21. Jahrhundert. Ein überfälliger Diskussionsbeitrag S. 1077–1083
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Christopher Beckmann: Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur. Eine Zwischenbilanz in vergleichender Perspektive S. 1084–1088 Alice Volkwein: »Nostalgischer Blick auf die Zeit des Kommunismus«. »Entsteht in Osteuropa ein neues kollektives Gedächtnis?« S. 1088–1091 Markus Edlinger: Kommunistische und postkommunistische Parteien in Europa – eine Bilanz S. 1091–1095 Irene Gückel: Zeitzeichen: 15 Jahre Wiedervereinigung S. 1096–1099 Heinrich Bortfeldt: Rätselraten über Deutschland S. 1099–1101 Richtigstellung: »Kommunistische Sicherheitsapparate im Vergleich«, DA 5/2005 (Roland Bude) S. 1101
REZENSIONEN Frank Brunssen: Das neue Selbstverständnis der Berliner Republik (Markus Linden) S. 1102–1103 Hannes Bahrmann/Christoph Links: Am Ziel vorbei (Rainer Eckert) S. 1103–1105 Hans-Henning Kaysers: Sieben Tage im November (Jan Hoesch) S. 1105–1106 1989–2004 La caída del Muro (Thomas Cieslik) S. 1106–1108 Roman Grafe: Deutsche Gerechtigkeit (Gerhard Sälter) S. 1108–1109 Joachim Specht: Knalltrauma (Wolfgang Mayer) S. 1109–1111 Stephan Wolf: Hauptabteilung I (Armin Wagner) S. 1111–1113 Sabine Krätzschmar/Thomas Spanier: Ankunft im gelobten Land (Helge Heidemeyer) S. 1113–1114 Rainer Beck: Tango mit der Stasi (Bernd Eisenfeld) S. 1114–1116 Rüdiger Wenzke: Staatsfeinde in Uniform (Peter Joachim Lapp) S. 1116–1118 Siegfried Bock u.a. (Hg.): DDR-Außenpolitik im Rückspiegel (Peter Jochen Winters) S. 1118–1120 Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau (Siegfried Schwarz) S. 1120–1121 Jan Motte/Rainer Ohliger (Hg.): Geschichte und Gedächtnis der Einwanderungsgesellschaft (Michael Schubert) S. 1121–1123 Harald Schmid: Antifaschismus und Judenverfolgung (Mario Keßler) S. 1123–1125 Sven Korzilius: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR (Friedrich-Christian Schroeder) S. 1125–1127 Ehrhart Neubert/Thomas Auerbach: »Es kann anders werden« (Katharina Lenski) S. 1127–1129 Hanna Labrenz-Weiß: Abteilung M; Gerd Reinicke: Öffnen – Auswerten – Schliessen; Gudrun Weber: Stille Post (Sandra Pingel) S. 1129–1131 Yvonne Delhey: Schwarze Orchideen und andere blaue Blumen (Frank Hoffmann) S. 1131–1133 Sonja Hilzinger: Das Leben fängt heute an (Beate Ihme-Tuchel) S. 1133–1135 Michael Schwelien: Helmut Schmidt; Helmut Schmidt – Bilanz eines großen Staatsmannes; Helmut Schmidt: Auf dem Weg zur deutschen Einheit (Detlef Nakath) S. 1136–1138 Annotation S. 1138
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 3/2005 S. 1139–1150
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 1151–1152 Impressum S. 1152