Liebe Leserinnen und Leser,
das neue Heft der „Zeithistorischen Forschungen“, herausgegeben von Jannis Panagiotidis und Florian Wagner, bietet geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse sowie aktuelle Diskussionsimpulse zum Leitthema „Ausweisen – Rückführen – Abschieben“ (https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023).
Während die Migrationsgeschichte in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten generell eine verstärkte wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die erzwungene Entfernung von Migrant:innen aus bestimmten Nationalstaaten dabei noch kaum zum Gegenstand der historischen Forschung geworden. Das Themenheft beschäftigt sich mit Ausweisungs-, Rückführungs- und Abschiebungspraktiken, die gerade in liberalen Demokratien einer rechtlichen Legitimation bedürfen. Während sich das nationale und internationale Recht nach 1945 eher zu Gunsten von Arbeitsmigrant:innen und Geflüchteten zu entwickeln schien, verstetigten sich gleichzeitig Praktiken und Routinen der Rückführung. Die Voraussetzung dafür war die Produktion von „Rückführbarkeit“, welche erzwungener oder (angeblich) freiwilliger Rückkehr den Weg bereitete. Die Autor:innen des Themenhefts fragen nach diskursiven, rechtlichen und praxeologischen Bedingungen des Ausweisens, Rückführens und Abschiebens in transnationaler, vergleichender und migrantischer Sicht. Unser besonderes Augenmerk gilt Deutschland, das sich lange der Einsicht verweigerte, ein Einwanderungsland zu sein. Rückführungen wurden daher zum Mittel, Migration umzukehren und den Zustand als vermeintliches „Nichteinwanderungsland“ wiederherzustellen. Erzwungene Abschiebungen wurden hier zudem vor dem historischen Hintergrund der Massendeportationen des Nationalsozialismus verhandelt und kritisiert. Darüber hinaus rücken die Beiträge des Themenhefts auch die postkolonialen und globalen Verflechtungen von Migration nach und Abschiebungen aus Deutschland in den Fokus.
In der aktuellen politischen Diskussion hat das Thema „Abschiebungen“ erkennbar an Brisanz und Relevanz gewonnen. Oft fehlt es dabei jedoch an genaueren Betrachtungen der historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Viele der heute geäußerten Argumente und Vorannahmen wurden ganz ähnlich schon in früheren Debatten vertreten – was sie nicht unbedingt richtiger macht. Sowohl die politischen Appelle für mehr Abschiebungen als auch das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Abschiebungen haben inzwischen eine eigene, eng miteinander verbundene Geschichte, die man genauer kennen sollte, um in den Kontroversen der Gegenwart fundierter urteilen zu können.
In den Fallstudien etwa zum bundesdeutschen Umgang mit People of Color und ihren Aufenthaltsrechten oder zu den Konflikten um Asyl und Zurückweisungen in der Transitzone am Frankfurter Flughafen wird deutlich: Lokale Konstellationen und die jeweils beteiligten Akteursgruppen (wie kommunale Behörden, Wohlfahrtsverbände oder Hilfsinitiativen) waren für die Abschiebepraxis häufig ebenso entscheidend wie die nationale Ebene der „Ausländerpolitik“. Zudem zeigt sich, dass Rechtsnormen und Rechtspraktiken keineswegs immer eindeutig, „neutral“ und stabil waren. Vielmehr folgten sie politischen Konjunkturen, kulturellen Stereotypen und sozialen Handlungsmustern im Umgang mit „Anderen“. Die Überlagerung von nationalem, europäischem und internationalem Recht sorgt dabei für eine besondere Komplexität des Themas, etwa in der Frage des Bleiberechts und des menschenrechtlich fundierten Schutzes. Schließlich ist es unbedingt wichtig, neben politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen auch die migrantischen Erfahrungen als Teil der deutschen und europäischen Gesellschaftsgeschichte stärker als bisher sicht- und hörbar zu machen.
Unabhängig vom Leitthema sei erwähnt, dass die Druckausgabe der „Zeithistorischen Forschungen“ ab diesem Heft nun auch Farbabbildungen im Innenteil bietet. Dies ermöglicht es, verschiedene Bildquellen wie Plakate, Zeitschriftencover, Farbfotos etc. angemessen wiederzugeben und sie der historischen Interpretation besser zugänglich zu machen. Davon profitiert im vorliegenden Heft bereits der „Extra“-Essay von Felix Axster, der einem sprachlich und visuell populären Deutungsschema nachgeht: „Die ‚Wende‘ als Form der Kolonisierung?“ (https://zeithistorische-forschungen.de/1-2023/6112).
Und noch ein Hinweis in eigener Sache: Raphael Rössel, Mitautor und Mitherausgeber unseres Themenhefts „Disability History“ (https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022), hat für seinen Beitrag zur Rubrik „Neu gesehen“ (https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022/6065) am 28. November 2023 den diesjährigen Zeitgeschichte-digital-Preis in der Kategorie „Wissenschaft“ erhalten (siehe https://zzf-potsdam.de/de/news/lena-herenz-raphael-rossel-erhielten-den-zeitgeschichte-digital-preis-2023). Herzlichen Glückwunsch!
Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen zum gesamten Spektrum der Zeitgeschichte sind für künftige Hefte jederzeit willkommen. Bitte beachten Sie die näheren Hinweise unter https://zeithistorische-forschungen.de/beitragen