EDITORIAL»Wahrheit ist das Fundament der Demokratie«, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 8. Mai anlässlich des 20. Jahrestages der letzten unfreien Wahlen in der DDR, während der SED-Staat »auf einem alles durchdringenden Leben in Lüge« fußte. Dies wurde bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 deutlicher als in den Jahren zuvor, konnten doch nun Bürgerrechtler erstmals die Wahlfälschung der SED dokumentieren. Damit gelang den Bürgerrechtlern zugleich ein wichtiger Schritt in die Öffentlichkeit, dem im Spätsommer die Einübung des aufrechten Ganges vieler DDR-Bürger auf dem Weg zur friedlichen Revolution folgen sollte. Mit der Dokumentation der Wahlfälschung und Anzeigen wegen dieses Deliktes gegen »Unbekannt« setzten die Bürgerrechtler außerdem ein Signal gegen die Angst vor dem SED-System und gegen das »Leben in Lüge«, das aus dieser Angst resultierte.
Die Erinnerung an die Geschichte der DDR und an das Leben in der DDR rückt zum Zeitpunkt, da dieses Heft erscheint, kurzfristig in den Hintergrund, denn Ende Mai stehen die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Verabschiedung und des Inkrafttretens des Grundgesetzes vorübergehend im Vordergrund. Doch selbst die Erinnerung an dieses Ereignis verdeutlicht, wie unterschiedlich die Systeme der beiden entstehenden deutschen Staaten von Anfang an waren. Das war damals schon erkennbar, auch wenn einige prominente Zeitgenossen, unter ihnen Thomas Mann, es offenbar nicht wahrhaben wollten.
Mit dessen Deutschlandreise im Frühjahr 1949 befasst sich einer der Beiträge des vorliegenden Deutschland Archivs. Die wechselseitigen und wechselhaften Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR werden in verschiedenen Beiträgen dieser Ausgabe berührt – am deutlichsten in der Analyse der wirtschaftlichen Abhängigkeit der DDR von der Bundesrepublik, die 1982 den SED-Staat vor der Zahlungsunfähigkeit rettete. Welche Möglichkeiten des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sah, der Abhängigkeit vom Westen zu entgegen, wird im vorliegenden DA dokumentiert. Im zeitlichen Verlauf markieren die Ereignisse um 1968 den Scheitelpunkt der 40-jährigen Teilungsgeschichte. Wie stark verflochten die Geschichte der beiden deutschen Staaten auch zu diesem Zeitpunkt war, erweist sich nun einmal mehr nach aufwendigen Recherchen in den Stasi-Akten, deren Ergebnis in diesem Heft präsentiert wird: Der Polizist, durch dessen Schuss der Student Benno Ohnesorg in West-Berlin getötet wurde, war Mitglied der SED und zugleich inoffizieller Mitarbeiter des MfS.
Das Erbe der schwierigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in deren Verlauf sich im Westen eine »geglückte Demokratie« (Edgar Wolfrum) etablieren konnte, im Osten aber eine Diktatur installiert wurde, die erst nach 40 Jahren gestürzt werden konnte, steht im Mittelpunkt der vielen Reden und Schriften zu den verschiedenen Jubiläen und Gedenktagen dieses Jahres. Es ist auch Gegenstand etlicher Beiträge des aktuellen Deutschland Archivs – etwa, wenn es um den Umgang mit den wirtschaftlichen Strukturen der vormaligen DDR im Prozess der deutschen Einigung und der Transformation der ostdeutschen Ökonomie geht. Oder wenn versucht wird, die Frage zu beantworten, wie man mit dem Erbe der SED-Diktatur insgesamt umgehen soll: erinnern oder vergessen? Den Anstoß dazu gab der bekannte, vor einigen Monaten verstorbene Publizist Peter Bender in seinem letzten, streitbaren Beitrag, erschienen unter der Überschrift »Erinnern und Vergessen« in Sinn und Form (5/2008). Obwohl Bender darin für das Vergessen plädiert, so insistiert er doch auf Wahrhaftigkeit. Und der wahrhaftige Umgang mit der Vergangenheit, so erklärte die Bundeskanzlerin am 8. Mai, »bedeutet auch, Verklärung entgegenzuwirken.«
Marc-Dietrich Ohse, Hannover
ZEITGESCHEHENMarc Brandstetter: Zerstritten, pleite, geächtet. Wohin führt der Weg der NPD? S. 389-393
Peter Maser: Gratwanderung. Zum Tod von Bischof Albrecht Schönherr (1911 – 2009) S. 393-394
ZEITGESCHICHTEHelmut Müller-Enbergs/Cornelia Jabs: Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit S. 395-400
Jan Foitzik: Politische Entscheidungsfindung auf dem »kurzen Dienstweg«. Stalin und Ulbricht, Dezember 1945 bis Februar 1946 S. 400-405
Karl Wilhelm Fricke: Der Geburtsmakel der DDR. Die Furcht der SED vor freien Wahlen S. 406-413
Christian Schwießelmann: Blockflöten im Parteienkonzert? Das Beispiel der Nordost-CDU von der Gründung bis zur Gegenwart S. 414-424
Tim Szatkowski: Deutsche Nation. Bundespräsident Karl Carstens im Deutschland- und Identitätsdiskurs seiner Zeit S. 425-433
Günther Rüther: Mangelnder Realitätssinn und Wirklichkeitsblindheit? Thomas Manns Besuch im geteilten Deutschland im Goethejahr 1949 S. 434-445
Matthias Braun: Akteure des Bitterfelder Weges im Visier des MfS S. 445-451
Clemens Heitmann/Marcus Sonntag: Einsatz in der Produktion. Soldaten und Strafgefangene als Stützen der DDR-Staatswirtschaft S. 451-458
André Steiner: Faktoren des wirtschaftlichen Niedergangs der DDR S. 459-465
Jörg Roesler: Vom Kombinatsbetrieb zur verlängerten Werkbank. Beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen der Treuhandprivatisierung S. 466-474
Anmerkung: Zu Jan Philipp Wölbern, »Die Entstehung des ›Häftlingsfreikaufs‹ aus der DDR, 1962 – 1964«, DA 41 (2008) 5, S. 856 – 867, und Wölberns Anmerkung dazu, DA 42 (2009) 1, S. 82 – 86 (Reymar von Wedel) S. 475
DOKUMENTATIONHans-Hermann Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR S. 476-487
Dokumentation: MfS-HA XVIII, Grundfragen des Standes der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im Zusammenhang mit der Gewährleistung der inneren Stabilität und Sicherheit der DDR, 25. Januar 1982 S. 487-495
FORUMWolfgang Templin: »Erinnern und Vergessen«. Vom Umgang mit dem Erbe der DDR S. 497-503
Thomas Widera: Die DDR-Bausoldaten. Anpassung und Zusammenarbeit – die Ambivalenz von Protest gegen die SED-Diktatur S. 503-511
Kerstin Engelhardt/Norbert Reichling/Andreas Wagner: »Jugenderfahrungen in Ost- und Westdeutschland 1945 – 1990«. Ein neuer Geschichtskoffer S. 512-517
Michael Braun: »Eros« und »Handwerk« der Freiheit. Wie frei ist die Literatur? S. 517-520
Tagungen, Veranstaltungen Steffen Reichert: »Täter haben ein Gesicht«. Symposium in Berlin S. 521-523
Nina Burkhardt: Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart. Narrative, Medien, Adressaten. Tagung in Potsdam S. 523-525
Jenny Alwart/Susan Baumgartl: »Gerontokraten«, »Helden«, »Betonköpfe«? Die kommunistischen Parteiführungen Mittel- und Osteuropas. Tagung in Leipzig S. 525-528
Manfred Agethen: Freie Wahlen als Erfolg der Friedlichen Revolution. Tagung in Berlin S. 529-531
Ruth Knoblich: Deutscher Herbst 1989. 31. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung in Berlin S. 531-533
Ulrich Eisele: »Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung«. Tagung in Berlin S. 533-536
REZENSIONENMichael Richter: Die Friedliche Revolution; Martin Naumann (Hg.): WENDE-TAGE-BUCH; Andreas Fraude: Die friedliche Revolution in der DDR; Christian Führer: Und wir sind dabei gewesen; Jan Schönfelder: Das Wunder der Friedlichen Revolution (Rainer Eckert) S. 537-540
Demokratie – jetzt oder nie!, Hg. Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Susanne Köstering) S. 541-542
Leonore Ansorg u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!« (Ilko-Sascha Kowalczuk) S. 543
Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland (Hans-Heinrich Jansen) S. 544-545
Manfred W. Hellmann: Das einigende Band?; Ders., Marianne Schröder (Hg.): Sprache und Kommunikation in Deutschland Ost und West (Gustav Korlén) S. 545-547
Christoph Links: Das Schicksal der DDR-Verlage (Rüdiger Thomas) S. 547-548
Ulrich Busch u. a.: Entwicklung und Schrumpfung in Ostdeutschland (Jörg Roesler) S. 548-549
Hubertus Knabe: Honeckers Erben (Armin Pfahl-Traughber) S. 549-550
Archie Brown: Aufstieg und Fall des Kommunismus; Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin (Fred S. Oldenburg) S. 551-553
Gegendarstellung (Jochen Staadt, Tobias Voigt, Stefan Wolle) S. 553-554
Bernd Greiner u. a. (Hg.): Krisen im Kalten Krieg (Hermann Wentker) S. 555-556
Stefan Creuzberger: Kampf für die Einheit (Markus Driftmann) S. 556-557
Tim Geiger: Atlantiker gegen Gaullisten (Siegfried Schwarz) S. 558-559
Michael Lemke (Hg.): Konfrontation und Wettbewerb (Manuel Schramm) S. 559
Ulrich Pfeil (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die »Ökumene der Historiker« (Steffen Kaudelka) S. 560-561
Herbert Elzer: Die deutsche Wiedervereinigung an der Saar; Ders.: Konrad Adenauer, Jakob Kaiser und die »kleine Wiedervereinigung« (Hans-Christian Herrmann) S. 562-563
Edda Ahrberg: In zwei Diktaturen (Iris Wachsmuth) S. 563-564
Anne Barnert: Die Antifaschismus-Thematik der DEFA (Klaus Finke) S. 564-565
Günter Fippel: Demokratische Gegner und Willküropfer von Besatzungsmacht und SED in Sachsenhausen (Alexander von Plato) S. 566-567
Regina Karell: Inoffizielle Mitarbeiterinnen der DDR-Staatssicherheit im Bezirk Gera 1989 (Helmut Müller-Enbergs) S. 568-569
Rainer Schröder: Zivilrechtskultur der DDR, Bd. 4; Ders.: Die DDR-Ziviljustiz im Gespräch (Erich Röper) S. 569-570
Bernd Lindner: DDR Rock & Pop; Herbert Schulze: Am Abend jener Tage (Peter Wurschi) S. 571-572
AnnotationenUwe Holmer: Der Mann, bei dem Honecker wohnte (Steffen Reichert) S. 572; Katja Kipping: Ausverkauf der Politik (Armin Pfahl-Traughber) S. 572-573; Lutz Rathenow: Gelächter, sortiert (Udo Scheer) S. 573; Constantin Hoffmann: Ich musste raus! (Steffen Reichert) S. 573-574; Günter Lehmann: Mitteleuropa (Karlheinz Lau) S. 574
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 575
Impressum S. 576