Er hatte als Favorit gegolten, und er hat nicht enttäuscht: Der Film »Das Leben der Anderen« war der große Gewinner bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises. Gewürdigt wurde damit ein Werk, das die DDR fern jeder Ostalgie kritisch betrachtet und trotzdem (oder gerade deswegen?) ein großes Publikum erreicht. 16 Jahre nach dem Untergang der DDR scheint die Aufarbeitung ihrer Geschichte endlich öffentlichkeitswirksam zu werden. Gleichzeitig melden sich Täter des SED-Regimes und ihre ideologischen Stützen lautstark zu Wort. Überraschen kann dies letztlich nicht, wenngleich ihre Unverfrorenheit und Respektlosigkeit gegenüber ihren Opfern ebenso erschreckt wie ihr vorgeblicher Anspruch, sich »kritisch« mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Sechzig Jahre nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED und fünfzig Jahre nach den Aufständen in Polen und Ungarn markieren »Das Leben der Anderen« und die konzertierten Auftritte ehemaliger Stasi-Kader zwei Seiten der Beschäftigung mit der DDR-Geschichte. Ihnen widmen sich etliche Beiträge im vorliegenden Heft des Deutschland Archivs. Zugleich wird in einigen Beiträgen deutlich, dass die DDR-Geschichte als Teil einer gemeinsamen gesamtdeutschen Vergangenheit aufzuarbeiten ist, die ihrerseits im internationalen Kontext betrachtet werden muss. Empfehlungen zur Institutionalisierung der Aufarbeitung der SED-Diktatur hat jüngst – kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe – eine Expertenkommission dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann vorgelegt. (Das Gutachten wird im nächsten Heft des Deutschland Archivs dokumentiert und kommentiert werden.) Der Streit, der sich bereits vor der Veröffentlichung dieser Empfehlungen an ihnen entzündete, unterstreicht, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Es wäre zu wünschen, dass die Debatte um das Expertenpapier die Chance eröffnet, das historische Alltagsbewusstsein der Ostdeutschen und die Geschichtswissenschaft, die – so Lutz Niethammer in der »tageszeitung« vom 12. Mai 2006 – »weitgehend unverbunden sind«, endlich zusammenzuführen. Wenn Niethammer konstatiert: »Viele im Osten denken: Das ist Fremdforschung. Mit unserem Leben in der Diktatur hat das nichts zu tun.«, so wird dieser Eindruck nicht nur durch die Kakophonie der Stasi-Kader, sondern zuweilen auch durch Äußerungen ansonsten ernstzunehmende Wissenschaftler unterstrichen, die der Zeitgeschichtsforschung eine ›westliche Überfremdung‹ unterstellen. Auch solche Behauptungen konterkarieren die wichtigen Bemühungen, die DDR als Teil der deutschen Geschichte insgesamt zu betrachten. Ein wichtiges Signal in dieser Hinsicht war der 10. Kongress der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, der Mitte Mai im niedersächsischen Königslutter – und damit erstmals auf dem Boden der ›alten Bundesrepublik‹ – stattfand. Und mit Florian Henckel von Donnersmarck hat sich ein junger Westdeutscher künstlerisch mit der SED-Diktatur auseinandergesetzt. Sein Film »Das Leben der Anderen« setzt eine wichtige Marke in die DDR-Aufarbeitungslandschaft. Dieser Streifen, das Expertengutachten wie auch die Auftritte und Äußerungen ehemaliger Stasi-Kader und das intensive Echo, das sie jeweils in der Öffentlichkeit hervorgerufen haben, lassen erahnen, dass Jens Bisky mit seiner Vermutung in der »Süddeutschen Zeitung« vom 30. März 2006 Recht haben dürfte: »Die harten Debatten stehen uns noch bevor.« Ein wichtiges Forum dieser Auseinandersetzungen bleibt das Deutschland Archiv, wie auch die vorliegende Ausgabe zeigt.
KOMMENTARE Steffen Schoon/Nikolaus Werz: (Vorerst) Rückenwind für die große Koalition in Berlin. Die Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz S. 389–394
Die Ergebnisse der Landtagswahlen S. 395–396
Karl-Heinz Baum: Zentrum für Zeitgeschichte im Zentrum von Zeitgeschichte. Zehn Jahre Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam S. 396–401
Karlheinz Lau: Brücke in Europa. 500 Jahre Alma Mater Viadrina S. 401–403
Dietrich Scholze: Jurij Brezan (1916–2006) S. 403–405
ZEITGESCHEHEN Krzysztof Ruchniewicz: Juni und Oktober 1956 im Geschichtsbild der polnischen Gesellschaft S. 406–414
ZEITGESCHICHTE Ulrich Pfeil: Die Olympischen Spiele 1972 und die Fußballweltmeisterschaft 1974. Fallbeispiele für die Verquickung von Sport, Politik und Gesellschaft S. 415–423
Günter Jeschonnek: Um den 17. Juni 1953 ist es wieder still geworden … S. 424–429
Solveig Simowitsch: Von Sozialdemokraten zu SED-Funktionären. Wilhelm Höcker, Carl Moltmann, Otto Buchwitz und Heinrich Hoffmann S. 429–438
Christoph Meyer: Die deutschlandpolitische Grundlegung der Großen Koalition. Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 S. 439–448
Helmut Wagner: Die »deutsche Ostpolitik«. Ihre Genese und spätere Interpretation S. 448–454
Henning Pietzsch: Der Fall Matthias Domaschk – Wendepunkt der Jenaer Opposition? S. 455–460
Reiner Merker: Artikulationsraum Kirche? Die Geraer Offene Arbeit 1978–1981 S. 461–470
Friederike Sattler: Planwirtschaftliche Wachstumsstrategien und Wasserknappheit. Zu den Anfängen der innerbetrieblichen »Umweltdebatte« in der DDR (1958–1970/71) S. 470–480
Jörg Roesler: System- oder konjunkturbedingte Unterschiede. Zur Umweltpolitik in der DDR und der Bundesrepublik in den 70er und 80er Jahren S. 480–488
DOKUMENTATION Offener Brief von DDR-Oppositionellen an den Regierenden Bürgermeister von Berlin S. 489
FORUM Karl Wilhelm Fricke: Geschichtsrevisionismus aus MfS-Perspektive. Ehemalige Stasi-Kader wollen ihre Geschichte umdeuten S. 490–496
Stefan Wolle: Stasi mit menschlichem Antlitz S. 497–499
Rainer Eckert: Grausige Realität oder schönes Märchen? Entfacht »Das Leben der Anderen« eine neue Diskussion um die zweite deutsche Diktatur? S. 500–501
Günter Jeschonnek: Die Sehnsucht nach dem unpolitischen Märchen. Ein kritischer Kommentar zum Stasi-Film »Das Leben der Anderen« S. 501–504
TAGUNGEN, VERANSTALTUNGEN Peter Jochen Winters: Schönfärber oder Klassenfeind? Die westdeutsche DDR-Forschung vor 1989 S. 505–508
Theo Mechtenberg: Wo die Erinnerung trennt, da verbindet der Dialog. Deutsch-polnischer Erinnerungsdiskurs S. 508–513
Gerhard Doliesen: Die Volksaufstände von 1953 und 1956. Die DDR und Polen im Vergleich S. 513–517
Katja Schlenker: Neue Forschungen zur ostdeutschen Planungsgeschichte. Werkstattgespräche S. 517–521
Andreas M. Vollmer: Das Parteienspektrum im wiedervereinigten Deutschland. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung S. 521–525
REZENSIONEN Hanns Leske: Erich Mielke, die Stasi und das runde Leder (Hanns-Dieter Krebs) S. 526–527 Rudolf Mau: Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990) (Martin Greschat) S. 528–530 Petra Morawe (Hg.): Zwischen den Welten (Rainer Eckert) S. 530–531 Leonore Ansorg: Politische Häftlinge in der DDR (Karl Wilhelm Fricke) S. 531–533 Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat; Torsten Diedrich, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? (Gunter Holzweißig) S. 534–535 Felix Mühlberg: Bürger, Bitten und Behörden (Christian Kurzweg) S. 535–536 Manfred Scharrer: Der Leserbriefschreiber (Henry Bernhard) S. 537 Peter Hübner u.a. (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus (Jeannette Madarász) S. 538–539 Heike Knortz: Innovationsmanagement in der DDR 1973/79–1989 (Manuel Schramm) S. 539–540 Franz-Josef Brüggemeier, Jens Ivo Engels (Hg.): Natur- und Umweltschutz nach 1945 (Peter E. Fäßler) S. 540–541 Falk Beyer (Hg.): Die (DDR-)Geschichte des Atommüll-Endlagers Morsleben (Winfrid Halder) S. 541–543 Michael Edinger, Andreas Hallermann: Politische Kultur in Ostdeutschland (Gudrun Heinrich) S. 543–544 Tim Peters: Der Antifaschismus der PDS aus antiextremistischer Sicht (Jürgen P. Lang) S. 544–545 Wolfgang Kraushaar u.a.: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF (Tobias Wunschik) S. 545–546 Wolgang Buschfort: Geheime Hüter der Verfassung (Falco Werkentin) S. 546–549 Bert-Oliver Manig: Die Politik der Ehre (Wolfgang Buschfort) S. 549–551 Marion Kaplan, Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten; Moshe Zimmermann: Deutsch-jüdische Vergangenheit (Ansbert Baumann) S. 551–553 Daniel Fraenkel, Jakob Borut (Hg.): Lexikon der Gerechten unter den Völkern (Wolfgang Benz) S. 553–554 Boris Groys u.a. (Hg.): Zurück aus der Zukunft (Wolfgang Schlott) S. 555–557 Einar Schleef: Tagebuch 1953–1963; Einar Schleef: Tagebuch 1964–1976 (Kai Agthe) S. 557–558 Siegfried Lenz: Die Erzählungen; Siegfried Lenz: Selbstverletzung; Erich Maletzke: Siegfried Lenz (Jürgen P. Wallmann) S. 559–560 Rainer Bratfisch (Hg.): Freie Töne (Michael Rauhut) S. 561–562 Michael Berg u.a. (Hg.): Zwischen Macht und Freiheit (Elizabeth Janik) S. 562–564 Rainer Gries, Wolfgang Schmale (Hg.): Kultur der Propaganda (Thymian Bussemer) S. 564–565 Harald Hauswald, Lutz Rathenow: Gewendet (Udo Scheer) S. 566–567 Erich Rübensam: Vom Landarbeiter zum Akademiepräsidenten (Mario Niemann) S. 567–568 Annotationen S. 569–574
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 575–576 Impressum S. 576