EDITORIAL
Ein intensives Jahr des Gedenkens liegt hinter den Deutschen. »Der absolute Erinnerungsnotfall« aber, den Georg Diez für das Jahr 2009 vorausgesagt hatte, ist ausgeblieben. Stattdessen wurde sowohl im Gedenken an die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges als auch im Kontext der Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR vor 20 Jahren deutlich, wie eng verwoben die deutsche und die internationale Geschichte, insbesondere die Europas, sind. Dies unterstrichen etwa deutsche Intellektuelle anlässlich des 70. Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes in einem Appell, der international Beachtung fand. In diesem Aufruf, den auch das Deutschland Archiv veröffentlicht hat (DA, 5/2009), verwiesen die Autoren auf die deutsche Schuld an dem folgenden Weltkrieg und an der Durchsetzung kommunistischer Diktaturen in Ost- und Ostmitteleuropa in dessen Gefolge. Von einem »rauschenden Selbstbespiegelungsfest unserer Nation«, das Diez prognostiziert hatte, konnte also keine Rede sein.
Ebenso wenig davon, dass die Deutschen »mal wieder vor lauter Historie die Gegenwart vergessen« würden. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise dürften gerade die Erinnerung an die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als einem der wichtigsten Schritte zur deutschen Einheit und an deren Vollendung vor 20 Jahren dazu einladen, Wandel und Gegenwart Deutschlands innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte genau und kritisch zu reflektieren.
Solch kritische Reflexion schließt Momente der Freude nicht aus, und erste Freudentage hat es bis zum Erscheinen dieses Heftes bereits gegeben, voran der 20. Jahrestag der Erstürmung des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin. 40 Jahre zuvor war eben dieses Ministerium eingerichtet worden, und es sollte sich zu einem der zentralen Herrschaftsinstrumente der SED-Diktatur entwickeln. Als solches stand es unmittelbar in den letzten Jahren bei der Betrachtung der DDR besonders im Fokus. Darüber ist zuweilen vergessen worden, dass die Verantwortung für das MfS, das »Schild und Schwert der Partei«, bei eben dieser lag, bei der SED.
Daran wie auch an das Ende der Staatssicherheit erinnern Beiträge im vorliegenden Deutschland Archiv. Zudem werden eher unbekannte Aspekte der Geschichte der SED und deren Herrschaftsdurchsetzung und Ideologie aufgegriffen – unter anderem im Sport und im internationalen Kontext.
Zugleich widmen sich verschiedene Autoren dem Gedenken an die friedliche Revolution und fragen nach dessen geschichtspolitischen Konsequenzen. Damit führt das Deutschland Archiv eine Debatte fort, auf die es bereits mehrfach eingegangen ist und die mit der vorliegenden Ausgabe nicht enden wird. Vielmehr ist zu erwarten, dass die Diskussion über das gesellschaftliche Erinnern und über die Geschichtspolitik weitergehen wird. Möglicherweise wird sie durch die bereits genannten Gedenkanlässe in diesem Jahr sogar noch zugespitzt werden.
Die Auseinandersetzung ist notwendig – gerade angesichts dessen, dass nun eine Generation herangewachsen ist, welche die DDR und die deutsche Teilung nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Interesse an diesen Themen besteht, wie Ende letzten Jahres eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie ergeben hat. Erfreulich ist auch ein weiterer Befund dieser Umfrage, wonach die verklärende Sicht auf den SED-Staat abnimmt und stattdessen der Unrechtscharakter der DDR verstärkt wahrgenommen wird. Den Grund dafür kennen die Demoskopen nicht, doch vermuten sie, dass dieser Wandel der Wahrnehmung auf die intensive mediale Auseinandersetzung mit der DDR im vergangenen Jahr zurückgeht. Diese Art gelungener »Selbstbespiegelung« aber stellt sicher keinen »Notfall« dar, sondern einen großartigen Erfolg all jener, die dazu beigetragen haben.
INHALTSVERZEICHNIS
ZEITGESCHEHEN
Gideon Botsch/Christoph Kopke: Zwischen Parlament und Milieu. Die bundesdeutsche extreme Rechte nach den Wahlen 2008 und 2009 S. 5-10
Michael Braun: "Bestimmt für die Dichtung der ganzen Welt". Der neue Roman "Atemschaukel" und das literarische Werk der Nobelpreisträgerin Herta Müller S. 11-15
Vera Ammer: Zwischen Anerkennung und Verfolgung. Zur Situation der Internationalen Gesellschaft "Memorial" in Russland S. 15-19
Marianne Birthler: Die Freiheit gestalten. Joachim Gauck zum 70. Geburtstag S. 20-22
DOKUMENTATION
Werner Schulz: Was lange gärt, wird Mut. Rede anlässlich des 20. Jahrestages der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 in Leipzig S. 23-27
ZEITGESCHICHTE
Erich Loest: Tübkes fatales Modell S. 28-30
Daniela Münkel: Staatssicherheit in der Region. Die geheimen Berichte der MfS-Kreisdienststelle Halberstadt an die SED S. 31-38
Hans-Michael Schulze: "Die ganze Primitivität politischen Denkens". Hans Morgenthal - ein "Kundschafter" der Staatssicherheit S. 38-43
Christian Booß: Vom Mythos der Stasi-Besetzungen S. 44-52
Ansgar Vössing: Die Kontakte der Berliner CDU zur Opposition und zu neuen Parteien in der DDR. Erinnerungen aus der Zeit zwischen September 1989 und Oktober 1990 S. 52-59
Maria Magdalena Verburg: "Rote Socken" und "nützliche Idioten"? Zur politisch-gesellschaftlichen Verortung der Dritte-Welt-Gruppen der DDR S. 60-66
Coreline Boot: DDR Patria Nostra? Repatriierte Fremdenlegionäre in der DDR: Von der Öffentlichkeit in die Staatssicherheit S. 66-73
Chen Chern: Verdeckte Diplomatie. Die militärnachrichtendienstliche Kooperation zwischen der Bundesrepublik und Nationalchina im Kalten Krieg S. 73-80
Francesco Di Palma: Die SED, die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) und die Kommunistische Partei Italiens (PCI) von 1968 bis in die Achtzigerjahre. Ein kritischer Einblick in das Dreiecksverhältnis S. 80-89
Hans Joachim Teichler: Die turbulenten Anfangsjahre des DDR-Sports S. 90-99
Walter Naasner: Kirchenpolitik in der DDR: Der Staatssekretär für Kirchenfragen. Organisation, politische Funktion, Quellenüberlieferung S. 99-108
FORUM
Sebastian Richter: Die Erinnerung an 1989 und die Geschichtspolitik von 2009 S. 109-116
Thomas Moser: Domino und andere Spiele. Von der Boulevardisierung und Privatisierung einer Revolution. Eine Widerrede S. 117-122
"Ich wusste nicht, wer ich war, bevor ich schrieb." Uwe Tellkamp über fallende Dominosteine, den spaßsüchtigen Westen und tadelnde Romanfiguren (Sonja Hartwig/Kilian Trotier) S. 123-126
Manuel Becker: Religionsähnliche Züge im Marxismus-Leninismus der DDR. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat S. 127-133
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN
Hendrik Bindewald: Generationelle (Selbst-)Verortung in Ostdeutschland. Tagung in Göttingen S. 134-136
John Andreas Fuchs: Die deutsche Frage im Ost-West-Geflecht. Tagung in Eichstätt S. 137-139
Peter Maser: "Es war 1989 eine Illusion zu glauben, die perfekte Welt komme". 8. Internationales Ettersberg-Symposium in Weimar S. 139-141
Silke Flegel: "Die Erfahrung der Freiheit". Auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte der Europäischen Revolution 1989/91. Internationale Konferenz in Bochum S. 142-144
Christian Wenkel: Une histoire du passé?/Eine vergangene Geschichte? 20 Jahre nach Mauerfall und deutscher Vereinigung. Deutsch-französische Konferenz in Metz S. 145-146
Giselher Spitzer: Aufarbeitung und Recht. 13. Workshop zum Medienrecht in Frankfurt (Oder) S. 146-148
REZENSIONEN
Johannes Weberling (Hg.): Verantwortliche beim Namen nennen - Täter haben ein Gesicht (André Gursky) S. 149-150
Ilko-Sascha Kowalczuk: DDR (Rainer Eckert) S. 150-151
Ulla Plener: Die SED-Führung 1946 - 1953 (Andreas Malycha) S. 151-152
Thomas Klein: SEW - Die Westberliner Einheitssozialisten (Daniel Friedrich Sturm) S. 152-153
Birger Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung (Silke Klewin) S. 153-154
Ronny Heidenreich: Aufruhr hinter Gittern (Leonore Ansorg) S. 155-156
Niklas Perzi, Beata Blehová, Peter Bachmaier (Hg.): "Die Samtene Revolution" (Volker Strebel) S. 156-157
Stefan Creuzberger: Stalin (Jürgen Zarusky) S. 158-159
Sybille Gerstengarbe, Horst Hennig: Opposition, Widerstand und Verfolgung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1945 - 1961; Friedrich-Franz Wiese: Zum Tode verurteilt! (Karl Wilhelm Fricke) S. 159-161
Lukasz Kaminski, Krzysztof Persak, Jens Gieseke (Hg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944 - 1991 (Armin Wagner) S. 162-163
Friedrich-Wilhelm Schlomann: Was wußte der Westen? (Georg Herbstritt) S. 164-165
Marco Overhaus: Die deutsche NATO-Politik (Eberhard Birk) S. 165-166
Dominik Geppert, Jens Hacke (Hg.): Streit um den Staat (Alexander Gallus) S. 166-168
Herfried Münkler, Jens Hacke (Hg.): Wege in die neue Bundesrepublik (Markus Linden) S. 168-169
Klaus Kornexl: Das Weltbild der Intellektuellen Rechten in der Bundesrepublik Deutschland (Uwe Ullrich) S. 169-170
Insa Cassens, Marc Luy, Rembrandt Scholz: Die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland (Thomas Ahbe) S. 170-172
Ulrike Häußer, Marcus Merkel (Hg.): Vergnügen in der DDR (Dorothee Wierling) S. 172-173
Hedwig Richter: Pietismus im Sozialismus (Martin Greschat) S. 173-174
Grit Poppe: Weggesperrt; Andreas Gatzemann: Der Jugendwerkhof Torgau (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 174-176
Klaus Latzel: Staatsdoping (Christian Becker) S. 176-177
George Last: After the "Socialist Spring" (Jens Schöne) S. 178-179
Reiner Merker (Hg.): Archiv, Forschung, Bildung (Rayk Einax) S. 179-180
Julia Obertreis, Anke Stephan (Hg.): Erinnerungen nach der Wende (Bettina Greiner) S. 180-181
Stuart Parkes: Writers and Politics in Germany, 1945 - 2008 (Michael Braun) S. 181-182
Einar Schleef: Tagebuch 1981 - 1998; Einar Schleef: Tagebuch 1999 - 2001; Gertrud Schleef, Einar Schleef: Briefwechsel 1 - 1963 bis 1976 (Kai Agthe) S. 182-184
Günter Kunert: Als das Leben umsonst war (Jürgen P. Wallmann †) S. 184-185
Peter Nöldechen: Geteilte Erinnerungen (Kai Agthe) S. 185-186
Annotationen S. 186-190 [Jana Hensel: Achtung Zone (Ines Langelüddecke) S. 186-187; Hans-Dieter Schütt: Glücklich beschädigt (Stefan Matysiak) S. 187; Veit Scheller: Die regionale Staatsmacht (Hans-Christian Herrmann) S. 187-188; Hermann Vinke: Die Bundesrepublik; Hermann Vinke: Die DDR (Marc-Dietrich Ohse) S. 188-189; Gundula Barsch: Von Herrengedeck und Kumpeltod (Udo Grashoff) S. 189; Uta Gerhardt: Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert (Werner Rossade) S. 189-190; Eduard Schreiber, Eduard Goldstücker: Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts (Volker Strebel) S. 190]
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 191-192
IMPRESSUM S. 192