Schwerpunkt – Präsidentschaftswahlen in Polen
Gerhard Gnauck Staatsinstinkt oder nationaler Komplex? Was Europa von Polens neuem Präsidenten zu erwarten hat 3
Peter Oliver Loew Zwillinge zwischen Endecja und Sanacja Die neue polnische Rechtsregierung und ihre historischen Wurzeln 9
Stefan Garsztecki Politisches Erdbeben in Polen? Deutsche Befürchtungen, polnische Kontexte 21
Sabina Wölkner Vor einer neuen Eiszeit? Polen, Rußland und der Sieg der PiS 31
Karten zu den Präsidentschaftswahlen in Polen Polen politisch Erster Wahlgang, Ergebnisse Kaczyński und Tusk nach Wojewodschaften Erster Wahlgang, Ergebnisse Lepper und Borowski nach Wojewodschaften Zweiter Wahlgang, Ergebnisse Kaczyński und Tusk nach Kreisen
Pavel Pečínka Grüne Bande Die tschechischen Grünen zwischen Prag und Brüssel 43
Michael W. Bauer Damit ist ein Staat zu machen Verwaltungsstudium in Ostmitteleuropa 55
Martin Lücke Verfemt, verehrt, verboten Jazz im Stalinismus 67
Henrike Schmidt, Katy Teubener Monumentalisierung und Metaphorik der Angst Der offizielle Diskurs über das Internet in Rußland 79
Dagmar Burkhart Das Phantasma des Mantels Gogol’, Timm, Makanin 95
Karl-Heinz Kasper Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Rußland und seine Schriftsteller zwischen West und Ost 107
Abstracts
Gerhard Gnauck Staatsinstinkt oder nationaler Komplex? Was Europa von Polens neuem Präsidenten zu erwarten hat Seit dem überraschenden Wahlsieg Lech Kaczyńskis bei den polnischen Präsidentschaftswahlen rätseln die Beobachter, wohin er Polen innen- und außenpolitisch führen wird. Ein Blick auf seine politische Laufbahn, die in der Solidarność begann, läßt zwei Szenarien möglich erscheinen. Entweder wird Kaczyński Staatsinstinkt an den Tag legen, nicht an der Vision von der Umgestaltung Polens festhalten, sondern das Gemeinwohl zur obersten Richtschnur erheben. Er könnte sich aber auch als mißtrauischer Politiker erweisen, der von persönlicher Verletztheit und Komplexen getrieben ist.
Peter Oliver Loew Zwillinge zwischen Endecja und Sanacja Die neue polnische Rechtsregierung und ihre historischen Wurzeln Unter der Oberfläche des politischen Denkens in Polen schlummern zwei Helden des Unabhängigkeitskampfes aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Roman Dmowski und Józef Piłsudski. Die neue polnische Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość ist von diesen Vorbildern nicht unbeeindruckt: Nationaldemokratische Tendenzen sowie autoritäre Neigungen deuten darauf hin, daß im politischen Geschehen der kommenden Jahre traditionalistische Denkschemata vorherrschen werden. Ob dies ein geeignetes Rezept für die Probleme der Gegenwart ist, wird sich zeigen.
Stefan Garsztecki Politisches Erdbeben in Polen? Deutsche Befürchtungen, polnische Kontexte Der Ausgang der polnischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ist in Deutschland sehr kritisch kommentiert worden. Viele Beobachter fürchten, die liberale Gesellschaft, gar die polnische Demokratie seien in Gefahr. Zudem stünden nun in den deutsch-polnischen Beziehungen die Zeichen auf Sturm, von den Auswirkungen des staatszentrierten Programms der PiS auf die EU ganz zu schweigen. Diese Ängste sind übertrieben, die Brüder Kaczyński stehen für eine konservative, nicht aber für eine nationalistische Politik.
Sabina Wölkner Vor einer Eiszeit? Polen, Rußland und der Sieg der PiS Aus historischen Gründen sind die Beziehungen zwischen Rußland und Polen belastet. Insofern wurde die Sorge laut, der doppelte Sieg der rußlandkritischen, nationalkonservativen Kräfte bei den Wahlen zum Sejm und um die Präsidentschaft könnte zu wachsenden Spannungen zwischen Warschau und Moskau führen. Dafür gibt es wenig Anhaltspunkte. Wachsender Handel zwischen den beiden Staaten, Polens Einbindung in die EU und außenpolitischer Pragmatismus sind realpolitische Interessen, die auch das Kaczyński-Lager teilt. Allerdings bieten ungelöste historische Fragen wie das Verbrechen von Katyń sowie Moskaus unklare Haltung zur Diktatur in Belarus Konfliktpotential.
Pavel Pečínka Grüne Bande Die tschechischen Grünen zwischen Prag und Brüssel Grüne Parteien haben in Osteuropa nicht jene Bedeutung erlangen können wie einige Schwesterparteien in Westeuropa. Selbst in Tschechien, wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen recht gut waren, blieben die Grünen lange randständig. Hinzu kam, daß die deutschen Grünen ihr tschechisches Pendant mieden, da sich ihre politischen Vorstellungen fundamental unterschieden. Erst nach einem Machtwechsel bei den tschechischen Grünen begannen die Europäischen Grünen diese zu unterstützen. Doch auch die neue Führung wehrte sich gegen den Einfluß, den die Europäischen Grünen zu nehmen trachten. Nun machen Teile der tschechischen Grünen mit den finnischen, ungarischen und lettischen Grünen gegen die Spitze der Europäischen Grünen Front.
Michael W. Bauer Damit ist ein Staat zu machen Verwaltungsstudien in Ostmitteleuropa Der Systemwechsel in Ostmitteleuropa zog eine Reform des öffentlichen Verwaltungsstudiums nach sich. In den Studiengängen der meisten Länder gewann die öffentliche Betriebswirtschaftslehre an Bedeutung. Nur wenige Länder halten an der traditionellen Dominanz der rechtswissenschaftlichen Ausbildung fest. Die Wahrscheinlichkeit für einen Modell- oder Pfadwechsel hängt vom Ausmaß der politischen Transformation und des Elitenaustauschs sowie von den Zugangsbedingungen zum öffentlichen Dienst ab. Die Ausrichtung des Verwaltungsstudiums hat Implikationen für das Staatsverständnis und das Staatshandeln.
Martin Lücke Verfemt, verehrt, verboten Jazz im Stalinismus zwischen Repression und Freiheit Fünf Jahre nachdem der Jazz in Westeuropa Premiere hatte, war er in der Sowjetunion zu erleben und entwickelte sich dort binnen kurzer Zeit zu einer populären Musikform. Die Haltung von Stalins Regime zum Jazz als Genre, das mit Freiheit konnotiert war, bewegte sich zwischen Restriktion und Zensur bis zur staatlichen Förderung. Verantwortlich waren innen- und außenpolitische, wirtschaftliche sowie ideologische Faktoren. Jedoch blieb der Jazz während des gesamten Stalinismus ein Bestandteil des kulturellen Lebens.
Henrike Schmidt, Katy Teubener Monumentalisierung und Metaphorik der Angst Der offizielle Diskurs über das Internet in Rußland Informationstechnologie ist Herrschaftstechnologie. Die Verfügung über die Produktionsmittel in den meinungsbildenden Medienindustrien ist von zentraler Bedeutung für die politische, gesellschaftliche und private Kommunikation. Die revolutionäre Bedeutung des Internet liegt darin, daß es potentiell die Verfügungsmacht über die Produktion und Verbreitung von Information dezentralisiert. Diese Eigenschaft der weltweiten Datennetze stellt eine Herausforderung für Bestrebungen staatlicher Kontrolle dar. Nicht zuletzt gilt dies für das rußländische Internet, dessen wachsende Popularität die staatliche Medien- und Meinungsmacht bedroht. Diskussionen darüber, ob es notwendig und möglich ist, das Internet zu kontrollieren, nehmen zu. In den Auseinandersetzungen um Freiheit und Zensur im rußländischen Segment des WWW erweist sich die kulturelle Deutungshoheit über das Medium als effektiver als Maßnahmen zu seiner technischen Regulierung.
Dagmar Burkhart Das Phantasma des Mantels Gogol’, Timm, Makanin Eines der Hauptbegehren des Menschen ist wohl das Begehren nach dem Anderen, und das Ich (das Ego) fungiert dabei als Schnittstelle zwischen einem internen und einem externen alter ego oder Fremden. Drei unterschiedliche Texte – Nikolaj Gogol’s Novelle Der Mantel (1842), Vladimir Makanins Roman Underground oder Ein Held unserer Zeit (1998) und Uwe Timms Erzählung Der Mantel (1999) – haben eine zum Anderen hin orientierte psychopoetische Motivation gemeinsam, die auf dem Phantasma des Mantels basiert. Neben dem zentralen Motiv des Mantels, der nicht nur Merkmale des Anderen, sondern auch eines kongruenten Doppelgängers oder einer ergänzenden Hälfte trägt, stehen religiös-ethische, philosophisch-metapoetische und ökologisch-zivilisationskritische Aspekte zur Debatte. Eine solche hermeneutische Betrachtung beleuchtet die „Intertextualität“ von Philosophie, Psychosoziologie und Poetik.
Karlheinz Kasper Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Rußland und seine Schriftsteller zwischen West und Ost In Rußland reißt der Diskurs über Wurzeln und Wege der nationalen Identität nicht ab. Politiker, Wissenschaftler und Künstler beteiligen sich an der Suche nach Perspektiven für die junge und labile russische Demokratie. Zwei neue, noch nicht ins Deutsche übersetzte Romane von Vasilij Aksenov und Viktor Pelevin, die für die Generationen der 1960er und der 1990er Jahre Kultautoren waren, entwerfen völlig entgegengesetzte Konzeptionen eines russischen Weges. Aksenov blickt in Vol’ter’jancy i vol’ter’janki auf den liberalen Westen, Pelevin in Svjaščennaja kniga oborotnja auf den taoistischen Osten.