Feuerwerke, Jubelfeiern – das war das Bild, das die Deutschen vor 15 Jahren anlässlich der Vereinigung abgaben. Auch wenn der Überschwang der Maueröffnung vom Herbst des Vorjahres ein wenig abgeflaut war, so durften die Deutschen sich damals immer noch als das glücklichste Volk der Welt fühlen. In einem ungeheueren Tempo hatten die Deutschen ihre Wiedervereinigung vollzogen. Und so konnten sie tatsächlich einmal stolz sein – stolz darauf, ein Wunder vollbracht zu haben, das jeder realistisch denkende Mensch noch im Sommer 1989 nicht (mehr) für möglich gehalten hätte. Ermöglicht worden war dieses Wunder auch durch verschiedene äußere Faktoren, unter denen vor allem die Perestrojka von Sowjetchef Michail Gorbatschow und seine Abkehr von der Breshnew-Doktrin, vom absoluten Führungsanspruch der östlichen Supermacht, zu nennen sind. So geriet der Ostblock in Bewegung – schließlich auch die DDR, zunächst in Gestalt tausender Flüchtlinge, die gen Westen wollten, dann aber unter dem Druck von Tausenden, die lautstark ihre Rechte als Souverän einforderten. Mit der friedlichen Revolution endete die vierzigjährige SED-Diktatur, fiel nach 28 Jahren die Mauer, begann nach 44 Jahren die Überwindung der deutschen Teilung. Das Bewusstsein, dies vollbracht zu haben, ist 15 Jahre später geschwunden, Deutschland leidet an einer großen Depression. Am Tag der Einheit, der damals plötzlich als Feiertag in den Kalender rückte, ist heute vielen nicht nach Feiern zumute. Über die »blühenden Landschaften« hat sich ein grauer Schleier gelegt, die Einheit wird von vielen als Last, als finanzielle Belastung oder als Belästigung empfunden. Ossis gegen Wessis, Wessis gegen Ossis, Besserwessi/Jammerossi – Klischees, die man vor zehn Jahren noch als vorübergehende Folge der langen Teilung betrachtet hat, haben sich in mancher Weise verstetigt. Die Deutschen in Ost und West hegen und pflegen diese Klischees, selbst der Wahlkampf blieb davon nicht verschont, und auch das Wahlergebnis zeigt ein (nicht nur zwei-)geteiltes Land. Die Frage nach Einheit und Einigkeit nimmt im vorliegenden Heft des Deutschland Archivs breiten Raum ein. Probleme des Zusammenwachsens, vor allem kultureller, mentaler Art, werden in verschiedenen Beiträgen diskutiert. Dahinter steht immer auch die Frage, wie weit sich die geteilte Erinnerung an eine geteilte und doch gemeinsame Geschichte in Deutschland seit 1945 im Umgang mit Gegenwartsproblemen und in Zukunftserwartungen niederschlägt. An einige Stationen dieser verflochtenen Geschichte wird auch in dieser Ausgabe erinnert, so an die Bodenreform vor sechzig Jahren. Sie markierte den Beginn einer gravierenden gesellschaftlichen Umgestaltung im Osten Deutschlands, deren Folgen auch im Weste zu spüren waren – man denke nur an die Millionen Menschen, die sich durch Flucht dieser Umwälzung entzogen. Die Rückkehr des Saarlandes nach Deutschland vor fünfzig Jahren wiederum war nicht nur ein westdeutsches Ereignis, auch für die DDR war sie von erheblicher Bedeutung – und dies nicht erst 1990, als über das Verfahren der deutschen Vereinigung debattiert wurde. Am selben Ort wieder vereinigt sind nun, nach sechzig Jahren, etliche Kunstwerke von Weltrang in Berlin – vor dreißig Jahren waren sie Gegenstand eines erbitterten Streits zwischen den beiden deutschen Teilstaaten. Und schließlich erinnert das Deutschland Archiv daran, dass die deutsch-deutsche Geschichte immer in einem internationalen Kontext stattfand. Auch gegenwärtig widmet das Ausland den Deutschen große Aufmerksamkeit: Die deutsche Depression, »the German Angst«, hat sich gewissermaßen im Ergebnis der Bundestagswahl niedergeschlagen. Und nicht nur in Deutschland ist man gespannt, wer sich hier denn nun mit wem einigt.
KOMMENTARE
Marc-Dietrich Ohse: Geteiltes, vereintes Land S. 773-775
Ergebnis der Bundestagswahl S. 775
Peter Jochen Winters: Anwalt der Menschen zwischen den Fronten. Wolfgang Vogel zum 80. Geburtstag S. 776-778
Wolfgang Bergsdorf: »Implosiv und kumulativ ansteckend«. In memoriam Peter Glotz S. 778-780
ZEITGESCHEHEN
Dietrich Scholze: Der Transformationsprozess nach 1989 im Spiegel der sorbischen Prosa s. 781-789
ZEITGESCHICHTE
Georg Diederich: Deutsche Einheit – deutsche Länder. Zur Wiedergründung der Länder im Osten Deutschlands 1990 S. 790-799
Daniel Friedrich Sturm: »Sowjetischer als die Sowjets«? Die Sozialdemokraten und ihre Haltung zu den außenpolitischen Aspekten der Vereinigung Deutschlands 1990 S. 799-805
Tytus Jaskulowski: Die friedliche Revolution im Spiegel der polnischen Presse 1989–1990. Ein Überblick S. 806-813
Die Bodenreform in der SBZ nach sechzig Jahren. Wolfgang Leonhard im Gespräch mit Jens Schöne S. 813-820
Hans-Christian Herrmann: Die Saar im Visier der SED S. 820-829
Heiner Timmermann: Vor fünfzig Jahren. Die Genfer Konferenz der Vier Mächte vom 18.–23. Juni 1955 S. 829-835
Martin Hollender: »Pankow greift nach der schönen Ägypterin«: Forderungen der DDR nach »Nofretete« und »Mann mit Goldhelm« verzögerten das deutsch-deutsche Kulturabkommen S. 835-842
FORUM
Heidi Behrens: Nicht vereinigt. West- und ostdeutsche Erinnerungsgemeinschaften als Herausforderung für die politische Bildung jenseits der Schule S. 843-852
Lutz Rathenow: Wie einig sind sich die Deutschen? S. 852-856
Helmut Jenkis: Zwei Ansichten über die DDR. Die Sicht von innen und von außen S. 856-862
Achim Beyer: »Der Dank des Vaterlandes …« Über den Umgang mit Opfern der SED-Justiz S. 862-869
Richard Albrecht: Vom Kühlschrank zur Wagenburg. Über kulturelle Grenzen einer deutsch-deutschen Annäherung S. 870-876
Volker Gransow: Eile mit Weile. Für eine Debatte um die schnelle deutsche Vereinigung und die stockende innere Einheit S. 879-884
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN
Sebastian Göschel: Zwischen Historikeranspruch und Bürgerwirklichkeit. Ausstellung »Unterm Strich« S. 885-887
Marc-Dietrich Ohse: Kommunistische Sicherheitsapparate im Vergleich. Internationale Konferenz S. 888-890
Karlheinz Lau: Deutsch-polnische Schulbuchkommission – ein Plädoyer für vergleichende Schulbucharbeit S. 891-893
Michael Braun: Liegt die Zukunft der deutschen Sprache im Osten? Internationaler Germanistenkongress S. 894-896
REZENSIONEN
Konrad Jarausch: Deutsche Wandlungen 1945–1995 (Werner Müller) S. 897-989
Hans Günter Hockerts: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konfliktes (Johannes L. Kuppe) S. 899-901
Dokumente zur Deutschlandpolitik, Hg. Bundesministerium des Innern, 1. Reihe, Bd. 5 (Jochen Laufer) S. 901-902
Heinrich Best, Heinz Mestrup (Hg.): Die Ersten und die Zweiten Sekretäre der SED (Helga Welsh) S. 902-904
Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt (Hans Jörg Hennecke) S. 904-906
Kay Müller, Franz Walter: Graue Eminenzen der Macht (Bert Große) S. 906-907
Wolfgang Schollwer: »Gesamtdeutschland ist uns Verpflichtung« (Gunter Holzweißig) S. 907-908
Ralf Beck: Der traurige Patriot (Ansgar Lange) S. 909-910
Heike B. Görtemaker: Ein deutsches Leben (Siegfried Schwarz) S. 910-912
Michael Kraske, Christian Werner (Hg.): Tief im Osten (Thomas Ahbe) S. 913-914
Michael Jürgs, Angela Elis: Typisch Ossi, typisch Wessi; Rita Kuczynski: Ostdeutschland war nie etwas Natürliches (Heinrich Bortfeldt) S. 914-916
Michael Richter: Die Bildung des Freistaates Sachsen (Henry Krause) S. 916-918
Hans-Lothar Fischer. Nachträgliche Prognose vom Untergang der DDR (Helmut Jenkis) S. 918-919
Hans Krech: Der Untergang der DDR als Katalysator für das globale Ende des Kalten Krieges (Henning Pietzsch) S. 919-921
Silke Satjukow, Rainer Gries (Hg.): Unsere Feinde (Elena Stepanova) S. 921-922
Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 923-925
Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen; Klaudia Knabel u.a. (Hg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole (Ulrich Neuhäußer-Wespy) S. 925-926
Ines Lehmann: Die deutsche Vereinigung von außen gesehen (Martin Jander) S. 927-928
Anna Wolff-Poweska, Dieter Bingen (Hg.): Nachbarn auf Distanz (Wolfgang Schlott) S. 929-930
Jens Hüttmann u.a. (Hg.): DDR-Geschichte vermitteln (Gudrun Heinrich) S. 931-932
Dorothea Höck, Jürgen Reifarth: Die DDR (Marc-Dietrich Ohse) S. 933
Klaus Große Kracht: Die zankende Zunft (Rainer Eckert) S. 934-935
Roland Berbig (Hg.): Stille Post (Joachim Walther) S. 936-937
Franz Huberth (Hg.): Die DDR im Spiegel ihrer Literatur (Jörg Bernhard Bilke) S. 937-938
Alexander Behrens: Johannes R. Becher (Anne Hartmann) S. 939-941
Adolf Endler: Nebbich (Manfred Jäger) 941-942
Brigitte Reimann: Das Mädchen auf der Lotusblume; Siegfried Pitschmann: Verlustanzeige (Christina Onnasch) S. 942-944
Lutz Rathenow: Fortsetzung folgt (Günter Jeschonnek) S. 945-946
Lothar Bisky: So viele Träume (Jürgen P. Lang) S. 946-948
Lothar Mertens: Rote Denkfabrik? (Michael Ploenus) S. 948-949
Renate Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation (Jeannette Madarász) S. 949-950
Hermann-Josef Rupieper u.a. (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert (Olaf Klenke) S. 951-952
Jens Schöne: Die Landwirtschaft in der DDR 1945–1990; ders.: Frühling auf dem Lande? (Winfrid Halder) S. 953-955
Darf man das?, Hg. Zeit-Geschichte(n) e.V. (Henrik Eberle) S. 956-957
Annotationen S. 957-958
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 959-960 Impressum S. 960