Band 53 (2003) Heft 5 Inhaltsverzeichnis
Editorial: Frauenfragen? S. 603.
Christine Engel: Kulturelles Gedächtnis, neue Diskurse. Zwei russische Filme über die Kriege in Tschetschenien, S. 604.
Waltraud Bayer: Sammeln für Armenien. Private Kunstkollektionen in Erevan, S. 618.
Schwerpunkt - Politische Partizipation von Frauen
Zur Einführung, S. 633.
Susanne Kraatz, Dorothée de Nève Silvia von Steinsdorff: Osteuropaforschung ohne Frauen? S. 635.
Susanne Kraatz, Alina Žvinkliene: Zwischen Superpräsidentialismus und Staatsfeminismus. Frauen in den Parlamenten Rußlands und Litauens, S. 647.
Gabriella Ilonszki, Dobrinka Kostova: Warum weniger frauenpolitisch mehr sein kann. Parlamentarische Repräsentation von Frauen in Bulgarien und Ungarn, S. 662.
Tanja Binder: Heirat und Familie. Das Frauenbild in postsozialistischen Parteiprogrammen, S. 675.
Katarína Mallok, Anne Tahirović: Der lange Weg zur Gleichberechtigung. Partizipation von Frauen in der Slo-wakei und Bosnien-Herzegowina, S. 689.
Gesine Fuchs, Eva-Maria Hinterhuber: Demokratie von unten? Unverfaßte politische Partizipation von Frauen in Polen und Rußland, S. 704.
Astrid Lorenz: Kompromiß als Ideal. Unverfaßte politische Partizipation von Frauen in Belarus, S. 720.
Bücher und Zeitschriften
Choi Chatterjee: Celebrating Women. Gender, Festival Culture, and Bolshevik Ideology. Wendy Z. Goldman: Women at the Gates. Gender and Industry in Stalin’s Russia. Melanie Ilič: Women in the Stalin Era. Mary M. Leder: My Life in Stalinist Russia. Beate Fieseler, S. 734.
Peter Barta: Gender and Sexuality in Russian Civilisation. Norma Noonan et al.: Encyclopedia of Russian Women’s Movements. Linda Edmondson: Gender in Russian History and Culture. Elisabeth Vogel, S. 743.
Adele Marie Barker, Jehanne M Gheith.: A History of Women’s Writing in Russia. Elisabeth Cheauré, S. 744.
Maja Linthe: Stročka ne ty! Die Figur der Ehefrau und Freundin russischer Schriftsteller. Elisabeth Cheauré, S. 745.
Martina Ritter.: Zivilgesellschaft und Genderpolitik in Rußland. Elisabeth Cheauré, S. 746.
Brigitta Godel: Auf dem Weg zur Zivilgesellschaft. Frauenbewe-gung und Wertewandel in Rußland. Susanne Kraatz, S. 747.
Elisabeth Cheauré, Carolin Heyder: Russische Kultur und Gender Studies. Susanne Kraatz, S. 749.
Carmen Scheide: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechsel-verhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Natali Stegmann, S. 751.
Christa Ebert.: Individualitätskonzepte in der russischen Kultur. Karlheinz Kasper, S. 752.
Eva Binder, Christine Engel: Eisensteins Erben: der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991). Lars Karl, S. 754.
Eingesandte Bücher, S. 756.
Zum Gedenken an Friedrich Kuebart, S. 757.
Christine Engel: Kulturelles Gedächtnis, neue Diskurse. Zwei russische Filme über die Kriege in Tschetschenien Die Filme Gefangen im Kaukasus und Krieg setzen sich beide mit dem Krieg in Tschetschenien auseinander. Sie stützen sich auf historische russische Diskurslinien über den Kaukasus und seine Bewohner, wie sie von Sentimentalismus, Romantik und Realismus geformt wurden, und greifen dabei auf das Motiv des Gefangenen im Kaukasus zurück. Der Bezug zur aktuellen Situation wird in den Filmen vor allem durch Verschiebungen dieser Diskurse und der darin enthaltenen Bewertungen hergestellt. Bodrov spricht im Sinne Lev Tolstojs einer Deeskalation der Leidenschaften das Wort. Balabanov dagegen emotionalisiert den Konflikt, indem er zusätzlich Heldenmythen des sozialistischen Realismus und bekannte Stereotype eines kulturellen Gegensatzes zwischen Rußland und Westeuropa aktiviert.
Waltraud Bayer: Sammeln für Armenien. Private Kunstkollektionen in Erevan. Die Armenische Sowjetrepublik profitierte – wie kaum eine andere Teilrepublik der ehemaligen UdSSR – vom Engagement privater Kunstsammler im In- und Ausland. Öffentliche Sammlungen entstanden durch Schenkungen und Überführungen von verstaatlichtem Kulturgut aus der Diaspora. Der Beitrag beschreibt die historischen Rahmenbedingungen, die Rolle der wichtigsten Sammler und Museumsgründer, analysiert die Wechselbeziehungen zwischen Armenien und den armenischen Gemeinden in der UdSSR wie im Ausland. In kulturpolitischen Fragen existierte ein breiter nationaler Konsens. Dieser ermöglichte nicht nur den Aufbau bedeutender Kunstmuseen, sondern auch eine Kunstpolitik, die den Direktiven der Moskauer Zentrale widersprach und indirekt Impulse zur Entwicklung einer eigenständigen, inoffiziellen Kunstszene gab.
Susanne Kraatz, Dorothée de Nève, Silvia von Steinsdorff: Osteuropaforschung ohne Frauen? Während die offizielle sozialistische Propaganda die emanzipierte Frau als Teil einer neuen, von der kapitalistischen Ausbeutung befreiten Gesellschaft feierte kritisierte die Osteuropaforschung vor 1989 häufig die verstaatlichte Emanzipation und die Ausbeutung der Frauen. Gemeinsam war beiden Perspektiven allerdings, daß die politische Partizipation der Frauen eine untergeordnete Rolle zu spielen schien. An dieser Perspektive hat offensichtlich auch die postsozialistische Transitionsforschung kaum gerüttelt.
Susanne Kraatz, Alina Žvinkliene: Zwischen Superpräsidentialismus und Staatsfeminismus. Frauen in den Parlamenten Rußlands und Litauens. Die Voraussetzungen, das gemeinsame russisch zarisch-sowjetische Erbe auch in der Geschlechterpolitik zu überwinden, scheinen für den EU-Beitrittskandidaten Litauen günstiger als für die gefährdete Demokratie Rußlands. Dennoch hat sich die Repräsentation von Frauen auffallend parallel entwickelt. Zwar hat es in beiden Ländern einen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Neuanfang in der Geschlechterpolitik gegeben, doch waren seiner Wirksamkeit durch die umfassenden gesellschaftlichen Probleme, die Diskreditierung des Feminismus und den Anpassungsdruck für Parlamentarierinnen ebenso Grenzen gesetzt wie durch eine schwache Institutionalisierung des Parteiensystems und die zunehmende Informalisierung des Politischen. Kurzfristige Aufwärtsbewegungen hingen jeweils allein mit dem Wahlerfolg einer Partei zusammen. Die Chancen und die Hindernisse für die politische Partizipation von Frauen sind damit teilweise sehr ähnlich, teilweise ganz anders als in etablierten westlichen Demokratien. Entscheidend sind dabei das Gewicht der politischen Institutionen sowie der Kontext, in dem sie wirken.
Gabriella Ilonszki, Dobrinka Kostova: Warum weniger frauenpolitisch mehr sein kann. Parlamentarische Repräsentation von Frauen in Bulgarien und Ungarn. Ungarn gilt auch aus frauenpolitischer Perspektive als vergleichsweise erfolgreiches Beispiel für die demokratische Transformation. So bot die Nachfolgepartei der ungarischen KP Frauen recht gute Zugangschancen. Dennoch zeigt der Vergleich mit Bulgarien, daß dort die Anzahl der Parlamentarierinnen zur Zeit höher ist. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die frauenpolitischen Akzentsetzungen einer neuen, überraschend erfolgreichen konservativ-traditionellen (Bewegungs-)Partei. Dennoch erscheinen die Zukunftsaussichten für die politische Partizipation von Frauen in Ungarn günstiger. Das Frauenbild ist weniger in der traditionalen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verhaftet, und im stabilen ungarischen Parteiensystem hat sich eine Gruppe professioneller Parlamentarierinnen etabliert, die zum Kern einer „gender-bewußten“ Politik werden könnte. Die hohe Zahl der Parlamentarierinnen in Bulgarien geht dagegen einher mit einer hohen Fluktuation, so daß politisch unerfahrene Amateurinnen ohne Entscheidungskompetenz dominieren.
Tanja Binder: Heirat und Familie. Das Frauenbild in postsozialistischen Parteiprogrammen. Seit dem Niedergang der staatssozialistischen Ordnungen in Osteuropa ist die Einheit der Region zerfallen. Eines verbindet dennoch so unter-schiedliche Länder wie Tschechien, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien: das Frauenbild. Überall ist eine Renaissance traditioneller Werte zu beobachten. Dies zeigt sich an den Programmen der erfolgreichsten Parteien dieser Länder. Dem Thema „Frau“ und der geschlechtlichen Ungleichheit messen sie keine oder geringe Bedeutung zu. Zwar variiert das Rollenverständnis in den Parteiprogrammen. Es überwiegt jedoch das Bild von der Frau als Hüterin der Familie, deren Platz nicht in der Öf-fentlichkeit und Politik sei.
Katarína Mallok, Anne Tahirović: Der lange Weg zur Gleichberechtigung. Partizipation von Frauen in der Slowakei und Bosnien-Herzegowina. Welche Partizipationsmöglichkeiten haben Frauen in Parteien der Slowakei und Bosnien-Herzegowinas und welche Auswirkungen hat Politik auf staatliche Frauenförderung? Bis vor kurzem spielte die Frauenfrage eine nur marginale Rolle für die Parteien. Trotz vieler Mitglieder sind Frauen in Führungspositionen selten. In den letzten Jahren stieg aller-dings die Zahl der Frauen in Staatsämtern. Dies geht auf den Druck der Medien, von NGO`s und auf den Einfluß internationaler Organisationen zurück. Sie haben die Unterrepräsentanz der Frauen thematisiert und die Parteien zum Handeln gebracht.
Gesine Fuchs, Eva Maria Hinterhuber: Demokratie von unten? Unverfaßte politische Partizipation von Frauen in Polen und Rußland. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa löste nicht nur eine tiefgreifenden Wandel der politischen Systeme und der Wirtschaftsordnung aus, er ging auch mit einem Umbruch in den Geschlechterverhältnissen einher. Den neuen Partizipationsmöglichkeiten stehen geschlechtsspezifische Einschnitte im Bereich politischer, sozialer und ziviler Rechte gegenüber. In Polen und Rußland haben jedoch unkonventionelle Formen politischer Beteiligung von Frauen zum Abbau bestehender Demokratiedefizite beigetragen. Kleine Frauenbewegungen sind entstanden, die nach und nach Interessen formulieren, diese mit Verweis auf das bestehende Recht legitimieren, neue Frauenbilder popularisieren und dazu Impulse an politische Institutionen geben.
Astrid Lorenz: Kompromiß als Ideal. Unverfaßte politische Partizipation von Frauen in Belarus. Selbst im autoritären Belarus haben sich neue Handlungsräume für Frauen eröffnet. Obgleich Frauen sich politisch ebenso stark wie Männer engagieren, ist der direkte Einfluß von Frauen auf die staatliche Politik relativ schwach. Dies liegt zum einen an dem autoritären Charakter des Regimes und den Mechanismen geschlechtsspezifischer Ausgrenzung, zum anderen an der Schwäche der Organisationen und einem spezifischen Politikstil. Frauen bevorzugen Formen unverfaßter Partizipation, konfliktvermeidende Strategien und beschränken ihren Protest häufig auf Kritik an den sozioökonomischen Verschlechterungen. Ihre Aktivitäten kreisen vorrangig um die Behebung praktischer Alltagsprobleme; eine demokratische Frauenbewegung entstand trotz verschiedener Versuche bislang nicht. Trotzdem ist auch innerhalb dieser Grenzen ein Trend zur Überschreitung rollenspezifischer Verhaltensweisen und eine zunehmende Organisation von Fraueninteressen bis hin zu feministischen Gruppen erkennbar.