Editorial Zeitspiegel 3
Karl Schlögel Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde 5
Michael Kohlstruck „Salonbolschewist“ und Pionier der Sozialforschung Klaus Mehnert und die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas 1931–1934 29
Intermezzo „Mein Rätebuch kursierte als Raubdruck“ Mit Oskar Anweiler auf einer tour d’horizon 49
Dietrich Beyrau Ein unauffälliges Drama Die Zeitschrift Osteuropa im Nationalsozialismus 57
Dokumente Osteuropa im Spiegel des Moskauer Sonderarchivs 68
Ray Brandon „Politische Einstellung: Jude“ Wolfgang J. Leppmann (1902–1943) 87
Intermezzo Wo die Geschichte auf die Haut kriecht . . . Katharina Raabe über Literatur aus dem Osten Europas 101
Corinna R. Unger „Objektiv, aber nicht neutral“ Zur Entwicklung der Ostforschung nach 1945 113
Sebastian Lentz, Stella Schmid Blauer Riese Das Osteuropa-Raumbild 1951–1955 133
Intermezzo Der englische Einheitsjargon ist ein Holzweg Bodo von Greiff über Zeitschriften, Wissenschaft und Politik 139
Thekla Kleindienst Zerreißprobe Entspannungspolitik und Osteuropaforschung 149
Heinz Brahm Drehscheibe der Osteuropaforschung Das BIOst in Köln 163
Karl Schlögel Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde Der Wissenschaftler und Politiker Otto Hoetzsch brachte im Berlin der 1920er Jahre alle jene zusammen, die an Rußland Interesse zeigten. Er gründete die Deutsche Gesellschaft zum Studium Rußlands (später: Osteuropas) und hob 1925 die Zeitschrift Osteuropa aus der Taufe. Hoetzsch organisierte und inspirierte russische Emigranten, Deutschbalten und Sowjetrussen. Berlin war das weltweit anerkannte Zentrum der Rußland- und Osteuropastudien. Die Nationalsozialisten diffamierten Hoetzsch als „Salonbolschewisten“, zwangen ihn zum Rückzug, zerstörten die akademische Osteuropaforschung und stürzten Europa in den Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg bescherte die Teilung Europas Otto Hoetzsch mit seinem Anspruch, Rußland und Osteuropa in den europäischen Geschichtshorizont einzugliedern, eine letzte Niederlage.
Michael Kohlstruck „Salonbolschewist“ und Pionier der Sozialforschung Klaus Mehnert und die Deutsche Gesellschaft zum Studium Osteuropas 1931–1934 Zwischen 1931 und 1933 amtierte Klaus Mehnert als Generalsekretär der DGSO und Schriftleiter der Zeitschrift Osteuropa. Der in Moskau geborene Mehnert (1906–1984) war bereits in den 1920er Jahren von dem Tempo und dem Elan der Veränderungen in der Sowjetunion fasziniert. Nicht dem Inhalt, aber dem Stil nach plädierte er für eine ebensolche tiefgreifende Entwicklung in Deutschland. Dieser Begeisterung entsprach sein Eintreten für die Rapallo-Linie einer außenpolitischen Kooperation zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Politisch gehörte Mehnert ins Umfeld der Schwarzen Front von Otto Strasser. Mit dem Machtantritt der NSDAP zeichneten sich deshalb Schwierigkeiten ab.
Intermezzo „Mein Rätebuch kursierte als Raubdruck“ Mit Oskar Anweiler auf einer tour d’horizon Den Erziehungswissenschaftler und Osteuropahistoriker Oskar Anweiler verbindet etwas Besonderes mit der Zeitschrift Osteuropa: Beide wurden 1925 aus der Taufe gehoben. Dies ist Anlaß, Anweiler auf einer biographischen tour d’horizon zu begleiten. Sie beginnt im multiethnischen Galizien, führt über den Hitler-Stalin-Pakt und den folgenden Krieg zur intellektuellen Auseinandersetzung mit Osteuropa in der Nachkriegszeit. Anweiler ist Zeuge des Neuaufbaus der Osteuropaforschung, diskutiert mit der Studentenbewegung über Staatskommunismus und Rätesystem, reflektiert die Bedeutung der Entspannung, den politischen Standort der Osteuropaforschung und denkt darüber nach, welche Folgen das Ende des Ost-West-Konflikts für das eigene Weltbild und sein akademisches Selbstverständnis haben. Interdisziplinarität und Komparatistik bleiben im Zentrum. Oskar Anweilers Leben und 80 Jahre Osteuropa haben etwas gemeinsam: Beide sind ein Spiegel der Zeit.
Dietrich Beyrau Ein unauffälliges Drama Die Zeitschrift Osteuropa im Nationalsozialismus Im Moskauer „Sonderarchiv“ liegen bis heute Akten aus dem Auswärtigen Amt. Sie geben Aufschluß über die Arbeit der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und der Zeitschrift Osteuropa von 1933 bis 1939 – beide wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mißtrauisch beäugt. Den NS-Ostexperten galten sie als Institutionen der Weimarer Republik. Die Verantwortlichen der Gesellschaft und der Redaktion wie Otto Hoetzsch, Klaus Mehnert und Werner Markert ließen sich auf einen Balanceakt zwischen Ausspielen ihrer fachlichen Kompetenz und Anpassung an die neuen Machthaber ein. Die Annahme, als ehemalige „Verlängerung des Auswärtigen Amtes“ vor politischen Angriffen oder der eigenen Kompromittierung immun zu sein, erwies sich als Illusion. Die Lage der Osteuropa-Gesellschaft wurde immer prekärer. Prominente Repräsentanten wurden in die innere Emigration oder ins Exil getrieben, andere zahlten ihre Anpassung mit einer fatalen Nähe zu den Überzeugungen der NS-Ostexperten. Die Hintergründe der Auflösung der Gesellschaft und des Endes der Zeitschrift 1939 bleiben im dunkeln.
Ray Brandon „Politische Einstellung: Jude“ Wolfgang Johannes Leppmann (1902–1943) In der Weimarer Republik war Berlin Zentrum der Osteuropaforschung. Zum wissenschaftlichen Nachwuchs zählte Wolfgang Leppmann. Der Slawist und Historiker, Doktorand von Otto Hoetzsch, arbeitete bei der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und publizierte mehrfach in Osteuropa. Von 1931 bis 1934 unterstützte er Hoetzsch als wissenschaftlicher Assistent bei der Herausgabe der Quellenedition Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme geriet Leppmann, der sich selbst nicht als Jude betrachtete, dem Regime aber als solcher galt, ins Visier der NS-Rassenpolitik. Dem größten Teil von Leppmanns Familie und seinen Kollegen gelang die Flucht. Er selbst konnte sich nicht dazu entschließen. Als er deportiert werden sollte, tauchte er unter, wurde aber bald darauf entdeckt. Wolfgang Leppmann starb 1943 in Auschwitz.
Intermezzo Wo die Geschichte auf die Haut kriecht … Katharina Raabe über Literatur aus dem Osten Europas Die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe analysiert den Stoffwechsel zwischen Lesen und Welterfahrung. Sie enthüllt das Besondere an der osteuropäischen Literatur und benennt die Hürden, die zu überwinden sind, ehe sich Autoren wie Andruchovyč, Ćosić, Darvasi oder Stasiuk auf dem deutschen Buchmarkt etablieren können. Sachbücher über Osteuropa sind besonders schwierig durchzusetzen. Für die mentale Erschließung dieses Raums werden Bücher aus der Feder inspirierter Flaneurs immer wichtiger. In dem ihnen eigenen Genre verschränken sich geographische, politische und historische Ebenen. Zeitschriften wie Osteuropa werden ihre Bedeutung behalten, wenn es ihnen gelingt, Forum zu sein, auf dem Autoren Aktuelles stärker reflektierend und analytisch weiter ausgreifend erklären können, als dies Zeitungen gemeinhin gestatten, und wenn sie die anachronistische Dichotomie aus Wissenschaftszeitschrift oder Publikumszeitschrift überwinden.
Corinna R. Unger „Objektiv, aber nicht neutral“ Zur Entwicklung der Ostforschung nach 1945 Ihrer nationalsozialistischen Belastung zum Trotz gelang es der Ostforschung nach 1945, sich in der Bundesrepublik wieder als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Dies verdankte sie der Flexibilität ihrer Vertreter, die sich und ihre Forschung den neuen politischen Bedingungen anzupassen verstanden: Zum einen betonten sie den politischen Nutzen ihrer Arbeit für die Auseinandersetzung um die Oder-Neiße-Grenze und die Vertriebenenproblematik; zum anderen kam ihnen der Kalte Krieg gelegen, um die individuelle Belastung sowie die deutsche Verantwortung für die Verbrechen in Ost- und Ostmitteleuropa zugunsten der Beschäftigung mit der drohenden sowjetischen Expansion zu verdrängen. Erst im Laufe der 1960er Jahre legte das Fach seine bis dahin dominante deutschtumszentrierte, vielfach antikommunistische Ausrichtung ab.
Sebastian Lentz, Stella Schmid Blauer Riese Das Osteuropa-Raumbild 1951–1955 Von der Wiedergründung der Zeitschrift 1951 bis Ende 1955 erschien Osteuropa in blauem Gewand. Zu sehen war der Ausschnitt einer Weltkarte, die auf der Basis der Mercator-Projektion erstellt wurde. Diese hat den Nachteil, daß sie die Fläche nur am Äquator getreu abbildet, je näher die Darstellung an den Polen liegt, desto stärker wird die Verzerrung. Indien wirkt gegenüber dem nördlichen Sibirien lächerlich klein. Gewollt oder ungewollt vermittelt diese Karte verschiedene Bilder von Osteuropa. Sie könnte einen politischen Osteuropabegriff visualisieren, der neben der UdSSR auch China umfaßt. Gleichzeitig könnte sie im Kalten Krieg dazu gedient haben, die kommunistische Gefahr darzustellen. Nicht unwahrscheinlicher ist, daß es sich um ein bloßes graphisches Gestaltungsmittel handelt. Dafür spricht die holzschnittartige, beinahe expressionistische Anmutung der Darstellung.
Intermezzo Der englische Einheitsjargon ist ein Holzweg Bodo von Greiff über Zeitschriften, Wissenschaft und Politik Der Redakteur des Leviathan, Bodo von Greiff, singt das Loblied der Interdisziplinarität, spricht über die Überwindung der Weberschen Trennung von Wissenschaft und Politik, sinniert über den Zusammenhang von Sprache und Erkenntnis, diagnostiziert kindische Neigungen unter Autoren, analysiert die Herausforderungen des Zeitschriftenmachens zwischen Mäzenatentum und Werbung für Rückenstützen mit Lesebrillen und erinnert daran, daß auch die Vorfahrtsregeln im römischen Wagenrennen Erkenntnisgewinn haben können.
Thekla Kleindienst Zerreißprobe Entspannungspolitik und Osteuropaforschung Die deutsche Osteuropaforschung hängt wie jede andere Wissenschaft von politischen Konjunkturen ab. Begünstigt durch den beginnenden Kalten Krieg wurde die bundesdeutsche Osteuropaforschung in den 1950er Jahren stark gefördert und konnte an institutionelle Strukturen und Forschungsmethoden der Zeit vor 1945 anknüpfen. Die Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre beeinflußte die Osteuropaforschung derart nachhaltig, daß das gesamte institutionelle und inhaltliche Gefüge, wie es sich in den 1950er Jahren etabliert hatte, ins Wanken geriet. Der langsame Abschied vom Paradigma der Ostforschung sowie eine thematische und methodische Ausdifferenzierung waren wichtige Schritte auf dem Wege der Verwissenschaftlichung der Osteuropaforschung nach 1945.
Heinz Brahm Drehscheibe der Osteuropaforschung Das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien Fünf Jahre sind seit der Schließung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) vergangen. Als Verbindungsstelle zwischen der Osteuropaforschung und der Bundesregierung war das interdisziplinär ausgerichtete BIOst ein Novum. In Gesprächsrunden mußten die Politikwissenschaftler, Ökonomen und Juristen ständig ihre Erkenntnisse abgleichen. Zwar arbeitete das BIOst für viele Ministerien, sein eigentlicher Ertrag liegt jedoch in der Forschung. Das Institut wurde weder von den Ressorts vereinnahmt, noch folgte es akademischen Konjunkturen. Es war ein offenes Haus, in dem Studenten arbeiteten und Journalisten Gesprächspartner fanden. Für die Wissenschaftler ergaben sich Einsichten durch Kontakte, die anderswo kaum möglich waren.