EDITORIAL
Das Jahr 2007 begann in Sachen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit mit einer »bitteren Groteske, die an finsterste Politbüro-Zeiten erinnert« (so Spiegel-Online), die letztlich aber noch zu einem guten Ende fand: Wolf Biermann wird nun doch Ehrenbürger Berlins werden. Die Auseinandersetzung darum hat dunkle Schatten auf den Umgang mit der DDR-Geschichte geworfen.
Gleiches gilt für eine andere Groteske, mit der das Jahr 2006 in Sachen Aufarbeitung der Vergangenheit ausgeklungen war. Grotesk, wenn nicht geschmacklos war es jedenfalls, dass der aus dem Westen stammende Chef der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit dem verstorbenen Spionagechef des Ostens, Markus Wolf, seine Reverenz erwies. Und als Geschichtsvergessenheit, zumindest aber als Mangel an politischem Instinkt ist es zu bezeichnen, wenn die Unterschrift einer Bundestagsvizepräsidentin und damit einer hohen Repräsentantin eines demokratischen Staates eine Todesanzeige für diesen Spitzenakteur des ostdeutschen Unterdrückungsapparates »ziert«.
Dass die DDR ein Unrechtsstaat war, der nicht einmal die eigenen Getreuen verschonte, das wurde vielen Ostdeutschen erst oder erneut bewusst, als im Herbst ’89 eine Lesung von Walter Jankas »Schwierigkeiten mit der Wahrheit« im Radio gesendet wurde. Jankas Erinnerungen zeigten eindringlich, dass in der DDR das Recht den Erfordernissen des SED-Staates unterworfen war. Gerade die Prozesse nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes, darunter auch die gegen Walter Janka und Wolfgang Harich, stehen exemplarisch für das Justizunrecht in der DDR.
Daran erinnert das Deutschland Archiv im vorliegenden Heft ebenso wie daran, dass den Prämissen der SED auch das Geschichtsbild in der DDR und damit die DDR-Geschichtswissenschaft unterworfen war. Aufrichtigkeit war somit eine hohe Tugend, die allerdings mit erheblichen Sanktionen bedroht war.
Insofern kann der Mut von Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern aus der DDR und anderen Ostblock-Staaten nicht hoch genug bewertet werden. Auf dem Weg zu den (überwiegend) friedlichen Revolutionen von 1989/90 markiert die »Charta 77«, die vor dreißig Jahren von tschechoslowakischen Dissidenten aufgesetzt wurde, einen Meilenstein. Sie war ein Punkt, an dem sich viele Oppositionelle, auch aus der DDR, orientierten. Ihre Ideen werden im aktuellen Deutschland Archiv ebenso thematisiert wie der gescheiterte Versuch, Literaten aus Ost und West in eine der SED genehme Friedenspolitik einzuspannen.
Zivilcourage ist ein wichtiges Element des demokratischen Gemeinwesens. Diese Einsicht ist ein wichtiger Aspekt in der Auseinandersetzung um ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in der Bundeshauptstadt Berlin und damit um den Umgang mit der jüngsten deutschen Vergangenheit (die im letzten Jahr mit den Diskussionen um den Geschichtsrevisionismus ehemaliger Stasi-Offiziere, um »Das Leben der Anderen« und um die Empfehlungen der »Sabrow-Kommission« neue Höhepunkte erreicht hat) allgemein.
Dass diese Auseinandersetzung sich keineswegs auf die DDR-Geschichte beschränken, sondern gesamtdeutsche Bezüge aufweisen und im europäischen Kontext stattfinden sollte, wird auch bei einigen Gegenwartsfragen deutlich. Hierfür ließe sich etwa die Frage nach Gründen für die jüngsten Erfolge der NPD anführen, die nicht nur aus der Situation und der Vergangenheit des Osten Deutschlands erklärt werden sollten. Auch dieses Problem greift das aktuelle Deutschland Archiv auf. Es ist zudem ein gutes Beispiel für die Gegenwart von Vergangenheit und für die Aktualität von Geschichte – wie überhaupt etliche Probleme des deutschen und des europäischen Einigungsprozesses nicht ohne die Geschichte zu verstehen sind.
Marc-Dietrich Ohse, Hannover
Anmerkung: Dieser Ausgabe liegt das JAHRESVERZEICHNIS 2006 bei. Es steht auch auf der Website des Deutschland Archivs zum Download bereit.
KOMMENTARE Johannes Beleites: Wie weiter mit den Stasi-Akten? Die 7. Novelle zum Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 21. Dezember 2006 S. 5-8
Andreas Rüttenauer: Nur ein wenig späte Genugtuung. Zur Entschädigung von DDR-Dopingopfern S. 8-10
ZEITGESCHEHEN Michael Koß/Dan Hough: Die Linkspartei.PDS nach der Bundestagswahl 2005. Die ostdeutschen Landesverbände als Hort des Pragmatismus? S. 11-19
Markus Linden: Feindliche Übernahme im Niemandsland? Bestimmungsgründe für die jüngsten NPD-Erfolge S. 20-28
Karl-Heinz Braun: Aufgaben der berufsbezogenen Jugendbildung in den neuen Bundesländern S. 28-39
ZEITGESCHICHTE Karl Wilhelm Fricke: DDR-Unrechtsjustiz im »politischen Tauwetter«. Zur Manipulation politischer Strafprozesse nach der 3. Parteikonferenz der SED S. 40-49
Matthias Uhl/Armin Wagner: Pullachs Aufklärung gegen sowjetisches Militär in der DDR. Umfang, Potential und Grenzen der order-of-battle-intelligence von Organisation Gehlen und Bundesnachrichtendienst S. 49-67
Hermann Weber: Ein »raffinierter Antikommunist«? Webers Schriften: »wie Zyankali im Giftschrank aufbewahrt« S. 67-76
Christian Domnitz: Der Traum von Helsinki. Bürgerrechtler entwickeln Ideen einer neuen europäischen Ordnung S. 76-86
Matthias Braun: Stephan Hermlins Traum. Die »Berliner Begegnung zur Friedensförderung« im Dezember 1981 S. 86-96
Jürgen P. Lang: Im Sog der Revolution. Die SED/PDS und die Auflösung der Staatssicherheit 1989/90 S. 97-105
Christoph Kleßmann: Johann Sebastian Bach im »Arbeiter-und-Bauern-Staat«. Zur Bachrezeption in der DDR S. 106-115
Mathias Stein: Die Vereinten Nationen und Deutschland. Die Kommission zur Überprüfung der Voraussetzungen für freie Wahlen in Deutschland von 1951/52 S. 115-122
Harald Schmid: »Man kann wieder wählen!«. Aufstieg und Fall der NPD 1964 – 1969 S. 122-130
FORUM Richard Schröder: Brauchen wir ein nationales Freiheits- und Einheitsdenkmal? S. 131-136
Igor Maximytschew/Dieter Schröder: »Bundesland« – ein Begriff als politisches Programm S. 136-139
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Sebastian Lindner: Deutsch-deutsche Geschichte auf dem Prüfstand. Gelungene Neuauflage der DDR-Forschertagungen. Deutschlandforscher-Tagung in Suhl S. 140-143
Bettina Greiner: Gedenkstättenarbeit und Oral History. Workshop in Berlin S. 144-147
Caroline Fricke: »Verfolgte Schüler – gebrochene Biographien«. Workshop in Meißen S. 147-151
Heinrich Bortfeldt: Erfolgreiche Bilanz nach dreißig Jahren. 30. Jahrestagung der German Studies Association in Pittsburgh S. 151-153
REZENSIONEN Andreas Hilger (Hg.): »Tod den Spionen!« (Thomas Ammer) S. 154-155 Joachim Granzow: Die Löwengrube (Henry Krause) S. 156 Helmuth Schmidt/Heinz Weischer: Zorn und Trauer (Volker Strebel) S. 157 Gerhard Mauz: Die großen Prozesse der Bundesrepublik; Thomas Flemming/Bernd Ulrich: Vor Gericht (Henry Bernhard) S. 158-159 Wolfgang Mittmann/Curt Klausmann: Die geheime K 1 der DDR (Clemens Heitmann) S. 160-161 Dirk Spilker: The East German Leadership and the Division of Germany (Philip Matthes) S. 161-162 Heinrich Best/Michael Hofmann (Hg.): Unternehmer und Manager im Sozialismus (Arnd Bauerkämper) S. 163-165 Matthias Steinbach (Hg.): Universitätserfahrung Ost (Henrik Eberle) S. 165-166 Gregor Ohlerich: Sozialistische Denkwelten (Beate Ihme-Tuchel) S. 166-168 Judd Stitziel: Fashioning Socialism (Andreas Ludwig) S. 168-169 Hans Jürgen Koch/Hermann Glaser: Ganz Ohr (Daniela Münkel) S. 169-171 Jens Bulisch: Evangelische Presse in der DDR (Christian Halbrock) S. 171-172 Angelika Kampfer: Übergänge (Heinrich Bortfeldt) S. 172-173 Jens Bisky: Die deutsche Frage (Johannes L. Kuppe) S. 173-175 Joseph Huber: GG-Szenario (Marcus Kreutz) S. 175-176 Der Thüringer Landtag und seine Abgeordneten 1990 – 2005, Hg. Thüringer Landtag (Erik Gurgsdies) S. 176-177 Ulrich B. Brümmer: Parteiensystem und Parteien in Sachsen (Florian Hartleb) S. 177-178 V Politbjuro CK KPSS … [Im Politbüro der KPdSU …], Bearb. Anatoli Tschernjajew u. a.; Michail Gorbacev i germanskij vopros [Michail Gorbatschow und die deutsche Frage], Bearb. Alexander Galkin/Anatoli Tschernjajew (Bernd Bonwetsch) S. 178-179 Vanessa Conze: Das Europa der Deutschen (Theo Mechtenberg) S. 180-181 Rosmarie Beier-de Haan: Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte (Rainer Eckert) S. 182-183 Andrea Gawrich/Hans J. Lietzmann (Hg.): Politik und Geschichte (Andreas Fraude) S. 183-184 Hermann und Gerda Weber: Leben nach dem »Prinzip Links« (Johannes L. Kuppe) S. 184-186 Guillaume Le Quintrec/Peter Geiss (Hg.): Histoire/Geschichte (Karlheinz Lau) S. 186-187 Annotationen S. 187-190
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 191-192 Impressum S. 192