HZ 285/3
Aufsätze
Marcus Sandl
Heilige Stagnation. Mediale Konfigurationen des Stillstands in der großdeutsch-katholischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts
Die großdeutsch-katholische Historiographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat bislang in der Historiographiegeschichte wenig Beachtung gefunden. Zu dominierend erschienen der Historismus und die mit ihm identifizierte Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung. In der Tat gehört es zu den Charakteristika der großdeutsch-katholischen Historiographie, daß sie immer eine partikulare blieb, reduziert in ihren Gegenstandsbereichen und zerrissen in der Mannigfaltigkeit methodisch-theoretischer Zugänge. Anders als der Historismus in seiner kleindeutsch-protestantischen Ausprägung war die katholische Historiographie, so die These des Aufsatzes, epistemologisch nicht der Kategorie der Entwicklung, sondern dem Gleichbleibenden, dem Stillstand und der Stagnation verbunden. Sie verweigerte sich damit den Voraussetzungen und Bedingungen eines hermeneutischen Feldes, also dem Gestus der Durchdringung der rein materiellen Oberfläche der Welt mit dem Ziel, eine geistige Wahrheit, einen Sinn auszumachen. Damit verbunden war die Absage an die Vorstellung, historische Prozesse seien letztlich im Bewußtsein des Menschen, also in seiner exzentrischen Subjektivität verankert. Die großdeutsch-katholische Geschichtsschreibung arbeitete dagegen mit medialen Konfigurationen, die auf die Selbstentbergung der Wahrheit zielten. Sie stellte Evidenz auf der Ebene horizontaler Verschiebungen her, produzierte Wirklichkeit im Modus des Ausschnitts, der Abgrenzung und der Übertragung. Gerade damit jedoch gewinnt sie, vor dem Hintergrund der jüngeren kultur- und medienwissenschaftlichen Entwicklungen, eine neue Aktualität.
Winfried Becker
Eine kleine Würdigung der großdeutschen Historiographie des Vormärz. Kommentar zu Marcus Sandl „Heilige Stagnation. Mediale Konfigurationen des Stillstands in der großdeutsch-katholischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts“
Marcus Sandl
Kurzer Kommentar zu Winfried Beckers Beitrag: „Eine kleine Würdigung der großdeutschen Historiographie des Vormärz“
Hans-Werner Hahn
„Ohne Jena kein Sedan“. Die Erfahrung der Niederlage von 1806 und ihre Bedeutung für die deutsche Politik und Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts
Die Schlachten von Jena und Auerstedt haben zwischen 1806 und 1914 in sehr unterschiedlicher Weise auf die deutsche Politik und Geschichtskultur eingewirkt. Sie waren Ausgangspunkt staatlicher Reformpolitik, mahnten aber die preußische Staatsführung auch immer wieder zu einer vorsichtigen, neue Konflikte vermeidenden Außenpolitik. Während die konservativ-restaurativen Kräfte der preußischen Politik bis über die Jahrhundertwende hinaus zwar vom Trauma „Jena“ geprägt waren, aber gerade aus diesem Grunde es öffentlich kaum thematisierten, bildete die immer angesprochene Niederlage von 1806 in der liberalen Erinnerungskultur den Ausgangspunkt einer notwendig gewordenen inneren Erneuerung. Durch die Verknüpfung der Niederlage von 1806 mit dem Sieg in der Völkerschlacht von Leipzig wurde Jena ein zentrales Element einer liberalen Deutung der deutschen Geschichte, die bis 1866 in den aktuellen politischen Auseinandersetzungen mit den konservativen Kräften des alten Preußen die Ansprüche des Liberalismus auf einen freiheitlichen deutschen Nationalstaat legitimieren sollte. Nach der Reichsgründung trat neben die Verknüpfung der Schlachten von Jena und Leipzig die Verknüpfung der Schlachten von Jena und Sedan. Wenngleich höchste politische und militärische Kreise in Preußen die Erinnerung an 1806 noch immer gerne vermieden, schwanden – wie Bismarcks Jena-Besuch von 1892 zeigte – die Gegensätze zwischen den Deutungen staatlicher Eliten und denen des Bürgertums. Die Verdienste des durch die Niederlage erneuerten Preußens für die deutsche Einheit konnten in dem durch die Wiederaufstiegsmetapher geprägten Jena-Diskurs des Kaiserreichs ebenso thematisiert werden wie die Beiträge, die das Bürgertum für Einheit und Aufstieg Deutschlands erbracht hatte. Je krisenhafter dann aber die innere und äußere Situation des Deutschen Reiches wurde, desto mehr rückte wieder eine andere Sicht auf die Ereignisse von 1806 in den Vordergrund. Die Wiederaufstiegsmetapher wurde zunehmend überlagert von einem Krisendiskurs, der sich mit sehr unterschiedlichen Akzenten durch alle politischen Lager zog und von der Frage bestimmt war, inwieweit man in Deutschland nicht wieder vor einer ähnlichen Situation stehe, die 1806 zum Ende des alten Preußen geführt hatte.
Neue historische Literatur
Notker Hammerstein
Die respublica litteraria und ihre Netzwerker
Buchbesprechungen
Allgemeines
L. W. B. Brockliss, Calvet’s Web. Enlightenment and the Republic of Letters in Eighteenth-Century France (N. Hammerstein)
M. Stuber/S. Hächler/L. Lienhard (Hrsg.), Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung (N. Hammerstein)
V. Kockel/B. Sölch (Hrsg.), Francesco Bianchini (1662–1729) und die europäische gelehrte Welt um 1700 (N. Hammerstein)
S. S. Tschopp/W. E. J. Weber, Grundfragen der Kulturgeschichte (B. Stollberg-Rilinger)
L. Raphael (Hrsg.), Klassiker der Geschichtswissenschaft. Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. Bd. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis (M. Völkel)
K. von See, Ideologie und Philologie. Aufsätze zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte (N. Hammerstein)
W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie (A. Lüdtke)
R. H. Gassmann, Verwandtschaft und Gesellschaft im alten China. Begriffe, Strukturen und Prozesse (S. Dabringhaus)
A. Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600 (F. Schmieder)
C. Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (M. Wrede)
A. Holzem (Hrsg.), Normieren, Tradieren, Inszenieren. Das Christentum als Buchreligion (H. Pahl)
E. Labouvie (Hrsg.), Leben in der Stadt. Eine Kultur- und Geschlechtergeschichte Magdeburgs (M. Hettling)
R. Hennl, Gernsbach im Murgtal. Strukturen und Entwicklung bis zum Ende des badisch-ebersteinischen Kondominats im Jahre 1660 (B. Bigott)
F. Igersheim, L’Alsace et ses historiens 1680–1914. La fabrique des monuments (V. Rödel)
M. Fata/G. Kurucz/A. Schindling (Hrsg.), Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Unt. Mitarb. v. A. Lutz u. I. Senz (N. Hammerstein)
H.-C. Kraus/T. Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege (K. Hildebrand)
B. Wolbring, Neuere Geschichte studieren (A. Rödder)
Altertum
C. Hezser, Jewish Slavery in Antiquity (E. Baltrusch)
R. Rollinger/C. Ulf (Eds.), Commerce and Monetary Systems in the Ancient World: Means of Transmission and Cultural Interaction (S. von Reden)
R. Rollinger/B. Truschnegg (Hrsg.), Altertum und Mittelmeerraum: Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante (M. Schuol)
I. Tsigarida, Solon – Begründer der Demokratie? Eine Untersuchung der sogenannten Mischverfassung Solons von Athen und deren „demokratischer“ Bestandteile (K.-W. Welwei)
K. A. Raaflaub/J. Ober/R. W. Wallace, Origins of Democracy in Ancient Greece. With Chapters by P. Cartledge and C. Farrar (C. Schubert)
C. Dewald/J. Marincola (Eds.), The Cambridge Companion to Herodotus (W. Blösel)
C. Brüggenbrock, Die Ehre in den Zeiten der Demokratie. Das Verhältnis von athenischer Polis und Ehre in klassischer Zeit (K. Piepenbrink)
E. Stein-Hölkeskamp/K.-J. Hölkeskamp (Hrsg.), Erinnerungsorte der Antike. Die römische Welt (H. Kloft)
M. Jehne/R. Pfeilschifter (Hrsg.), Herrschaft ohne Integration? Rom und Italien in Republikanischer Zeit (A. Coşkun)
B. Dreyer, Die Innenpolitik der Römischen Republik 264–133 v. Chr. (H. Heftner)
J. H. Farnum, The Positioning of the Roman Imperial Legions (K. Strobel)
K. Bringmann, Augustus (U. Walter)
The Cambridge Ancient History. 2nd Ed. Vol. 12: The Crisis of Empire, A.D. 193–337. Ed. by A. K. Bowman, P. Garnsey, A. Cameron (K. Dietz)
T. Hidber, Herodians Darstellung der Kaisergeschichte nach Marc Aurel (U. Lambrecht)
E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie (S. Alkier)
J. Elsner/I. Rutherford (Eds.), Pilgrimage in Graeco-Roman & Early Christian Antiquity. Seeing the Gods (V. Rosenberger)
C. Sotinel, Identité civique et Christianisme. Aquilée du IIIe au VIe siècle (R. Bratoz)
W. Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire (K. Rosen)
D. Ch. Stathakopoulos, Famine and Pestilence in the Late Roman and Early Byzantine Empire. A Systematic Survey of Subsistence Crises and Epidemics (K.-H. Leven)
F. Millar, A Greek Roman Empire. Power and Belief under Theodosius II (408–450) (M. Meier)
G. Maier, Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica. Vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche (C. Schäfer)
Mittelalter
A. Angenendt, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (G. Melville)
F.-R. Erkens, Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit (W. Chr. Schneider)
The New Cambridge Medieval History. Vol. 1: c. 500–c. 700. Ed. by P. Fouracre (R. Kaiser)
H. M. Weikmann (Hrsg.), Heimo von Bamberg: De decursu temporum (M. M. Tischler)
A. Akasoy/S. Georges (Hrsg.), Muhammad ibn ‛Abdallāh al-Bāzyār. Das Falken- und Hundebuch des Kalifen al-Mutawakkil. Ein arabischer Traktat aus dem 9. Jahrhundert (C. Hollberg)
C. R. Bowlus, The Battle of Lechfeld and its Aftermath, August 955. The End of the Age of Migrations in the Latin West (J. Fried)
H. Hoffmann, Schreibschulen des 10. und des 11. Jahrhunderts im Südwesten des Deutschen Reichs. Mit ein. Beitr. v. E. Hochholzer. 2 Teilbde. (K. Zechiel-Eckes)
G. L. Potestà, Il tempo dell’apocalisse. Vita di Gioacchino da Fiore (P. Segl)
S. Ragg, Ketzer und Recht. Die weltliche Ketzergesetzgebung des Hochmittelalters unter dem Einfluß des römischen und kanonischen Rechts (T. Wetzstein)
C. Auffarth, Die Ketzer. Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen (D. Weltecke)
S. Grathoff, Mainzer Erzbischofsburgen. Erwerb und Funktion von Burgherrschaft am Beispiel der Mainzer Erzbischöfe im Hoch- und Spätmittelalter (M. Hardt)
H. Kamp, Burgund. Geschichte und Kultur (K. Oschema)
Frühe Neuzeit
G. Vogler, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1650 (W. Mährle)
T. Maissen/G. Walther (Hrsg.), Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur (U. Muhlack)
K. Blaschke (Hrsg.), Moritz von Sachsen – Ein Fürst der Reformationszeit zwischen Territorium und Reich (A. Gotthard)
K. Härter/M. Stolleis (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. Bd. 6: Reichsstädte 2: Köln. 2 Halbbde. Hrsg. v. K. Militzer (H. Neuhaus)
K. Härter/M. Stolleis (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. Bd. 7: Orte der Schweizer Eidgenossenschaft: Bern und Zürich. 2 Halbbde. Hrsg. v. C. Schott-Volm (H. Neuhaus)
L. Schorn-Schütte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Politische Theologie – Res Publica-Verständnis – konsensgestützte Herrschaft (J. Kümmerle)
P.-N. Mayaud, Le conflit entre l’Astronomie Nouvelle et l’Écriture Sainte aux XVIe et XVIIe siècles. Un moment de l’histoire des idées autour de l’affaire Galilée. Vol. 1–6 (H. Klueting)
R. Rebitsch, Matthias Gallas (1588–1647). Generalleutnant des Kaisers zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Eine militärische Biographie (B. R. Kroener)
H.-J. Arendt, Wallensteins Faktotum. Der kaiserliche Feldmarschall Heinrich Holck 1599–1633 (F. Kleinehagenbrock)
K. Peters, Print Culture and the Early Quakers (K. von Greyerz)
P. Rietbergen, Power and Religion in Baroque Rome. Barberini Cultural Policies (A. Karsten)
H. Klueting/W. Schmale (Hrsg.), Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinander (J. Burkhardt)
19./20. Jahrhundert
B. Plongeron, Des résistances religieuses à Napoléon (1799–1813) (P. Fuchs)
S. Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848 (T. Stamm-Kuhlmann)
W. Schüler, Das Herzogtum Nassau 1806–1866. Deutsche Geschichte im Kleinformat (E. Treichel)
M. J. Prutsch, Die Charte constitutionnelle Ludwigs XVIII. in der Krise von 1830. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrevision in Frankreich 1814 bis 1830 (P. C. Hartmann)
F. Crivellari/P. Oelze, Vom Kaiser zum Großherzog. Der Übergang von Konstanz an Baden 1806–1848 (H. Fenske)
H. Bleiber/W. Schmidt/S. Schötz (Hrsg.), Akteure eines Umbruchs. Männer und Frauen der Revolution von 1848/49. Bd. 2 (B. Meier)
Akten zur Geschichte des Krimkriegs. Ser. 3: Englische Akten zur Geschichte des Krimkriegs. Hrsg. v. W. Baumgart. Bd. 1: 20. November 1852 bis 10. Dezember 1853. Bearb. v. W. Baumgart (B. Unckel)
A. Seyferth, Die Heimatfront 1870/71. Wirtschaft und Gesellschaft im deutsch-französischen Krieg (E. Kolb)
P. Starr, Commemorating Trauma. The Paris Commune and Its Cultural Aftermath (U. Haltern)
J. Hort, Bismarck in München. Formen und Funktionen der Bismarckrezeption (1885–1934) (C. Studt)
C. Dowe, Auch Bildungsbürger. Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich (N. Hammerstein)
K. Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie (R. Lütgemeier-Davin)
S. Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien, 1899–1919. Über die Funktion von Vorurteilen sowie Einwanderung und nationale Identität (A. Fahrmeir)
P. Hoeres, Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische Philosophie im Ersten Weltkrieg (R. v. Bruch)
H. James, The Nazi Dictatorship and the Deutsche Bank (C. Buchheim)
R. Hachtmann (Hrsg.), Ein Koloß auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936 (W. Plumpe)
B.-A. Rusinek (Hrsg.), Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive (B. Wolbring)
M. Hettling/B. Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945 (C. Bach)
R. C. Granieri, The Ambivalent Alliance. Konrad Adenauer. The CDU/CSU, and the West 1949–1966 (H. Biermann)
K. Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966–1969 (G. Metzler)
A. Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 (H. G. Hockerts)
Nekrolog Otto Pflanze 1918–2007