EDITORIAL Am 12. September 1990 wurde in Moskau der »Vertrag über die endgültige Regelung in Bezug auf Deutschland«, der sogenannte »Zwei-plus-vier-Vertrag«, unterzeichnet, und Deutschland wenig später wieder vereinigt. Im Artikel 1 des Abkommens wurden unter anderem die Außengrenzen des vereinigten Deutschlands als »endgültig« festgelegt, wobei die deutsche Ostgrenze in einem gesonderten Vertrag zwischen Deutschland und Polen (am 14. November 1990) bestätigt werden sollte.
Vielleicht war diese Regelung wie auch der zeitliche Abstand zu den Geschehnissen die Voraussetzung dafür, dass Flucht und Zwangsaussiedlung Deutscher aus den nun polnischen Territorien, aber auch aus anderen Ländern, in Deutschland wieder zunehmend thematisiert werden konnten. Dabei hat es verschiedentlich Misstöne gegeben. In Polen wurde diese Diskussion von wissenschaftlicher Seite in vielen Aspekten konstruktiv begleitet, von politischer Seite aber wurde das Thema immer wieder instrumentalisiert worden. Zum Teil, aber eben nur zum Teil sind dies Reflexe auf Äußerungen, die von Vertriebenenfunktionären vorgetragen worden sind. Unter diesen haben sich vor allem Schlesier und Sudetendeutsche zuweilen deutlicher bis aggressiver Worte bedient.
Das Schicksal gerade dieser beiden Territorien stand daher auch oft im Fokus der Diskussion über die Zwangsaussiedlungen nach 1945, während etwa Ostpreußen vor allem im Kontext der Flucht in der Endphase des Krieges ein Thema war. Vor 60 Jahren wurden die letzten Deutschen von dort zwangsweise ausgesiedelt. Dieses Datum nimmt das Deutschland Archiv zum Anlass, erneut den Themenkomplex von Flucht, Deportation und Zwangsaussiedlung in den Mittelpunkt einer Ausgabe zu rücken.
Die Beiträge zu diesem Thema verdeutlichen, dass inzwischen wesentliche Fakten zu den Bevölkerungsverschiebungen nach 1944/45 bekannt sind, aber etliche Details noch im Dunkeln liegen. Das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität soll die Auseinandersetzung damit koordinieren und fördern, doch nimmt es erst jetzt seine Arbeit auf. An seinem zögerlichen Aufbau wird deutlich, wie schwierig sich der Umgang mit diesem Thema gestaltet und wie viel Aufklärungs- und Versöhnungsarbeit hier noch zu leisten ist.
Dagegen muten die Auseinandersetzungen um die deutsch-deutsche Zeitgeschichte, vor allem um das Erbe der SED-Diktatur, relativ harmlos an. Tatsächlich aber wird auch hier – zum Teil erbittert – gestritten. Das hatten bereits die Debatten um Literatur und Bildende Kunst aus der DDR in den letzten Jahren gezeigt, und das wird erneut deutlich im gegenwärtigen Disput um die (politische) Gestaltung der Gedenkstätten- und Forschungslandschaft zur SED-Diktatur. Natürlich werden auch diese Debatten im aktuellen Deutschland Archiv aufgegriffen.
Im Mittelpunkt der Diskussion steht hierbei – wieder einmal – die Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), die zuletzt wenig glücklich agierte, etwa bei der Präsentation eines angeblich neuen »Schießbefehls« für DDR-Grenzer. Die Birthler-Behörde liefert ihren Kritikern damit eine neue Vorlage. Die Reaktionen folgten promt, einige allerdings – vor allem von Seiten der »Linken« – so unqualifiziert, dass sie auf die Kritiker zurückfallen. Die Kritik an der BStU in diesem konkreten Fall taugt nicht für eine Relativierung des Grenzregimes sowie anderer Herrschaftsinstrumente und -praktiken, die den SED-Staat als Diktatur charakterisieren.
Zu einer Bagatellisierung der SED-Diktatur dürfen die Diskussionen um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte nicht führen.
KOMMENTARE Peter Joachim Lapp: Verwirrung um den »Schießbefehl« S. 773-775 Michael Kubina/Manfred Wilke: Von Schlussstrich keine Spur. Die Gedenkstättenlandschaft zum SED-Unrecht S. 776-783 Karlheinz Lau: Verständnis und Verständigung. Deutsch-polnisches Geschichtsbuch in Vorbereitung S. 783-785 Günter Agde: Berühmt und unvollendet. Zum Tod des Schauspielers Ulrich Mühe (1953 – 2007) S. 785-786 Manfred Jäger: Nachruf Plenzdorf S. 787-788 Lars Klingberg: »Zwischen den Stühlen sitzend«. Nachruf auf Ruth Zechlin (1926 – 2007) S. 789-790
ZEITGESCHEHEN Stefan Troebst: Schwere Geburt. Die Gründung des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität S. 791-798 Iris Wachsmuth: Selbst- und Fremdbilder zwischen Ost- und Westdeutschen im familialen Kontext S. 799-808 Gunnar Hinck: Ostdeutsche Marginalisierung. Die Distanz zur Bundesrepublik liegt nicht primär an der sozio-ökonomischen Lage S. 808-816
ZEITGESCHICHTE Winfrid Halder: Im Teufelskreis der Gewalt. Deutsche Zivilbevölkerung und sowjetische Soldaten 1944/45. Anmerkungen zu neueren Forschungsergebnissen S. 815-823 Michael Schwartz: Nach der »Großen Flucht«. Vertreibung und Deportationen von Deutschen in den Jahren nach 1945 S. 823-833 Bärbel Gafert: Kinder der Flucht – Kinder der Vertreibung. 1945 – 1948 S. 833-839 Eckhard Matthes: Späte Opfer. Zur Aussiedlung der Deutschen aus dem Gebiet Kaliningrad 1947 – 1948 S. 840-847 Heike van Hoorn: »Opfer« oder »Experten« für den sozialistischen Aufbau. Sudetendeutsche »Antifa-Umsiedler« in der SBZ/DDR S. 848-855 Siegfried Suckut: Honeckers Besuch in der Bundesrepublik 1987. Wie die DDR-Bevölkerung darüber dachte. Erkenntnisse des MfS S. 855-858
DOKUMENTATION »40+20=60 Jahre Bundesrepublik«. Ruf aus Leipzig S. 859-860
FORUM Michael Richter: Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffes S. 861-868 Dorothee Wilms: Was sollte ein Freiheits- und Einheitsdenkmal versinnbildlichen? S. 868-872 Rüdiger Thomas: Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit S. 872-882 Adrian von Arburg: Von der Spurensicherung zur reflektierten Auswertung. Überlieferungsgrad und Dokumentationspotential der Archivakten über die Flucht, Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus dem Osten. Überlegungen zum Fallbeispiel Tschechoslowakei S. 883-890 Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Geschichtsbegradigung. Die »systemimmanente DDR-Forschung« soll besser gewesen sein als ihr Ruf. Zu Jens Hüttmanns Eloge auf die »De-De-Errologie« (DA, 4/2007, S. 671 – 681) S. 890-899 Anmerkungen zu: Gerhard Keiderling, Noch einmal: »Ich bin ein Berliner« (DA, 3/2007, S. 476 – 480) Manfred Rexin: Wer inspirierte den Präsidenten John F. Kennedy? S. 900-903 Anita Lochner: Und noch einmal: »Ich bin ein Berliner« S. 903-904 Margarete Plischke: Erwiderung auf Anita Lochner S. 904-905 Gerhard Keiderling: Erwiderung S. 905-907
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Mirko Titze: Leistungen und Defizite der Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland. Tagung in Tutzing S. 908-912 Frank Hoffmann: Vor 20 Jahren: Die DDR gewährt in Duisburg »Einblicke« in ihre Kultur. Workshop zu den deutsch-deutschen Kulturbeziehungen vor 1989 in Bochum S. 912-916 Nina Dombrowsky: Europa in kommunistischen Zeiten. Internationale Konferenz in Potsdam S. 916-921 Heidi Bohley: Heimatlos und mundtot. »Umsiedler« in der DDR und die Stasi. Forum in Berlin S. 921-923 Tino Heim: Bürgerlichkeit zwischen Selbstbespiegelung und Reflexion. Tagung auf Schloss Neuhardenberg S. 924-927 Andreas Fraude: Extremismus und Demokratie in Geschichte und Gegenwart. 34. Tagung des Veldensteiner Kreises S. 927-930
REZENSIONEN Peter Bender: Deutschlands Wiederkehr (Siegfried Schwarz) S. 931-932 Günther Heydemann, Eckard Jesse (Hg.): 15 Jahre deutsche Einheit; Lothar Mertens (Hg.): Bilanz und Perspektiven des deutschen Wiedervereinigungsprozesses (Andreas Fraude) S. 932-933 Thomas Ahbe: Ostalgie; Raj Kollmorgen: Ostdeutschland (Heinrich Bortfeldt) S. 933-935 Robert Ide: Geteilte Träume (Wolfgang Schlott) S. 935-936 Alexander Gallus (Hg.): Deutsche Zäsuren (Rainer Eckert) S. 936-938 Wolfgang Schuller: Das Sichere war nicht sicher (Markus Driftmann) S. 938-939 Siegfried Hermle u. a. (Hg.): Umbrüche (Martin Greschat) S. 939-941 Jennifer Schevardo: Vom Wert des Notwendigen; Irmgard Zündorf: Der Preis der Marktwirtschaft (Ingo Wupperfeld) S. 941-942 Andrew I. Port: Conflict and Stability in the German Democratic Republic (Gerhard Wettig) S. 943 Francesca Weil: Entmachtung im Amt (Heinz Mestrup) S. 944 Volkhard Knigge, Ulrich Mählert (Hg.): Der Kommunismus im Museum (Christian Lotz) S. 945-946 Katharina Lenski, Reiner Merker: Zwischen Diktat und Diskurs (Henning Pietzsch) S. 946-947 Reinhard Barth: Jugend in Bewegung (Klaus Farin) S. 947-948 Bettina Weinreich: Strafjustiz und ihre Politisierung in SBZ und DDR bis 1961 (Friedrich-Christian Schroeder) S. 948-950 Petra Haustein: Geschichte im Dissens (Elena Demke) S. 950-951 Silke Satjukow (Hg.): Kinder von Flucht und Vertreibung (Bärbel Gafert) S. 951 Wilfried Loth: Die Sowjetunion und die deutsche Frage (Gerhard Wettig) S. 952-953 Annotationen S. 954-958 [Inga Markovits: Gerechtigkeit in Lüritz (Falco Werkentin); Lenka Reinerová: Das Geheimnis der nächsten Minuten (Volker Strebel); Gerhard Barkleit: Manfred von Ardenne (Reinhard Buthmann); Jürgen Gottschalk: »Druckstellen« (Doris Liebermann); Stefan Ernsting: Der rote Elvis (Lutz Kirchenwitz); Rüdiger Steinlein u. a.: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (Frank Hoffmann); Karl Lauterbach: Der Zweiklassenstaat (Werner Rossade); Torsten Töpler: Die Ausgezeichnete (Jeannette Madarász); Nicki Pawlow: Die Frau in der Streichholzschachtel (Marc-Dietrich Ohse)]
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN DIESES HEFTES S. 959-960 IMPRESSUM S. 960