EDITORIAL
„Noch niemals konnten Menschen auf die Dauer in der Sklaverei gehalten werden“, rief Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von (West-)Berlin den Deutschen in Ost und West am Abend des 13. August 1961 zu. Das klang damals wie ein frommer Wunsch, denn mit jedem Betonblock, der seither in die Berliner Mauer eingefügt wurde, schien die Grenze zunehmend unüberwindbar und die deutsche Teilung unabänderlich zu werden. Dementsprechend richteten sich die meisten Deutschen zunehmend in ihrem geteilten Land ein – im Osten gezwungenermaßen, im Westen oft leichthin. Weder den einen noch den anderen war dies zu verdenken: „Die Geschichte ist (zwar) glücklich ausgegangen“, erklärte Bundespräsident Christian Wulff in seiner Ansprache zum Gedenken an den Mauerbau vor 50 Jahren, doch: „Das war nicht unbedingt zu erwarten.“
Ganz im Gegenteil: Viele Jahre lang verhärteten sich zunächst die Fronten zwischen Ost-Berlin und Bonn, und den späteren Annäherungen folgten immer wieder Rückschläge. Ständig versuchte das SED-Regime seinen Anspruch, die DDR sei eine eigene „sozialistische Nation“, durch Schikanen verschiedenster Art sowohl gegenüber den Westdeutschen als auch und vor allem gegenüber den Ostdeutschen zu unterstreichen. Wie sehr die SED-Führung den Menschen im Osten misstraute und wie widerwillig sie den Umgang mit dem Westen pflegte, zeigte sich besonders deutlich vor 30 Jahren, als Staats- und Parteichef Erich Honecker Bundeskanzler Helmut Schmidt im mecklenburgischen Güstrow „eine Stadt ohne Frauen und Kinder“ präsentierte (so Marlies Menge damals in der „Zeit“).
War hier der (Staats-)Sicherheitswahn Ost-Berlins auch für die Westdeutschen unübersehbar, so war er im Alltag der Ostdeutschen nahezu allgegenwärtig: Ost-West-Kontakte wurden ebenso unterbunden wie der Zugang zu kritischer Literatur; der Weg in die freie Welt war ohnehin verbaut. Viele haben sich damit arrangiert, etliche sich auch als Helfer in dieses System einbinden lassen. Doch gab es immer auch Menschen, die dagegen aufbegehrt haben. Mangels einer breiten politischen Opposition schenkten die Menschen in der DDR ihr Ohr deshalb insbesondere den Schriftstellern. Etwa Stefan Heym oder Günther de Bruyn – nicht ganz so prominent, doch ebenfalls „ein aufrechter, unverbogener und unverbiegbarer Charakter“, so Bundespräsident Wulff jüngst anlässlich des 85. Geburtstages des Schriftstellers.
Solche Charaktere waren eine Ermutigung für viele Menschen, die Schöpfer kritischer Literatur liehen jenen ihre Stimme, die (noch) nicht die Kraft fanden, ihren Unmut und Protest kundzutun. Damit trugen sie dazu bei, dass die Geschichte „glücklich ausgegangen“ ist. Dass dies tatsächlich nicht zu erwarten war, hat in diesem Jahr die Erinnerung an den Mauerbau besonders klar vor Augen geführt. Welche Auswirkungen die „große Politik“ auf den Alltag der Menschen hat, haben dabei Darstellungen zum Leben an und mit der Grenze und Teilung deutlich gezeigt.
Dazu hat das Deutschland Archiv mit beigetragen, erstmals seit vielen Jahren auch wieder mit einer Sonderausgabe („50 Jahre Mauerbau“). Das vorliegende Heft versammelt ebenfalls Beiträge, die sich mit den unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen der deutschen Teilung befassen. Dazu sind auch jene Texte zu zählen, die sich der Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte und den Folgen der SED-Diktatur widmen. Hierüber ist im vergangenen Jahr intensiv diskutiert worden, angestoßen von Roland Jahn, dem neuen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Die jüngste Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird nicht der Schlusspunkt dieser Auseinandersetzungen sein; sie zeigt vielmehr, dass die Geschichte zwar glücklich ausgegangen, aber noch lange nicht ausreichend aufgearbeitet ist.
ZEITGESCHICHTE/ZEITGESCHEHEN
Johannes Beleites: Mit lautem Donner zu kurz gesprungen. Die 8. Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes S. 485-490
Hendrik Träger: Wählt der Osten immer noch anders? Ein Vergleich der Wahlergebnisse des Jahres 2011 in Ost und West S. 491-499
Heinrich Bortfeldt: „Die Linke“ positioniert sich als Oppositionspartei. Der Programmparteitag in Erfurt vom 21. – 23. Oktober 2011 S. 500-507
Detlev Brunner: „… eine große Herzlichkeit“? Helmut Schmidt und Erich Honecker im Dezember 1981 S. 508-517
Tom Thieme: Mehr als ein Weltliterat. Die Sonderrolle Stefan Heyms in der Ära Honecker S. 518-524
Christian Booß: Sündenfall der organisierten Rechtsanwaltschaft. Die DDR-Anwälte und die Ausreiseantragsteller S. 525-535
Christian Halbrock: Basisarbeit mit der kirchlichen Jugend und Ausbesserungen am Kirchendach. Die Ost-West-Treffen der evangelischen Kirche in der DDR S. 536-545
Gerhard Sälter: Zu den Zwangsräumungen in Berlin nach dem Mauerbau 1961 S. 546-551
Jens Niederhut: Frohe Ferien in der DDR. Kommunismus und Antikommunismus in den 1950er-Jahren S. 552-560
Cornelia Kühn: Sozialistische Folklore? Der Stralauer Fischzug in Berlin zwischen 1954 und 1962 S. 561-569
Bogdan Musial: Der Bildersturm. Aufstieg und Fall der ersten Wehrmachtsausstellung S. 570-579
Dokumentation
Lutz Maeke: Wider die Vernunft. Wie der Minister für Staatssicherheit erklärt, dass der „Schießbefehl natürlich nicht aufgehoben“ wird. Plädoyer für eine vergessene Quelle S. 580-587
Protokoll der Beratung des Ministers für Staatssicherheit mit dem Minister für Nationale Verteidigung und dem Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei am 24. Juli 1973 S. 588-592
FORUM
Hermann Wentker: Der Ort des Mauerbaus im Kalten Krieg und in der deutsch-deutschen Geschichte S. 593-603
Andreas Ludwig: Musealisierung der Zeitgeschichte. Die DDR im Kontext S. 604-613
Klaus Bästlein: Ein „Lernort“ der Geschichte?! Stasi – Die Ausstellung zur DDR-Staatssicherheit S. 614-617
Walter Süß: Mehr als ein einfacher Umzugsbeschluss. Replik auf Klaus Bästlein S. 618-619
REZENSIONEN
Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation; Armin Fuhrer: Von Diktatur keine Spur? (Eckhard Jesse) S. 620-622
Eckhard Jesse: Systemwechsel in Deutschland 1918/1919 – 1933 – 1945/1949 – 1989/1990; Tilman Mayer (Hg.): Deutscher Herbst 1989; Eckhard Jesse/Thomas Schubert (Hg.): Zwischen Konfrontation und Konzession; Christoph Wunnicke: Der Bezirk Neubrandenburg im Jahr 1989 (Sandra Pingel-Schliemann) S. 623-629
Andreas Schmidt: Hauptabteilung III; Tobias Wunschik: Hauptabteilung VII; Torsten Diedrich, Walter Süß (Hg.): Militär und Staatssicherheit im Sicherheitskonzept der Warschauer-Pakt-Staaten; Nikita Petrov: Die sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter in Deutschland; Matthias Ritzi, Erich Schmidt-Eenboom: Im Schatten des Dritten Reiches (Armin Wagner) S. 630-634
Peter Joachim Lapp: Gerald Götting; Christian Schwießelmann: Die CDU in Mecklenburg und Vorpommern 1945 bis 1952 (Friedrich-Wilhelm Schlomann) S. 635-636
Konrad Löw: Deutsche Schuld 1933 – 1945? (Günther Heydemann) S. 637-638
Die Autorinnen und Autoren dieses Heftes S. 639-640 Impressum S. 640