EDITORIAL
»Der Stalinismus ist das System des Mißtrauens und der Heuchelei, die Demokratie das des Vertrauens und der freien und kritischen Meinungsäußerung.« Zu dieser Bestandsaufnahme kam im Mai 1968 Robert Havemann in der Prager Illustrierten Svet v Obrazech, dokumentiert in der dritten Ausgabe des Deutschland Archivs (3/1968, S. 328 – 330). Am 11. März jährte sich Havemanns Geburtstag zum 100. Mal. Ein Anlass, nicht nur des großen Intellektuellen und wohl prominentesten Dissidenten der DDR zu gedenken, sondern auch der verwickelten Zeitläufte, die aus dem Chemiker keinen geradlinigen Heroen machten, sondern ihn durch Höhen und Tiefen führten. Seiner Regimekritik seit den 60er-Jahren steht seine Kollaboration mit der kommunistischen Diktatur gegenüber, seiner Spitzelei für den sowjetischen Geheimdienst Havemanns Widerstand gegen die NS-Diktatur. Deren Ende vor 65 Jahren erlebte Havemann in der Tat als Befreiung – aus der Todeszelle des Zuchthauses Brandenburg-Görden, gemeinsam mit Erich Honecker. Beide gingen danach ganz verschiedene Wege.
Ganz verschiedene Wege nach dem Ende des Nationalsozialismus werden auch in der vorliegenden Ausgabe des Deutschland Archivs nachgezeichnet. Nicht nur der Havemanns als Vordenker der friedlichen Revolution einerseits wie auch als Gegner von Protestanten in der DDR und später als deren Hoffnungsträger andererseits, sondern auch der von Partei- und Wirtschaftseliten in Thüringen oder jener der Verfolgung und Ahndung von NS-Verbrechen in West- und Ostdeutschland. Zugleich werfen Autoren Blicke auf Antisemitismus im München der Nachkriegszeit, diskutieren die Debatte(n) über die sowjetischen Speziallager und den Umgang mit jenen Gebieten im Osten, die Deutschland im Gefolge des Zweiten Weltkriegs verlor. Nicht nur hier wird deutlich, wie sehr Erinnerung, wie sehr Gedenkkultur immer auch politisch konnotiert ist; das Gleiche gilt für die Entwicklung einer unabhängigen Gedenkkultur in Erinnerung an die Opfer der Bombenangriffe vom Februar 1945 in Dresden zu DDR-Zeiten.
In all diesen Debatten ging und geht es stets auch um Deutungshoheiten. Unumwunden ausgesprochen wurde dies im Streit um Kunst aus der DDR – ein Streit, der im 20. Jahr nach dem Ende des SED-Staats weiter anhält, wie das vorliegende Heft zeigt.
Um Deutungshoheit geht es ebenfalls in der Erinnerung und in den Feierlichkeiten als Ausdruck offiziellen Gedenkens an die friedliche Revolution in der DDR vor 20 Jahren. Diese Debatte hat bereits vor einigen Jahren begonnen und ist auch im Deutschland Archiv ausgetragen worden. Sie wird in der vorliegenden Ausgabe (mit der Dokumentation einer Erklärung von Berliner Frauen und einem Essay) fortgesetzt und durch neue, bedenkenswerte Aspekte angereichert.
Dazu gehört etwa die Frage nach den – vielen verschiedenen – Vorstellungen, nach welchen die Menschen in der DDR, ob in der Bürgerbewegung aktiv oder nicht, das Staatswesen gestaltet wissen wollten. Gerade diese Frage könnte in den kommenden Wochen verstärkt angesprochen werden, wenn der verschiedenen Etappen auf dem Weg zur Vollendung der deutschen Einheit gedacht wird.
Mit der freien Volkskammerwahl vor 20 Jahren war auch die DDR endlich eine demokratische Republik geworden, allerdings keine ›sozialistische Demokratie‹, wie sie 1968 noch Robert Havemann vorgeschwebt hatte. Seine Hoffnung, in der CSSR könne bewiesen werden, »daß wahre Demokratie nur im Sozialismus vollendet werden kann«, sollte sich nicht erfüllen. Die »lähmende Enttäuschung«, die Havemann schon damals bei den Menschen in den sozialistischen Ländern diagnostizierte, wich erst mit den Revolutionen von 1989/91.
ZEITGESCHEHEN
Udo Baron: »Fight the system. Fuck the law!« Autonome in Bewegung S. 197-203
Michael Braun: Rosen im Orkan. Zum 75. Geburtstag der Dichterin Sarah Kirsch S. 203-205
Manfred Jäger: Ein frecher Melancholiker. Zum Tod von Kurt Bartsch (1937 – 2010) S. 205-207
Manfred Jäger: Ein Dienstleister – zuverlässig und unabhängig. Zum Tode von Jürgen P. Wallmann (1939 – 2010) S. 207-209
DOKUMENTATION
Aus den friedlichen Küchen der Revolution. Wider die feierliche Verklärung von »Wende« und Mauerfall. Eine Erklärung der Lila Offensive S. 210-212
ZEITGESCHICHTE
Christiaan Frederik Rüter: Das Gleiche. Aber anders. Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen im deutsch-deutschen Vergleich S. 213-222
Heinrich Best/Sandra Meenzen: »Da ist nichts gewesen.« SED-Funktionäre mit NSDAP-Vergangenheit in Thüringen S. 222-231
Dietmar Remy: Beargwöhnt und unentbehrlich: Die Funktionselite des »Dritten Reiches« als Aufbauhelfer der DDR. Eine Fallstudie zum Zeiss-Betriebsleiter Rudolf Müller S. 232-237
Markus Lammert: Gegengeschichte in der Diktatur? Der 13. Februar 1945 und die Entstehung einer unabhängigen Gedenkkultur im Dresden der Achtzigerjahre S. 237-242
Thomas Grasberger: Die »Adolf-Bleibtreu«-Affäre 1949. Wie ein antisemitischer Leserbrief zu schweren Ausschreitungen führte S. 242-250
Manfred Wilke: Robert Havemann und das Programm der friedlichen Revolution von 1989 S. 250-257
Christian Halbrock: Der ostdeutsche Protestantismus und Robert Havemann. Konfliktlinien und Entwicklungen S. 258-266
Jan Schönfelder/Rainer Erices: Ulrich Sahm – der Sherpa für den ersten deutsch-deutschen Gipfel S. 266-274
Joachim-Rüdiger Groth: Der Beitrag der Literatur zum Untergang der DDR S. 275-287
Anmerkung: Zwischen den Fronten – Louis Fürnberg. Anmerkung zu Chaim Noll, Juden und Judentum in der Literatur der DDR, DA 42 (2009) 6, S. 1033 – 1040 (Josef Ober) S. 287-288
FORUM
Bettina Greiner: Sowjetische Speziallager – 60 Jahre danach. Anmerkungen zu einer verstockten Debatte S. 289-296
Peter Steinbach: Widerstand gegen zwei Diktaturen in Deutschland. Nicht nur Herausforderung – eine Verpflichtung S. 297-299
Karlheinz Lau: Das Erbe des historischen deutschen Ostens. Fußnote oder unverzichtbarer Teil der deutschen Geschichte? S. 299-307
Martin Jankowski: Mythos 1989. Öffentliches Erinnern an die Europäische Revolution von 1989 S. 307-314
Eckhart Gillen: Die Kunstszenen der DDR als Familienbande. Über Verrat, Anpassung und Widerstand in einem protestantischen Land S. 314-325
TAGUNGEN/VERANSTALTUNGEN
Elke Kimmel: 20 Jahre Deutsche Einheit in Europa. 3. Geschichtsmesse in Suhl S. 326-328
Dirk Heinze: Wie steht es um die Kulturnation Deutschland? 55. Loccumer Kulturpolitisches Kolloquium S. 329-330
Thomas Schubert: Renaissance des Staates? 27. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft in Tutzing S. 331-333
Jade-Yasmin Tänzler: Jahrestage – Zeitgeschichte in der Literatur. Literarisch-politisches Symposium in Berlin S. 333-335
REZENSIONEN
Andreas Malycha, Peter Jochen Winters: Die SED (Manfred Wilke) S. 336-338
Dierk Hoffmann: Otto Grotewohl (1894 – 1964) (Jochen Laufer) S. 338-340
Peter Reichel, Harald Schmid, Peter Steinbach (Hg.): Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte (Katrin Hammerstein) S. 340-341
Jürgen Bevers: Der Mann hinter Adenauer; Erik Lommatzsch: Hans Globke (1898 – 1973) (Wolfgang Buschfort) S. 342-345
Norbert Frei, José Brunner, Constantin Goschler (Hg.): Die Praxis der Wiedergutmachung (Ansbert Baumann) S. 345-346
Rosemarie Schuder, Rudolf Hirsch: Nr. 58866: »Judenkönig« (Thomas Heimann) S. 347-348
Jerzy Kochanowski, Klaus Ziemer (Hg.): Polska i Niemcy Wschodnie 1945 – 1990 [Polen und Ostdeutschland 1945 – 1990], Bd. 1 u. 3 (Marion Brandt) S. 348-350
Jochen Laufer: Pax Sovietica (Gerhard Wettig) S. 350-352
Gerhard Keiderling: Um Deutschlands Einheit (Manfred Agethen) S. 352-354
Eckhard Jesse: Diktaturen in Deutschland; Ders.: Demokratie in Deutschland (Tilman Mayer) S. 354-356
Ulrich Mählert u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2009 (Karl Wilhelm Fricke) S. 356-358
Axel Schildt, Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte (Hermann Glaser) S. 358-359
Wir gegen uns, Hg. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Christian Becker) S. 360
Jochen Staadt u. a.: Feind-Bild Springer (Gunter Holzweißig) S. 361-362
Irena Kukutz: Chronik der Bürgerbewegung Neues Forum 1989 – 1990 (Matthias Kluge) S. 363-364
Roman Grafe (Hg.): Die Schuld der Mitläufer (Ehrhart Neubert) S. 364-365
Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst (Friedrich-Wilhelm Schlomann) S. 365-367
Nils Abraham: Die politische Auslandsarbeit der DDR in Schweden; Birgitta Almgren: Inte bara Stasi … [Nicht nur die Stasi …] (Gustav Korlén) S. 367-368
Erika Harzer, Willi Volks (Hg.): Aufbruch nach Nicaragua (Ulrich van der Heyden) S. 368-369
Annotationen S. 369-371
Friedhelm Boll u. a. (Hg.): Versöhnung und Politik (Angela Siebold); Berit Olschewski: »Freunde« im Feindesland (Bärbel Gafert); Jens Schöne: Das sozialistische Dorf (Mario Janello); Sylvia Weigelt (Hg.): »Von Zwätzen bis Ammerbach und Ziegenhain – in die LPG treten alle Bauern ein!« (Jens Schöne); Daniel Hechler u. a. (Hg.): Promovieren zur deutsch-deutschen Zeitgeschichte (Katharina Lenski)
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 1/2010 S. 372-382
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 383-384 IMPRESSUM S. 384