»Du, laß dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit.« Dieser Appell aus Wolf Biermanns »Ermutigung« für Peter Huchel gehört sicher zu den populärsten Zeilen des Liedermachers. Vielen Menschen wurden diese und andere Verse Biermanns erst bekannt, als der Künstler vor 30 Jahren aus der DDR ausgebürgert wurde. Im Gefolge dieses Willküraktes solidarisierten sich viele Bürgerinnen und Bürger mit Biermann, darunter etliche Künstler und Studierende (so damals auch Doris Liebermann, die ein Gespräch mit ihm für das Deutschland Archiv aufgezeichnet hat); ein Proteststurm hob an, wie ihn die DDR seit der Niederschlagung des Prager Frühlings nicht erlebt hatte.
Die Ausbürgerung Biermanns beendete eine Phase, in der – nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker – geringfügige Liberalisierungsmaßnahmen, vor allem in der Kultur- und die Konsumpolitik, bei vielen Menschen Illusionen hinsichtlich der Reformfähigkeit der DDR bzw. der SED geweckt hatten. Zugleich leitete Biermanns Ausbürgerung bzw. der Protest dagegen die Endphase der DDR ein: Sie führte zu einem massiven Loyalitätsentzug, zunächst vor allem unter den Intellektuellen, später – und dann rasant zunehmend – auch unter der Bevölkerung der DDR. Im Sommer und Frühherbst 1989 kulminierte diese Entwicklung in Massenexodus und Massenprotesten, in deren Folge vor 17 Jahren zunächst Honecker stürzte und dann die Mauer fiel.
Die Mauer als eine wesentliche Bestandsgarantie der DDR ist explizit Gegenstand einiger Beiträge in der vorliegenden Ausgabe des Deutschland Archivs; in anderen ist sie als genuine Rahmenbedingung mitzudenken – etwa, wenn es um die Betreuung von Häftlingen durch die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR geht. Unter diesem Aspekt, als Garant für die Existenz der DDR, ist auch die Mauer ein Gegenstand der Debatte um die Empfehlungen der sogenannten »Sabrow-Kommission«, die im aktuellen Deutschland Archiv abgeschlossen wird.
Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte bzw. die Auseinandersetzung darum thematisieren auch zwei neue Expertisen zum Geschichtsunterricht an den Schulen und zur politischen Erwachsenenbildung, deren wesentliche Ergebnisse im vorliegenden Heft betrachtet werden. Der Konflikt zwischen öffentlichem Aufarbeitungsinteresse und rechtsstaatlichem Persönlichkeitsschutz erfuhr jüngst in den Streitigkeiten um die Stasi-Verstrickungen des renommierten Hoteliers Thomas Klippstein – auch diesem Thema widmet sich das aktuelle Deutschland Archiv – eine neuerliche Zuspitzung. Zugleich widerspiegelt sich dieser Konflikt in den Auseinandersetzungen um die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. So warnte der frühere Bürgerrechtler Rainer Eppelmann die Befürworter des Gesetzentwurfes in einem Offenen Brief davor, »einen Schlussstrich unter die Vergangenheit der SED-Diktatur (…) fahrlässig in Kauf zu nehmen.« Kurz vor Redaktionsschluss ist das Gesetzgebungsverfahren vertagt worden, weshalb die Novelle erst Gegenstand der nächsten Ausgabe des Deutschland Archivs sein wird.
All die genannten Diskussionen zeigen grundsätzlich, wie schwer der Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur nach wie vor fällt. Doch ist die Beschäftigung mit der Diktaturvergangenheit in Deutschland ein wesentlicher Bestandteil der Demokratieerziehung. Der vielfältige Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wie auch die Demonstrationen vom Herbst ’89 sind wichtige Ereignisse, die sich in eine Freiheitstradition einbetten lassen. Viele haben damals Biermanns »Ermutigung« als ganz persönliche Ansprache verstanden, und gerade die abschließenden Zeilen erlangten in der friedlichen Revolution ungeahnte – und anhaltende – Aktualität: »Wir wolln es nicht verschweigen / In dieser Schweigenszeit / Das Grün bricht aus den Zweigen / Wir wolln das allen zeigen / Dann wissen sie Bescheid.«
KOMMENTARE Florian Hartleb: Viel Resignation und ein „Weiter so“. Zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses S. 965-967
Sandra Pingel-Schliemann/Karl-Georg Ohse: Der Wahlerfolg der NPD in Mecklenburg-Vorpommern S. 968-972
Ergebnisse der Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern S. 973
Manfred Jäger: Ein heiterer Skeptiker. Günter de Bruyn zum 80. Geburtstag S. 974-975
Eberhard Görner: Ein großer Erzähler, ein politischer Regisseur. Hommage an Frank Beyer (1932 – 2006) S. 976-977
Bernd Lindner: Ermutigung. Zum Tod des Rockmusikers Klaus Renft (1942 – 2006) S. 978-980
Peter Jochen Winters: Zum Tod von Markus Wolf (1923 – 2006) S. 980-982
ZEITGESCHEHEN Sven Felix Kellerhoff/Uwe Müller: Indiskreter Hotelier. Wenn Rechtsstaat und Aufarbeitung kollidieren: Der Fall Thomas Klippstein S. 983-990
Volker Gransow: Ungeheuer oben. Brecht fünfzig Jahre danach S. 990-992
ZEITGESCHICHTE Doris Liebermann: „Im traurigen Monat November war’s“. Gespräch mit Wolf Biermann am 16. August 2006 in Hamburg S. 993-1002
Jacqueline Boysen: „Ich wusste, wir werden nicht im Stich gelassen“ S. 1003-1012
Gunter Holzweißig: Die Medien und die friedliche Revolution S. 1012-1024
Sascha Rafalzik: Kontrollieren, Agitieren, Spionieren. Reisekader im Dienste des SED-Geheimdienstes S. 1025-1032
Hans-Christian Herrmann: Japan – ein kapitalistisches Vorbild für die DDR? S. 1032-1042
Gabriele Czech/Oliver Müller: Germanistik vor dem Mauerbau. Die DDR auf dem II. Internationalen Germanistenkongress 1960 S. 1042-1048
Márkus Keller: Hoffnung und Ignoranz. Die ungarischen Arbeiterräte in den wissenschaftlichen Diskursen S. 1048-1052
FORUM Ulrich Bongertmann: DDR-Geschichte im Unterricht. Zwei neue Studien zu Geschichtsbüchern und zu Wissen und Einstellungen von Schülern S. 1053-1060
Heidi Behrens/Paul Ciupke/Norbert Reichling: Aufarbeitung, exemplarische Annäherungen – und Desinteresse. Das Thema „DDR-Geschichte“ in der politischen Erwachsenenbildung S. 1060-1068
Rainer Eckert: Streit um Erinnerung und Aufarbeitung. Eine Erwiderung S. 1069-1079
Michael Schwartz/Hermann Wentker: Kein Konsens über die „Konsens-Diktatur“. Zur Reaktion Martin Sabrows auf unsere Kritik an seinem Aufarbeitungskonzept S. 1080-1083
Martin Sabrow: Öffentliche Aufarbeitung und fachliche Verantwortung S. 1083-1086
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Martin Jehle: Eine gemeinsame Sprache finden. „Speziallager“-Forum in Potsdam S. 1087-1089
Gideon Botsch/Christoph Kopke: Zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Lokale Konzepte gegen Rechtsextremismus. Tagungen in Brandenburg und Berlin S. 1090-1093
Marc-Dietrich Ohse: Die DDR aus britischer Perspektive. Tagung in Reading S. 1094-1097
Michael Heinz: Netzwerke im Sozialismus. Workshop in Potsdam S. 1097-1099
Bernd Lindner: Rebellion war gestern. Ausstellung zur „Jugend von heute“ S. 1100-1102
REZENSIONEN Hermann Weber u. a. (Hg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005 (Karl Wilhelm Fricke) S. 1103-1104 Jürgen Zarusky (Hg.): Stalin und die Deutschen (Gerhard Wettig) S. 1104-1105 Wolfgang Mueller u. a. (Hg.): Sowjetische Politik in Österreich 1945 – 1955; Wolfgang Mueller: Die Sowjetische Besatzung in Österreich 1945 – 1955 und ihre politische Mission (Jochen Laufer) S. 1106-1108 Johannes Frackowiak: Soziale Demokratie als Ideal (Mike Schmeitzner) S. 1108-1109 Wolfgang Seiffert: Selbstbestimmt (Tilman Mayer) S. 1110-1111 Lutz Haarmann: „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“ (Herbert Ammon) S. 1111-1112 Helmut Kohl: Erinnerungen (Markus Driftmann) S. 1112-1113 Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger 1904 – 1988 (Joachim Samuel Eichhorn) S. 1114-1115 Jörg Roesler: Momente deutsch-deutscher Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1945 bis 1990 (Rolf Reißig) S. 1115-1116 Bodo Wegmann: Die Militäraufklärung der NVA (Friedrich-Wilhelm Schlomann) S. 1116-1117 Monika Tantzscher: Hauptabteilung VI (Christopher Kopper) S. 1117-1118 Dietmar Riemann: Laufzettel (Helge Heidemeyer) S. 1118-1119 Sylvia Dietmaier-Jebara: Gesellschaftsbild und Lebensführung (Thomas Ahbe) S. 1119-1121 DDR – Was war das?, Hg. Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Kerstin Engelhardt) S. 1122-1123 Arnd Bauerkämper: Die Sozialgeschichte der DDR (Armin Owzar) S. 1123-1124 Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hg.): Sozialstaatlichkeit in der DDR (Josef Schmid) S. 1124-1126 Wolfgang Gersch: Szenen eines Landes; Ingrid Poss/Peter Warnecke (Hg.): Spur der Filme (Günter Agde) S. 1126-1128 Christiane Baumann: Das Literaturzentrum Neubrandenburg 1971 – 2005 (Joachim Walther) S. 1128-1130 Hans Mayer: Briefe 1948 – 1963 (Kai Agthe) S. 1130-1131 Karen Leeder/Erdmut Wizisla (Hg.): „O Chicago, O Widerspruch!“ (Jürgen P. Wallmann) S. 1131-1132 Georg Lukács: Autobiographische Texte und Gespräche (Siegfried Schwarz) S. 1132-1133 Katarzyna Sliwinska: Sozialistischer Realismus in der DDR und Polen (Marion Brandt) S. 1134-1135 Jens Alber/Wolfgang Merkel (Hg.): Europas Osterweiterung (Wolfgang Schlott) S. 1135-1136 Annotationen S. 1137-1139
AKTUELLES AUS DER DDR-FORSCHUNG Newsletter 3/2006 S. 1140-1150
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 1151-1152 Impressum S. 1152